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  • 12. Oktober 2023
    Sklaven-Ökonomie

    Sklavenhaltergesellschaft Foto Social History Archive/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Basiert der Kapitalismus auf dem Blut der Unterdrückten?

    Es zählt zu den größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Über drei Jahrhunderte lang wurden insgesamt 12,5 Millionen Afrikaner versklavt und zwangsweise über den Atlantik nach Amerika verschleppt. Rund elf Millionen der Sklaven erreichten ihr Ziel. Viele starben bereits durch die Brutalitäten der Gefangennahme an den Küsten Westafrikas. Tödliche Krankheiten, Suizide während der Überfahrt kamen hinzu. Wer durchkam, den erwartete ein Schicksal schwerster Arbeit auf den Zuckerplantagen der britisch oder französisch kolonisierten Karibik oder bei der Baumwollernte in den Südstaaten der USA.

    Dass diese Verbrechen zugleich eine Bedingung des Erfolgs des Kapitalismus sein könnten, war lange Zeit undenkbar und unerhört. Kam es als Denkmöglichkeit in den Blick, wurde ein Zusammenhang entweder geleugnet oder mit guten Argumenten ausgeschlossen. Lieber brachte die Forschung heroische Kandidaten ins Spiel, die den Wohlstand der Nationen verantworten: Berühmt wurde die These Max Webers, wonach es die asketische Lebensform des protestantischen Puritanismus war, die die Menschen zu Arbeit und Sparsamkeit anhielt und dadurch die Akkumulation von Kapital ermöglichte. Andere Gelehrte sehen den Wettbewerb der oberitalienischen Renaissance-Städte als Geburtsstunde des Kapitalismus, angeschubst nicht zuletzt durch das Unterlaufen des religiösen Zinsverbots. Neuere Theorien verweisen auf die »nützlichen« technologischen Erfindungen als Start der industriellen Revolution, die Notwendigkeit guter rechtlicher Institutionen (Eigentum, Vertragsfreiheit) und die ökonomische Überlegenheit von Inklusion und Partizipation in demokratischen Staaten.

    Man sieht: Es dürfen nur moralisch, ökonomisch und technologisch gute »Ermöglicher« sein, die den Weg zum Kapitalismus gebahnt haben. Gutes – Wohlstand für alle – kann nur von Gutem (Askese oder Ingenieurskunst) in die Welt kommen. Die böse Ahnung, auch die Sklaverei könnte eine Mitverantwortung tragen, schied aus: Sklaverei galt als unproduktiv. Obwohl Sklavenarbeit die billigste Arbeit zu sein schien, weil sie lediglich die Aufrechterhaltung der physischen Existenz des Sklaven kostet, sei sie in Wirklichkeit doch die teuerste Produktionsweise, meinte Adam Smith: Der Sklave müsse zwingend daran interessiert sein, so viel wie möglich zu essen und so wenig wie möglich zu arbeiten. Freie Arbeiter, denen ein Lohn gezahlt werde, seien in Wirklichkeit viel produktiver als Sklaven.

    Zucker, Melasse, Tabak, Baumwolle

    Inzwischen hat sich der Wind der Forschung gedreht. Eine besonders kluge Studie kommt jetzt von den britischen Wirtschaftshistorikerinnen Maxine Berg und Pat Hudson: Slavery, Capitalism and the Industrial Revolution. Die Autorinnen, angesehene Expertinnen für die Industrielle Revolution in England, vertreten die Auffassung, die Sklaverei habe entscheidend zur Entstehung des modernen Kapitalismus beigetragen. Ihre Belege sind triftig. Die Wirtschaft »Westindiens« war eine dynamische Kraft und notwendige Plattform für eine Vielzahl wichtiger ökonomischer Reformen und Erfindungen in der Produktion, im Handel und nicht zuletzt in der Finanzindustrie. Während der Zusammenhang zwischen Sklaverei und Ökonomie in den USA schon länger diskutiert wird, etwa in der Schule der New Histories of Capitalism (NHC), wähnte sich Großbritannien unschuldig – schlicht deshalb, weil zwischen der Heimat und den Kolonien Tausende von Seemeilen liegen und sich die Schuld verdrängen ließ.

