Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 24. August 2023
    Will Hollywood demnächst ganz Italien kapern?

    Die Piazza del Unita inkl Harrys Bar als Filmset. Foto: wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Darf Amazon ganz Triest sperrren lassen?

    Schießereien, Verfolgungsjagden, Rennwagen und gesperrte Straßen. Der Concierge an der Rezeption unseres kleinen Hotels inmitten der Altstadt Triests hatte uns gewarnt: Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Erst sei Netflix dagewesen, jetzt Amazon. An ein normales Leben sei in diesem Sommer nicht zu denken, so der Rezeptionist.

    Tatsächlich hatten jedenfalls wir so etwas noch nicht erlebt: Der Lungomare, die von Palästen gesäumte Prachtstraße, die Triest vom Golf und der nach Süden offenen Adria trennt, wird zum Schauplatz einer bewaffneten Verfolgungsjagd. Porto Vecchio, der alte Hafen, dient als Basislager für die Amazon-Leute. Allüberall in der Stadt stehen beeindruckend beschädigte Karossen herum, gut bewacht von den ernsten Mienen gut gekleideter Polizisten.

    Und dann der Höhepunkt: Die Piazza de l’Unità d›Italia, einer der schönsten Plätze des Landes, wenn nicht gar der Welt, wird fast einen ganzen Tag lang zu mehr als der Hälfte für die Öffentlichkeit gesperrt, weil als Set benötigt. Der Hollywoodregisseur, Ilya Naishuller, ein gebürtiger Russe, hat den vom Wiener Stararchitekt Heinrich von Ferstel 1883 erbauten Palazzo Lloyd Triestino zum Nato-Hauptquartier des Films erkoren. Vor dem historistischen Palast, der im bürgerlichen Leben heute Sitz der Regionalregierung von Friaul-Julisch Venetien ist, weht das amerikanische Sternenbanner, flankiert von den Flaggen anderer Nato-Staaten. Ein Video eines Passanten zeigt die mit Einschusslöchern übersäte Limousine des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Damit die Dreharbeiten ungestört vonstattengehen können, ist nicht nur die benachbarte Harry’s Bar, sondern auch das gegenüberliegende Café degli Specchi geschlossen, in dem üblicherweise die Gäste Schlange stehen, um einen Terrassenplatz samt Aperol Spritz zu ergattern.

    Heads of State

    Das Internet befriedigt unsere Neugier. »Heads of State« (»Staatschefs«) ist ein Monumentalprojekt der kalifornischen Amazon Studios. Die Produktion dieser Action Comedy wird seit drei Jahren vorbereitet, die Dreharbeiten waren zunächst von Corona, dann vom Streik der Schauspieler in Hollywood verzögert, jetzt sind sie in vollem Gang. Der Film, angekündigt als eine nostalgische Zusammenführung von »Airforce One« mit »Midnight Run« (Actionfilmen der Neunziger) kommt frühestens im zweiten Halbjahr 2024 in die Kinos. Für Starbesetzung ist gesorgt, nicht zuletzt durch Bollywood-Schauspielerin Priyanka Chopra, die schon einmal den Schönheitstitel »Miss World« tragen durfte. Aber auch die Muskeln der Kerle, die da mitspielen, können sich lassen. Einen Trailer gibt es noch nicht, beim Plot hüllt die Produktionsfirma sich derweil in Schweigen. Die internationalen Filmmagazine begnügen sich derweil mit Details des Castings für Insider.

    Bei all meiner Liebe zum Kapitalismus, war ich ein wenig schockiert. Da kauft sich ein milliardenschweres Hollywood-Filmunternehmen einfach eine Stadt, weil deren Kulisse für eine Actionkomödie besonders pittoresk scheint. Dürfen die das? Dürfen die sogar ein Gebäude mit hoheitlicher Funktion wie den Sitz einer Regionalverwaltung, vor der sonst nur die Flagge Friaul-Julisch Venetien und die der Stadt Triest wehen, zum Nato-Quartier umwidmen? Irgendetwas sträubt sich bei mir.

    Und überhaupt: Ich dachte immer, die Digitalisierung sei inzwischen so weit fortgeschritten, dass man sich Filmkulissen nicht mehr mit Brettern zusammenbauen oder an Originalschauplätze reisen muss, sondern alles am Computer simulieren kann, also auch eine Triestkulisse, wenn es denn unbedingt sein muss.

