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  • 15. Februar 2024
    Ein Ständchen für die Boomer

    Wir waren immer viele Foto imago/Klaus Rose

    Dieser Artikel in der FAZ

    Der geburtenstärkste Jahrgang wird jetzt 60

    Irgendwann haben die Boomer ihr Baby verloren. Sie heißen jetzt nicht mehr Babyboomer, sondern nur noch Boomer. Das ist ihnen nicht gut bekommen. Boomer sind, seit sie keine Babyboomer mehr sind, vor allem alt: Als Alte haben sie Ansprüche, wollen ihre Rentnerleben auf Kosten der sie finanzierenden Nachkommen in vollen Zügen genießen, und kümmern sich wenig darum, welchen Planeten sie ihren Nachkommen hinterlassen, wenn sie sich dereinst mit 95 Jahren hienieden verabschieden. Solche Sachen müssen sie sich jetzt anhören.

    Boomer sind immer viele, die allein ob ihrer zahlenmäßigen Masse den Diskurs bestimmen. Dass sie viele sind, merkten sie bereits in den überfüllten Schulklassen, später in den überfüllten Hörsälen und danach in den überfüllten Arbeitsmärkten.

    Als viele bleiben sie immer stark. Auch, wenn sie demnächst nach und nach die Chefposten der deutschen Wirtschaft verlassen haben werden. Man ist in bester großer Gesellschaft, das lindert den Schmerz des Bedeutungsverlusts. In den überfüllten Pflegeheimen werden sie dereinst einander weiter Vorträge halten. Auch in der Demokratie bleiben sie stark. Jeder von ihnen hat bei Wahlen zwar nur eine Stimme. Aber zusammen haben sie viele Stimmen. So viele, dass Jüngere diskutieren, ihnen von einem bestimmten Alter an das Wahlrecht zu entziehen, um die ihnen unterstellte »Nach-mir-der-Klimawandel«-Wurstigkeit abzuschwächen. Besonders demokratisch ist diese Idee nun auch wieder nicht. Wo kommen wir hin, wenn das Stimmrecht künftig an den gesellschaftlich-ökonomisch-ökologischen Nutzen gebunden würde, den der Wahlbürger dem Land mutmaßlich bringt.

    Das neue Jahr wird uns einen Boomer-Boom bescheren, zumindest publizistisch. Denn das Jahr 1964 war der Höhepunkt des Babybooms. Damals kamen hierzulande 1,36 Millionen Kinder auf die Welt, so viele wie später nie wieder. Zum Vergleich: 2022 gab es in Deutschland 730.000 Geburten, also lediglich gut halb so viele.
    Ich habe mich im Jahr 1964 ein wenig umgesehen. Der erste Eindruck: Lang her und weit weg. Der Bundeskanzler hieß Ludwig Erhard. Bei dem hat man heute fast vergessen, dass er auch einmal Kanzler war, erinnert ihn gerade noch als Wirtschaftsminister. Bundespräsident war Heinrich Lübke, den die Deutschen immer ein bisschen abfällig behandelten.

    Pillen-Paul und Pillen-Knick

    Der Papst hieß Paul VI. Der wurde Pillen-Paul genannt, weil er den Katholiken die Empfängnisverhütung verbieten wollte, weil Sex und Zeugung stets zusammengehören müssten. Ironischerweise wurde dann der »Pillenknick« dafür verantwortlich, dass nie mehr so viele Kinder geboren wurden wie im Jahr 1964. Sage niemand, die katholische Kirche habe ihr Macht über die Menschen erst heute verloren.

    1964 gründete der Unternehmer Otto Beisheim die ersten Cash-und-Carry-Märkte namens Metro. Wer eine Metro-Karte ergattern konnte, hat dieses Privileg jeden wissen lassen, der es hören wollte. In der Metro bekam man den Schweinerücken günstiger als beim Metzger um die Ecke, musste freilich gleich zwei Kilo davon kaufen. Zum Glück waren die 60er Jahre auch die Jahre, in denen die riesigen Tiefkühltruhen vorortsiedlungsweit ihren Siegeszug antraten. Die kluge Frau fror ein. Nur noch der Vollständigkeit halber: Unser Eislaufpaar Bäumler/Kilius gewinnt am 26. Februar 1964 die Weltmeisterschaft und am 7. Juni tritt unser Bundestrainer Sepp Herberger zurück.

