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  • 18. Dezember 2023
    What's left?

    Ist Sahra Wagenknecht noch links? Foto DIG/Trialon/sahra-wagenknecht.de

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ist der Traum der Linken ausgeträumt?

    Die Linke, das ist nun nicht mehr neu, hat Probleme. Ihr ist die Utopie verlorengegangen. Ihre Theoretiker vertreten nur noch realitätsferne Ideen; über die wirklichen Probleme der Welt, die von der Geschichte, nicht von der Theorie beherrscht werden, haben sie kaum noch etwas zu sagen.

    Nein, der erste Absatz dieser Kolumne stammt nicht von mir oder von Sahra Wagenknecht. Es ist keine Beschreibung des Zustandes der deutschen oder europäischen Linken im Jahr 2023. Die Sätze sind dreißig Jahre alt und findet sich in einem als »Rotbuch Taschenbuch No. 78« erschienenen und von dem FAZ-Redakteur Henning Ritter herausgegebenen Sammelbändchen, das mir kürzlich wieder in die Hände fiel und den Titel trägt »What´s left?: Prognosen zur Linken.« Autor des zitierten Essays ist der (sozial)liberale Soziologe und FDP-Politiker Ralf Dahrendorf, der damals Rektor des St’Antony’s College in Oxford war.

    Dahrendorfs Diagnose mündet in eine harte These: Die Linke befinde sich auf dem Weg in die Irrelevanz. Dabei komme es nicht darauf an, was ihre belanglosen Theoretiker erfänden und erörterten. »Irrelevanz ist eben Irrelevanz«, so Dahrendorf.

    Nur zur Erinnerung: Die SPD verfügte damals im deutschen Bundestag über satte 33 Prozent der Mandate. Ein paar Jahre später gelang es dem heute vielgeschmähten Gerhard Schröder mit über 40 Prozent die amtierende schwarz-gelbe Bundesregierung abzulösen und die erste rot-grüne Regierung zu bilden. Heute käme die SPD im Bund auf 17 Prozent, drei Prozentpunkte weniger als die rechte »Alternative für Deutschland«. In einigen Bundesländern ist die SPD noch nicht einmal zweistellig. Und die Partei »Die Linke«, die sich einstmals von der SPD abgespalten hat, zerlegt sich gerade selbst, demissioniert als Fraktion im Bundestag und hätte nicht die geringste Chance, dorthin wieder einzuziehen.

    Mission accomplished

    Wenn vor 30 Jahren also schon der Weg in die Irrelevanz vorgezeichnet war, müsste man heute Vollzug melden und Unsichtbarkeit diagnostizieren. Das kann nun auch für Liberale und Konservative kein Grund zur Freude sein, dass der Gegner nicht etwa im Wettbewerb um die besseren politischen Konzepte unterlegen wäre, sondern einfach verschwindet. Das Pathos der französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« lebte stets davon, dass die unterschiedlichen politischen Strömungen diese Trias mit unterschiedlichen Prioritäten akzentuierte hatte. Jetzt ist die Balance gestört.

    Viele Hypothesen, die die Gründe für das Verschwinden der Linken diagnostizieren, sind im Angebot. Ich nenne drei davon, die mir besonders einleuchten.
    Erstens: Die Linke hat sich zu Tode gesiegt. Ihr Aufstiegsversprechen hat sich erfüllt. Der Sohn eines Tischlers und einer Fabrikarbeiterin ist jetzt Bundespräsident. Er heißt Frank-Walter Steinmeier, empfängt die schwedische Kronprinzessin und nimmt die 102jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer in den Arm, ein anrührendes Bild. Das Fortschritts-Junktim von sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand, Utopie der Nachkriegsjahre, ist Realität. Jeder, der will, kann studieren und dafür Bafög oder ein Stipendium bekommen. Jeder, der will, findet einen Job. Wer von Zufall und Geburt weniger privilegiert wurde, dem bietet der Sozialstaat einen Ausgleich an: Jeder dritte Euro im Bundeshaushalt wird für Soziales ausgegeben. Die Umverteilung funktioniert. Wofür braucht es dann noch Sozialdemokraten?