    Um den Zusammenhang zu verstehen, muss man sich frei machen, die mit Sklavenarbeit erstellten Waren (Zucker, Melasse, Tabak, Baumwolle) isoliert zu betrachten. Das sind zunächst simple agrarische Produkte. Doch ihre Herstellung auf Plantagen gebar eine innovative Landwirtschaft, die wiederum Maschinen brauchte, die aus Europa in die Karibik exportiert wurden. Der Sklavenhandel lebt nicht nur vom »Export« der Sklaven nach Amerika und dem Import der Waren nach England, sondern auch vom Re-Export europäischer Produkte in die Karibik (Waffen, Maschinen, Nahrung, Bekleidung). Darunter befindet sich übrigens auch deutsches Leinen, Bekleidung für Schiffsleute und Sklaven. Der ausschließlich von Sklaven produzierte Rohrzucker führte andererseits in England zu einer Revolution des Geschmacks, woraus sich dort eine ganze Zuckerbäckerindustrie (samt Zuckerdöschen) entwickelte, wo Lohnarbeiter ihr Brot verdienten. Lohnarbeit wäre somit nicht die kapitalistische Alternative zur Sklavenökonomie, sondern deren Folge in einer durch die Sklaverei ermöglichten vernetzen Industrie.

    Schließlich wollen die beiden Wirtschaftshistorikerinnen auch den Finanzkapitalismus der Londoner City als Folge des Kolonialismus verstehen. Die Schiffe und die Plantagenbesitzer brauchten für ihre gewagten Unternehmungen Versicherungen (Lloyds of London), sie brauchten Banken, die ihnen Hypothekenkredite verkaufen – und sie brauchten zur Absicherung ihrer Geschäfte einen »Lender of Last Ressort«, die Bank of England.

    Man kann es auch übertreiben

    Während die Forschung traditionell das frühe Verbot von Sklavenhandel und Sklavenhaltung (1807 respektive 1831) in England als Start der industriellen Revolution (ohne Sklaverei!) ansetzt, zeigen Berg und Hudson, dass bis ins später 19. Jahrhundert die englische Wirtschaft zu nicht geringen Teilen von der Ausbeutung profitierte – nicht zuletzt durch die unglaublich üppigen Entschädigungen für die Plantagenbesitzer im Volumen von 128 Milliarden Pfund (bezogen auf das heutige Bruttosozialprodukt), was zugleich als Startkapital für ihre unternehmerischen Wagnisse diente.

    Am heutigen Wohlstand des Westens klebt Blut, pathetisch gesagt. Doch die derzeit modische Kolonialismusforschung schießt weit über ihr Ziel hinaus. Auf der frechen Plattform »History Reclaimed« macht der Historiker Lawrence Goldman auf eine Reihe von Übertreibungen aufmerksam. So kam der Beitrag der karibischen Plantagen zum britischen Sozialprodukt nie über elf Prozent hinaus. Gewiss, im frühen 19. Jahrhundert wurden über 130 Dampfmaschinen von England nach Westindien exportiert. Aber allein in Britannien waren 2500 solcher Maschinen in Gebrauch. Das relativiert den Beitrag der Sklavenarbeit dann doch. Wichtiger noch ist ein konfessioneller Unterschied: Träger der Industriellen Revolution waren gerade nicht die anglikanischen Sklavenhalter, sondern Unitarier, Quäker, Presbyterier – und die waren erklärte Gegner der Sklaverei.
    Es bleibt wohl doch dabei: Der Kapitalismus beruht auf genialen Erfindungen und guten Rechtsinstitutionen (Eigentum, Vertragsfreiheit, Wettbewerb). Sklaverei hat das Wachstum und den wirtschaftlichen Fortschritt im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert befeuert, aber sie hat den Wohlstand der Nationen nicht begründet. Das Argument entschuldigt kein einziges dieser menschenverachtenden Verbrechen. Aber es insistiert auf einem bedeutenden Unterschied, dem Faktum, dass der Kapitalismus – allen gegenwärtigen Moden zum Trotz – in seinem Kern auf Kreativität und Freiheit und nicht auf Zwang und Unterdrückung basiert.

    Rainer Hank