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  • 31. Oktober 2023
    Gaza und Singapur

    Marina Bay Sands, Singapur Foto: wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Utopische Gedanken in finsterer Zeit

    Die tollste Idee ist der Bau einer künstlichen Insel vor der Küste Gazas. Dort soll ein großer Hafen entstehen. Derweil wachsen an der Grenze zwischen dem Gaza-Streifen und Israel groß angelegte Industriezonen. Eine schnelle Autobahn würde quer durch Israel führen und Gaza mit dem palästinensischen Westjordanland verbinden.

    Zuvor schon wäre die Strom- und Gasversorgung dauerhaft sichergestellt worden. Eine moderne Meerwasserentsalzungsanalage sorgte dafür, dass die inzwischen auf drei Millionen Menschen angewachsene Bevölkerung des schmalen Küstenstreifens täglich Zugang zu frischem Wasser hätte. Marriot, die internationale Hotelkette, hat schon vor ein paar Jahren überlegt, ein zweites Hotel am Strand zu errichten für eine wachsende Klientel zahlungskräftiger Touristen. Strandrestaurants säumen das Ufer zum Mittelmeer. »43 Kilometer beste Sandstrände im Mittelmeer«, das ist eines der Assets des neuen Stadtstaates Gaza. Leicht zu erreichen mit einem neuen internationalen Flughafen. Ein Spiel-Casino wurde schon vor Jahren von Palästinenser-Führer Jassir Arafat gebaut.

    Was ich hier aufzähle, ist keine Fantasie eines durchgeknallten Zeitgenossen im Herbst 2023. Sondern eine Zusammenfassung einer vom Internationalen Institut für Terrorismusbekämpfung im israelischen Herzlia veranstalteten Tagung im Herbst 2021, worüber damals auch in deutschen Zeitungen berichtet wurde.

    »Es wird der Tag kommen, am dem der Gazastreifen das Singapur des Nahen Ostens sein wird.« Dieser Satz stammt von dem ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Schimon Peres. Euphorisiert vom Oslo-Friedensprozess mit den Palästinensern träumte Peres von einem neuen Nahen Osten nach dem Vorbild Singapurs. Gaza und Israel waren dankbar dafür, dass der Emir von Qatar mit über zwei Milliarden Dollar das Startkapital für das Projekt »Nation Building« zur Verfügung stellte. Ja, es gab einmal eine konkrete Friedenshoffnung. Und das ist gar nicht so lange her.

    Heute, angesichts des Terrors der Hamas, der die ganze Region in einen Krieg zu zwingen scheint, klingt das alles wie ein schlechter Witz von Menschen, die keine Ahnung haben und hoffnungslos naiv sind. Dabei ist der Vergleich mit Singapur alles anderes als utopisch, sondern realistisch. Man muss nur einen Moment innehalten und den Gedanken zulassen, dass die Welt nicht so bleiben muss, wie wir sie kennen.

    Der Gründer Lee Kuan Yew

    Singapur, der Stadtstaat an der Südspitze der malaysischen Halbinsel existiert erst seit 1965, also noch nicht einmal seit sechzig Jahren. Über Jahrhunderte zuvor war das Land Spielball fremder Mächte. Schlimm war die gnadenlose Okkupation durch Japan im Zweiten Weltkrieg. Es folgten turbulente Nachkriegsjahre – bis Singapur schließlich ein unabhängiger Staat wurde unter der Führung des charismatischen, wenngleich autoritären Staatschefs Lee Kuan Yew.

    Lee ist der Vater eines asiatischen Wirtschaftswunders, das auch Ludwig Erhard erblassen lassen würde. 1965, im Jahr der Gründung, lag das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Singapur auf demselben armseligen Niveau wie Jordanien. Inzwischen gibt es kaum eine Region der Welt, die so reich ist wie Singapur: Man hat Japan, ja selbst die USA mit 72 000 Dollar pro Kopf überflügelt, während Jordanien – und Gaza! – heute immer noch bettelarm sind und bei 3000 Dollar Prokopfeinkommen verharren.