    Die Zu-Tode-gesiegt-Hypothese entlastet die Linken. Es wäre dann gerade ihr Erfolg, der sie überflüssig gemacht hat. Mission accomplished. Gut, sie wollten ursprünglich einmal mehr, den Kommunismus einführen, das Privateigentum abschaffen und die Wirtschaft dem Staat anvertrauen. Aber von solchen Sachen haben sie sich zum Glück verabschiedet.

    Zweitens: Angesichts ihrer Arbeitslosigkeit auf dem Feld der sozialen Gerechtigkeit hat die Linke sich seit einigen Jahren nach einem neuen Geschäftsmodell umgesehen. Es heißt Identitätspolitik. Das ist ihr nicht bekommen und von den Wählern nicht goutiert worden. Sogenannte Wokeness – der Kampf gegen Sexismus, Homophobie, Rassismus und Kolonialismus – dominiert heute das Weltbild vieler Linker. Das wäre ja noch in Ordnung. Doch ehe sie sich versah, mauserte sich die linke Identitätspolitik zu einer Kritik am Universalismus der europäischen Aufklärung, die nun selbst als rassistisch, kolonialistisch und eurozentristisch bekämpft werden müsse. Dass dies schnurstracks in »linken« Antisemitismus mündet, wird seit dem 7. Oktober besonders deutlich. Damit hat sich diese Spezies der Linken endgültig von ihrem humanistischen Fortschrittsethos verabschiedet.

    Migration oder Sozialstaat?

    Drittens: Dass großzügige Einwanderung und ein funktionierender Rechts- und Sozialstaat schwer unter einen Hut zu bringen sind, hat die Linke lange Zeit übersehen. Rein rhetorisch gibt es da auch kein Problem. Sozialwissenschaftler wissen indes: Je mehr Ausländer in einer Gesellschaft leben, umso geringer wird die Bereitschaft, zugunsten der Armen umzuverteilen. Ein hoher Grad an gesellschaftlicher Homogenität scheint die Voraussetzung für einen funktionierenden Sozialstaat zu sein. Diese Einstellung kann man moralisch verurteilen, weil sie die Utopie des Universalismus kränkt, dadurch verschwindet sie aber nicht. Wer der Meinung ist, von Migration profitierten letztlich alle, müsste den Sozialstaat weniger großzügig ausstatten. Das könnte eine liberale Lösung sein. Wer den Sozialstaat weiter ausbauen will, muss Migration einschränken. Das ist die Lösung der AfD, der sich die neue Partei von Saha Wagenknecht mutmaßlich anschließen will. Sie wird dafür viel gescholten, zu Unrecht, wie ich finde: Es ist seit langem wieder ein ernst gemeinter Versuch, die Linke aus ihrer Irrelevanz herauszuführen.

    Wer wäre ich, mir anzumaßen, auf 180 FAS-Zeilen eine Lösung anzubieten. Bin ja auch nicht als Berater der Linken angeheuert worden. Ein paar Dinge scheinen mir aber schon klar zu sein. Woke ist nicht links, wie die jüdische Philosophin Susan Neiman zurecht sagt. Also Abschied von der Identitätspolitik. Und Abschied von der Apokalyptik. Die kann die Linke getrost den Grünen und ihren moralistischen Klimakämpfern überlassen. Was dann bleibt, ist das überkommene Kerngeschäft, Gerechtigkeit, Wohlstand und Fortschritt für alle politisch zusammen zu bringen. Auch das Thema Ungleichheit gehört noch lange nicht in die Ablage – dabei geht es für meinen Geschmack weniger um Einkommens- oder Vermögensungleichheit (Erbschaften), sondern um die wachsende Kluft zwischen den kosmopolitischen Eliten der großen Städte und dem Elend auf dem Land und in den ehemals stolzen Kleinstädten. Zu Anschauung empfehle ich nach Einbeck zu fahren, südliches Niedersachsen. Oder nach Meßkirch, westliches Oberschwaben.

    Rainer Hank