Rainer Hank als Illustration

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  • 16. Januar 2024
    Aus Fehlern lernen

    Air Florida 90 am 13. Januar 1982 Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Leichter gesagt als getan

    Anfang dieser Woche war ich in einem neuen Hotel in Stuttgart untergebracht. Die Frühstücksräume solcher Hotels sind normalerweise standardisiert. Der Vorteil: Man kann sich im Halbschlaf am Buffet bedienen. Doch in Stuttgart war es irgendwie anders. Als ich mir ein frisches Croissant greifen wollte, stieß ich mit der Hand an eine Glasscheibe. Auch die Müsli-Gläser waren dahinter verschlossen. Ich muss verzweifelt ausgesehen haben, bis ein Kellner mir ziemlich von oben herab erklärte, diese Croissants gehörten gar nicht zum Frühstücksbuffet, sondern seien für den späteren Verkauf im Café vorgesehen.

    Die Episode wäre nicht der Rede (oder Schreibe) wert. Macht man sich aber die zugehörigen Gefühle klar, wird es interessant. Ich scholt zunächst mich: schließlich hätte ich ja erkennen können, dass es sich hier um eine geschlossene Glasvitrine handelt, was seinen Grund haben müsste. Ein Blick nach vorne hätte mir auch gezeigt, dass die anderen Gäste sich woanders ihr Frühstück abgriffen. Zur Scham über meine Tollpatschigkeit, kam – ein noch stärkerer Affekt: Ärger, fast schon Wut auf das blöde Hotel, das Gäste am frühen Morgen nasführt.

    Dazu passt ein Buch des Psychologen Dietrich Dörner mit dem Titel »Die Logik des Misslingens«. 1989 erschienen, ist es bis heute ein Bestseller. Dörner hätte mein morgendliches Scheitern vermutlich so interpretiert: Das Verhalten schlaftrunkener Männer am Frühstücksbuffet verläuft automatisiert. Ein nur leicht verändertes Framing kann bereits ein kleines Malheur auslösen. Daraus könnte man lernen: Schau erstmal genau hin, bevor Du den Autopiloten anstellst, was meine Frau mir seit langem schon vorhält. Doch auf diese Idee bin ich gar nicht gekommen. Stattdessen reagiere ich mit Scham (selbstbezogen), Ärger (der andere ist schuld) oder Verdrängung. Aus Fehlern wird man schlau? Pustekuchen.

    Ein Lob des Scheiterns

    Die amerikanische Organisationpsychologin Amy Edmondson hat gerade ein Lob des Scheiterns geschrieben. Edmondson lehrt an der Harvard Business School Leadership, Teambildung und forscht darüber, wie Organisationen lernen können. Sie zähle zu den 50 einflussreichsten Management-Denkern behauptet der Klappentext des Buches: offenbar eine Art Guru.

    Tatsächlich wimmelt das Buch von Anekdoten, wie Menschen scheitern. Schlimm ist das nicht, im Gegenteil. Gut zu scheitern kann zu Innovation und Fortschritt führen. Menschen sind fehlbar; daraus lässt sich was machen. Manchmal reicht schon ein Zufall. Die berühmte Oyster-Sauce der asiatischen Küche ist das Produkt solch eines Scheiterns: 1888 kochte ein Restaurantbesitzer namens Lee Kum Sheung in Südchina einen Topf mit Austernsuppe und vergaß sie, bis alles zu einer Pampe eingedickt war. Der Mann probierte und fand, dass es köstlich schmeckte.

    Der 13. Januar 1982 war ein bitterkalter Tag. Kurz nachdem die Air-Florida-90 den National Airport in Washington in Richtung Fort Lauderdale verlassen hatte, ereignete sich um 16 Uhr 01 Uhr Ortszeit ein schwerer Unfall. Die Boeing 737 stürzte auf eine Straßenbrücke über den Potomac River und danach in den vereisten Fluss. Die Rettungsmaßnahmen gestalteten sich wegen der widrigen Wetterbedingungen äußerst schwierig. Von den 79 Flugzeuginsassen überlebten nur fünf. Außerdem kamen vier Autofahrer auf der Brücke ums Leben, vier weitere wurden verletzt.