    Echtes Meer statt Computer-Kulisse

    Mein Kollege Claudius Seidl, ein Liebhaber des Films und wahrlich kein Turbokapitalist, verteidigt Amazon und kehrt den Spieß um: Woraus speist sich das Recht eines deutschen Touristen, jederzeit und ungestört die Piazza Unità d’Italia betreten zu dürfen? Ist das quasi im Zimmerpreis inbegriffen? Nun, tatsächlich mussten wir wie alle Besucher eine City Tax bezahlen. Ob darin wirklich das Recht impliziert ist, die Piazza in ihrer historistischen Einzigartigkeit originalgetreu und ohne Hollywoodstörung zu genießen – wer will das schon wissen? Seidl legt nach: Aus Publikumsperspektive könne man nur Danke sagen, findet er. Die echte Stadt, das echte Meer, das echte Licht – das ergebe einfach viel bessere, stimmigere Filmszenen, als wenn das alles erst am Computer zusammengebaut würde.

    Okay, so streiten also die Perspektiven künftiger Amazon-Prime Kunden mit denen der heutigen Triest-Besucher und der Bewohner der Stadt. Letztere kann man in diesen Augusttagen vernachlässigen; denn sie sind wie alle Italiener bis zum Wochenende nach Ferragosto (15. August) am Strand und sonnen sich in den Liegestühlen der Stabilimenti Balneari. Spinnt man Claudius Seidls Lob des echten Schauplatzes weiter, hat auch der Triest-Besucher etwas von der Filmkulisse: Zusätzlich zum habsburgisch-slowenisch-italienischen Narrativ gibt es jetzt noch einen amerikanischen Thriller an den schönsten Orten der Stadt zu erleben. Eine Art augmented reality, wenn man so will. Andere Leute geben Geld aus, um die Rosamunde-Pilcher-Schauplätze im englischen Devon zu erleben. In Triest gibt es die Kunststücke der Stuntmen umsonst.

    Übertroffen würde das ganze Spektakel nur noch durch einen Faustkampf zwischen Elon Musk und Mark Zuckerberg auf einer Seebühne im Golf von Triest neben der seit einem Jahr konfiszierten Luxusyacht eines russischen Oligarchen (geschätzt 530 Millionen Euro wert). Aber die beiden wollen lieber nach Verona oder Pompei, sollte der Fight überhaupt zustande kommen.

    Alles eine Frage des Preises, würde man als nüchterner Kämmerer einer auf Zusatzeinnahmen schielenden und womöglich verschuldeten Kommune sagen. Dafür müsste Triest freilich besser verhandeln als Rom: In der italienischen Hauptstadt sind filmbedingte Stadtteilsperrungen seit Anita Ekbergs Bad in der Fontana di Trevi wortwörtlich an der Tagesordnung. Für die Nutzung des römischen Bodens zuzüglich Extrakosten für die Sperrung touristisch beliebter Locations (Colosseum, Fontana die Trevi und so) kamen 2021 bei über 1800 Drehlizenzen eine gute Million Euro zusammen. »Eine Plage für die Bewohner, ein schlechtes Geschäft für die Stadt«, titelte damals eine Zeitung. Und in der Tat: Selbst, wenn sich die Vermietung Triests an Hollywood für die Stadt lohnt, die direkt betroffenen Anwohner haben davon nichts – außer dem Lärm, dem Scheinwerferlicht, ihrem Ärger und womöglich einem Schuss Voyeurismus. Und er einzige städtische Kiosk Triests, in dem es außer am Bahnhof noch deutsche und internationale Zeitungen zu kaufen gibt, kann sein Geschäft in der Hochsaison vergessen, weil er direkt am Set liegt. Mein zwiespältiges Gefühl löst sich nicht auf.

    Rainer Hank

  • 18. August 2023
    Le Kulturkampf

    Wo geht's hier zum Kulturkampf? Foto Michael Gaida/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über die Politisierung von allem und jedem

    Nun also hat es auch das Hamburger Ohnsorg-Theater erwischt. Dort tobt ein Kulturkampf, wie ich der Süddeutschen Zeitung entnehme. Das Ohnsorg-Theater kennen Leute meiner Generation aus den sechziger Jahren, auch wenn sie in Süddeutschland lebten. Denn man konnte die Mundartstücke (Plattdeutsch) regelmäßig im Fernsehen sehen. Eine Wahl hatte man nicht, es gab nur ein Programm. Die Heldin des Theaters hieß Heidi Kabel. In unserer schwäbischen Familie mochte man sie. Die Stücke hießen »Tratsch im Treppenhaus«, »Opa wird verkauft« oder »Die Königin von Honolulu«. Dialektkomödien waren damals sehr beliebt. Aus Köln kam Willy Millowitsch, aus Stuttgart Willy Reichert und aus München die Lach- & Schießgesellschaft und später die Lindenstraße.

    Jetzt soll Schluss sein mit der Heidi-Kabel-Zeit in Hamburg, so lese ich es. Nicht nur, weil die Leute immer weniger Dialekt verstehen, sondern erst recht, weil das Mundarttheater als »Volks«-Theater gilt. Und das passt nicht mehr in unsere multikulturell-diversen Regenbogenzeiten. Gegen diese sogenannten Modernisten opponiert allerdings jetzt eine Traditionalistenfraktion, die für den Erhalt den »Plattdeutschen Theaters in plattdeutscher Art« ficht.