    Der Stadtstaat wird geführt wie ein Wirtschaftskonzern (»Singapore Inc.«); sein Geschäftsmodell ist extrem diversifiziert. Im Ranking wirtschaftlicher Freiheit liegt Singapur seit Jahren international auf dem ersten Platz. Gewertet wird das Maß der Rechtstaatlichkeit, die wirtschaftliche Offenheit, die Effizienz der Verwaltung und die schlanke Bürokratie. Singapur ist eine Demokratie, aber auch ein sehr autoritäres Regime. Wer das rechtfertigen möchte, verweist darauf, dass dort seit Jahren Menschen unterschiedlicher Religionen und Ethnien zusammenleben, ohne dass es zu nennenswerten Konflikten kommt. Toleranz, so kann man argumentieren, braucht eine »harte Hand«.

    Die äußeren Gegebenheiten von Gaza und Singapur sind durchaus vergleichbar. Die Fläche Singapurs ist mit 720 Quadratkilometern gut doppelt so groß wie Gaza; es leben dort aber auch 5,8 Millionen Menschen, mehr als doppelt so viel wie in Gaza. Auch Gaza hat eine privilegierte geographische Stellung, strategisch ähnlich attraktiv wie die Golfstaaten und grob irgendwo auf halbem Weg zwischen Europa, Südostasien und Australien. Die Lage am Mittelmeer, nah an Europa, ist prädestiniert für einen blühenden Tourismus. Nirgendwo steht geschrieben, dass Gaza City nicht eine ähnlich pulsierende Stadt mit großen Hotels, Hochhäusern, Startups, einer blühenden Finanzindustrie und einem multikulturell-urbanen Bürgertum sein oder werden könnte wie das nahe Tel Aviv. Auch Tel Aviv gibt es erst seit gut hundert Jahren.

    Gaza zählt im Übrigen, anders als die Westbank, für Israel nicht zur heiligen Erde der biblischen Väter. Israel hat sich seit 2005 dort vollkommen zurückgezogen; es gibt keine New Settlements mit den entsprechenden Gewaltkonflikten wie im Norden des Landes.

    Optimismus ist Pflicht

    Nun habe ich mich lange um die entscheidende Frage gedrückt: Warum verfolgt Gaza nicht den Weg Singapurs? Nirgendwo steht, dass es auf der Welt Platz für nur ein Singapur gibt. Ein rassistisches Argument steht empirisch (philosophisch schon gleich gar nicht) ebenfalls nicht zur Verfügung, wonach Muslime zu wirtschaftlichem Misserfolg verdammt wären: Kuwait, Doha und andere Golfstaaten Arabiens mit muslimischer Bevölkerung haben es auch zu nationalem Wohlstand gebracht.

    Beschränken wir uns auf die ökonomischen Gründe. Dann müsste man sagen: Es sind die Anreize, Dummkopf! Offenkundig sind die von den Hamas-Terroristen offerierten Belohnungen für den antizionistischen Hass, das Ziel einer Auslöschung der Juden in ganz Eretz Israel, postum womöglich gekrönt von himmlischem Lohn, größer als die Anreize, mit wirtschaftlicher Anstrengung zu Wohlstand, Frieden und internationaler Anerkennung zu gelangen. Hinzu kommt das Regime der autoritären Hamas-Diktatur, das eine Opposition im Keim unterdrücken würde, auch wenn diese im Interesse aller Bürger wäre.

    Zuckerbrot oder Peitsche: Wie soll man mit dem Terrorismus umgehen? Darüber hat der Schweizer Ökonom Bruno Frey 2006 ein anregendes Buch geschrieben. Damals schien ihm das Zuckerbrot wirtschaftlichen Erfolgs zielführender und kostensparender als die Peitsche der militärischen Terrorismusbekämpfung. Womöglich müsste man heute umgekehrt argumentieren: Erst ein Ende des Hamas-Regimes in Gaza wäre die Bedingung der Möglichkeit, neu – und mit Hilfe Israels – in den friedlichen Wettbewerb mit Singapur zu treten. Optimismus ist Pflicht (Karl Popper), gerade in diesen düsteren Zeiten.

    Rainer Hank