    Wie konnte das passieren? Piloten und Crew müssen vor dem Start standardisierte Checklisten abarbeiten, die gewährleisten sollen, dass alle Sicherheitsbestimmungen eingehalten werden. Diese Dialoge werden aufgezeichnet. Hier lief es so: Der erste Offizier: Pilotrohr Heizung. Der Kapitän: An. Der erste Offizier: Flugzeugenteisung. Der Kapitän: Aus. Der erste Offizier: Hilfstriebwerk APU. Der Kapitän: Läuft. Der erste Offizier: Schubhebel. Der Kapitän: Im Leerlauf.

    Man kann es überlesen. Und gewiss auch überhören, wenn es runtergeleiert wird. Doch der Fehler, der zur Katastrophe führte, ist offenkundig. Die Enteisungsanlage an einem eisigen Wintertag nicht anzumachen, war keine gute Idee. Die beiden erfahrenen Männer im Cockpit flogen normalerweise in warmem Klima. Nie ist die Enteisungsanlage an. Die Checkliste hätten sie im Schlaf abarbeiten können, sie wurde zu ihrer zweiten Natur – und eben zu ihrem Verhängnis.

    Entroutinisierung wäre der Auftrag, der sich aus dem Unglück am Potomac ableiten ließe. Die Crew hätte erkennen müssen, dass der kalte Wintertag dazu nötigt, von der Routine abzuweichen. Sie scheiterten daran, weil sie ihre automatisierte Praxis nicht durchbrachen. Routine hat immer auch Entlastungsfunktion. Es ist der Kontext, der entscheidet, ob Routine eingehalten oder durchbrochen werden muss. Hinterher ist man klüger.

    Deutschlands dümmste Bank

    Einem vergleichbaren Muster – mit blamablem, aber nicht tödlichem Ausgang – fiel die deutsche KfW-Bank zum Opfer, als sie am Tag nach der Lehman-Pleite im Herbst 2008 der amerikanischen Bank »aus Versehen« 320 Millionen Euro überwiesen hatte. Das bescherte der Bank den Ehrentitel »Deutschlands dümmste Bank«. Ein »Versehen« war es gerade nicht. Jemand hätte die Routineüberweisung stoppen müssen, denn Lehman gab es nun ja nicht mehr. Allemal, wie bei meinen Croissants, sind es neue Kontexte, die ein anderes Verhalten hätten nach sich ziehen müssen. Hat es aber nicht.

    Wie aus großem Scheitern große Erfindungen werden, dafür hat Amy Edmondson einen wunderschönen Belg: Die Witwe Clicquot. Sie ist die Heldin ihres Buches. Barbe-Nicole Ponsardin (1777 bis 1866) war mit siebenundzwanzig Jahren plötzlich Witwe geworden. Die unscheinbare Französin aus Reims, klein, rundlich, rübennasig und wenig charmant, sollte zu einer der erfolgreichsten und vermögendsten Unternehmerinnen des 19. Jahrhunderts werden. Sie erfand das Rütteln des Schaumweins, mithin die Geburt des Champagners, ließ sich nicht drausbringen durch schlechte Witterung oder die Napoleonischen Kriege, machte stattdessen Geschäfte mit dem russischen Zaren: 1811 schmuggelte sie über 10.000 Flaschen ihres besten Champagners nach St. Petersburg und stach ihre Konkurrenten aus. Klimatische oder geopolitische Bürden und Hürden, angesichts derer die stärksten Männer resigniert hätten, nahm Veuve Clicquot sportlich und mit Resilienz.

    Die Lehre der Harvard-Forscherin: Erfolg in Organisationen braucht ein Klima der Angstfreiheit. Fehler dürften keine peinliche Störung sein, die man verschweigt, sondern müssten belohnt werden (»speaking up«). Es geht um die »richtige Art des nicht Richtigen« (»the right kind of wrong«), so der Buchtitel: um eine Wissenschaft des guten Scheiterns. Für mich klingt dieser beschwingte Optimismus ein bisschen zu amerikanisch. Lieber stelle ich schon mal eine Flasche Veuve Clicquot für die kommenden Feiertage kalt.

    Rainer Hank