    Und genau diesen Konflikt zwischen Modernisten und Traditionalisten nennt man heute »Kulturkampf«. Der Begriff hat seit den letzten Jahren eine Inflationierung hinter sich, ähnlich steil wie die Teuerung der Verbraucherpreise. Das immer hilfsbereite FAZ-Archiv zählte 2010 47 Nennungen in der FAZ, 2020 gab es 50 Treffer, 2022 dann schon 65 Treffer und in den ersten sechs Monaten 2023 verzeichnen die Archivare 58 Treffer. Es wird ein Rekordjahr. Noch mehr Fleiß in der Kulturkampfberichterstattung zeigt die Süddeutsche Zeitung: die liegen heute schon bei 77 Treffern, nach 44 im vergangenen Jahr. Vorbild sind natürlich wieder einmal die Vereinigten Staaten. Dort ist gemäß Googles Zählmaschine »Ngramviewer« der Begriff »war of culture« derzeit auf seinem Allzeithoch seit dem Jahr 1800.

    SUV-Fahrer gegen Radfahrer

    Merke: Kulturkampf ist überall. Hier kommen ein paar Beispiele aus den vergangenen Wochen. Die Straße sei längst schon zur »Kulturkampfarena« verkommen, heißt es zum Beispiel im »Spiegel«. Wer kämpft kulturell gegen wen: Der SUV-Fahrer aus dem Vorort, natürlich ein Boomer, gegen die Lastenrad fahrende Jungmutter und Teilzeitkreative aus dem Szeneviertel. Auch hier sind also wieder Progressive gegen Traditionalisten unterwegs, wobei es das Schwarz-Weiß-Bild stören würde, daran zu erinneren, dass es nicht wenige Lastenrad-Fahrerinnen gibt, die nebenbei auch einen SUV ihr Eigen nennen.

    Kulturkampf ist nicht nur in Deutschland. In Spanien gibt es einen »Kulturkampf um den Stierkampf«. Dort gehe es nicht fair zu, sagen die Progressiven: Statistisch gesehen gebe es viel mehr tote Stiere als tote Toreros. Die Mehrheit der Spanier hat sich von diesem Argument nicht überzeugen lassen und bei der Parlamentswahl am 23. Juli für die Traditionalisten votiert.

    Schließlich zu den Hauptkampfplätzen: Da tummeln sich die Fleischesser, angeführt von Markus Söder (CSU) und Friedrich Merz (CDU). Mit dem Slogan »Wir sind gegen Verbote von Fleisch und Wurst« ziehen sie gegen Vegetarier und Veganer in die heiße Schlacht am Grillplatz. Heiß ging es zuvor schon zu im »Kulturkampf ums Heizen« (auch »fossiler Kulturkampf« genannt), wo schon einmal der »Heiz-Hammer« herausgeholt wurde, um Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zu zeigen, wo derselbe hängt. Und wenn Friedrich Merz feststellt, AfD-Bürgermeister oder -Landräte seien demokratisch gewählt, halten die Kulturkämpfer der eigenen Partei ihm vor, er reiße Brandmauern ein.
    Die Mutter (oder sagen wir korrekt: die »gebärende Person«) aller Kulturkämpfe ist die Identitätspolitik, wo es darum geht, ob es zwei Geschlechter oder ganz viele davon gibt und wem es zusteht zu sagen, welches er/sie/mensch haben will. An dieser Stelle trifft sich der Kulturkampf mit dem Sprachkampf (Stichwort: cancel culture), wo umstritten ist, ob man das N-Wort noch komplett aussprechen oder zumindest zitieren darf (den Traditionalisten in diesem Mundart-Stück gibt der Grüne Boris Palmer) oder nicht. Kulturkampf ist immer binär und meist im Zeitstrom aggressiv eskalierend.

    Erfunden hat das alles Otto von Bismarck

    Was ist denn nun aber ein Kulturkampf? Anders als der Begriff es suggeriert, geht es im Kern nicht um Kultur, sondern um Politik. Kulturkampf meint die moralisch aufgeheizte Politisierung von herkömmlich nicht politischen Haltungen oder Handlungen. Radfahren war früher einfach eine Weise, sich fortzubewegen. Inzwischen ist Radeln ein politisches Bekenntnis, ein Kampf, bei dem es buchstäblich darum geht, städtischen Boden gutzumachen. Ähnlich ist es mit dem Fleischessen. Da ging es früher lediglich um die Alternative medium, medium-rare oder well-done. Heute gilt ein Fleischesser als kleine Klimasau, die das 1,5–Grad-Ziel gefährdet.