    Schaut man sich dieses Jahr 1964 von Ferne an, dann kommt es einem verglichen mit der heutigen Zeitenwende einigermaßen geruhsam vor. Gewiss, es gab den Kalten Krieg und man war nie sicher, was der Russe im Schilde führte. Und es gab die Angst vor der Atombombe. Aber dafür hatten wir ja gerade das Gleichgewicht des Schreckens mit seinem Grundsatz »Wer als erster schießt, stirbt als zweiter«. Gar nicht so blöd, muss man im Nachhinein sagen.

    Der perfekte 1964er ist für mich übrigens der Fernsehmann Jörg Schönenborn, geboren am 5. September 1964. Stets korrekt gescheitelt, nie aus der Rolle fallend, die relevanten Zahlen korrekt im Kopf repräsentiert Schönenborn jene sozialdemokratische Mitte der Gesellschaft, die für diese Generation so typisch ist.
    Alles in allem, können die Boomer sich nicht beschweren. Tun sie auch nicht. Ihre Eltern, Kinder des Kriegs, fanden, sie sollten es einmal besser haben. Fast ein Drittel von ihnen hat ein Studium abgeschlossen. Den Hauptgewinn halten die Frauen, die sich besser qualifizieren konnten und höhere Bildungsabschlüsse erwarben als ihre Mütter. Deren Beruf gaben viele noch mit »Hausfrau« an, Schicksal oder Wahl, die die wenigsten von ihnen kopieren wollten. 1964 lag die Frauenerwerbstätigkeit bei gut 47 Prozent. Heute sind es 75 Prozent.

    »Abschied von den Boomern« (Heinz Bude)

    Interessant: 14 Prozent der Kohorte sind durch Nachlernen, Dazulernen und Weiterlernen zu einem akademischen Abschluss gekommen. So lese ich es in einem schönen Bändchen zum »Abschied von den Boomern« des Soziologen Heinz Bude, das Ende Januar in die Buchhandlungen kommt. Hinreichend Leistungsethos bringen sie mit, verbunden mit der Überzeugung, dass zwar nicht jeder seines Glückes Schmid ist, es sich aber irgendwie schon auszahlen wird, wenn man sich anstrengt. Es hat sich auch für den Wohlstand der Gesellschaft insgesamt ausgezahlt: 1964 betrug das Bruttoinlandsprodukt hierzulande 214 Milliarden Euro. Heute sind des 3.800 Milliarden. Siebzehn Mal so viel. Dafür sind die Boomer auch viel gesünder, langlebiger und zufriedener als frühere Kohorten. Keine schlechte Generationenbilanz, finde ich.

    Interessant ebenfalls, dass die biodeutschen Babyboomer bei ihren Bildungsanstrengungen weitgehend unter sich geblieben sind, nur acht Prozent von ihnen haben eine Zuwanderungsgeschichte. Multikulturell war diese Generation nicht. Auslandserfahrungen haben sie, verglichen mit den Heutigen, deutlich weniger. Das sozialdemografische Profil der heute Sechzigjährigen belegt, wie sich die Boomer in der Mitte der bundesrepublikanischen Gesellschaft eingerichtet haben, die zugleich von ihnen getragen wird.
    Kommt es mir nur so vor oder hat sich der Generationenkonflikt inzwischen etwas entspannt, sieht man einmal von der aggressiven Last Generation ab? Viele Boomer wollen freiwillig gerne länger arbeiten, weltreisen kann man ja auch noch mit 80. Sie verlassen sich nicht auf die staatliche Rente, haben finanziell vorgesorgt, werden den Nachkommen ein ordentliches Erbe hinterlassen. Sollte das sogenannte Renteneintrittsalter weiter steigen und die Alten nicht mehr darauf pochen, die Produktivitätsentwicklung zu Hundertprozent für sich zu übertragen zu bekommen, brauchen die Jüngeren nicht befürchten, sie könnten die Last der Alten finanziell auf Dauer nicht mehr schultern. Könnte eigentlich ein schöner 60. Geburtstag werden: Herzlichen Glückwunsch Boomer!

    Rainer Hank