    Inzwischen ist der deutsche Kulturkampf ein Exportgut geworden. Die französische Zeitung »Le monde« schreibt ohne Bedenken von »Le Kulturkampf« und beruft sich dabei auf den amerikanischen Soziologen James Davison Hunter und dessen Buch »Culture Wars« aus dem Jahr 1991. Das liegt natürlich daran, dass als Vater aller Kulturkämpfe der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck (1815 bis 1898) gilt. Damals ging es um das kulturelle Selbstverständnis der Nation, das Aufeinanderprallen zwischen der konservativen Idee eines eher ständischen Verständnisses der Gesellschaft und der liberalen Modernisierung einer komplexen Gesellschaft. Für das Progressive standen Bismarck und das protestantische Preußen, als konservativ galten die Zentrumspartei und die ultramontanen Katholiken, die sich lieber an Rom und dem Papst als an Berlin orientieren wollte. Wobei sich die Kategorien merkwürdig verschieben: Denn die Katholiken agierten seit alters her weltumfassend, während die Preußen für den deutschen Nationalstaat kämpften, mithin nationalistisch waren. Wer ist da progressiv, wer Traditionalist?

    Zimperlich war man auch im Bismarckschen Kulturkampf nicht. In der zeitgenössischen Literatur wurden Katholiken als Dickbäuche und Lotterbuben geschmäht. Die Katholiken keilten zurück und beschimpften die Liberalen als Missgeburt freimaurerischer Teufelsverehrung. Viele nichtreligiöse Aktivitäten (Sport, Bankgeschäfte oder der Konsum) wurden konfessionalisiert. Das führt noch einmal zurück in meine schwäbische Kindheit (in der man Ohnsorg-Theater guckte). In vielen Städten, in denen Evangelische und Katholische (häufig Flüchtlinge) lebten, wusste man ganz genau, welcher Metzger oder Bäcker katholisch oder evangelisch war. Entsprechend wusste man, wo man einzukaufen hatte und wo nicht. Kulturkampf Marke fünfziger Jahre.

    Rainer Hank

  • 18. August 2023
    Homeoffice ist keine Dauerlösung

    Man kann es sich ruhig etwas kuscheliger machen Foto Samantha Gades/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Das gute alte Büro lebt

    Gute Kommunikation ist das Salz in der Firmensuppe. Martin Lukes ist die Pfeffermühle. Er ist fast schon Mitte vierzig und ein ziemlich hohes Arbeitstier mit ziemlich niederen Instinkten. Gefühlte Fitness: Anfang dreißig, Selbstüberschätzung: am obersten Limit. Soft skills: unterirdisch. Er arbeitet als Marketing-Direktor bei A&B in London. Weil er karrieregeil ist, belügt Martin seine Vorgesetzten, schikaniert seine Untergebenen, wo immer er kann, und betrügt seine Frau (immer, wenn er kann) mit seiner persönlichen Assistentin auf der Feuertreppe. Aber all das reicht ihm noch lange nicht: Er will seine maximale Performance um 22,5 Prozent toppen und bucht ein hammermäßiges Online-Trainingsprogramm. Aus Martin soll in nur zwölf Monaten ein ganz neues Alphatier werden.

    So ungefähr läuft der Plot des Büroromans »Depptop« von Lucy Kellaway, erschienen 2007, keine Welt-, sondern eher Trivialliteratur. Kellaway ist Journalistin. In der »Financial Times« hatte sie über lange Zeit eine montägliche Büro-Kolumne, die bei den Lesern sehr beliebt war. Mit 60 hat sie umgesattelt: Seither arbeitet sie als Mathelehrerin in einer Londoner Schule. »Depptop« habe ich vor ein paar Jahren gelesen, fand das Buch zum Schreien komisch und konnte mir gar nicht vorstellen, dass die Trivialsatire die Geschichte einer untergehenden Welt ist.

    Inzwischen hatten wir Corona. Corona, so heißt es seither, hatte viel Übles mit sich gebracht, aber auch ein Gutes: Die flächendeckende Einführung des Homeoffice. Darüber, so sieht es aus, sind alle nur glücklich. Arbeitgeber sparen teure Büromieten. Der ehemalige Office-Mensch spart nervige Staus (im Schnitt beachtliche 72 Minuten am Tag) und kann es sich auf dem Balkon oder im schattigen Garten beim Zoom-Meeting in Freizeitkleidung gemütlich machen. Typische Angestellte werteten in einer Umfrage die Arbeit von zuhause wie eine Gehaltserhöhung um real acht Prozent. Daraus könnte man im Umkehrschluss folgern, sie wären zu Lohneinbußen bereit, um ihr Hausarbeitsprivileg dauerhaft zu behalten.

    Die Firmen holen ihre Leute zurück

    Wenn es nach den Wünschen der Arbeitnehmer ginge, würde sich eine Drei-zu-Zwei-Welt als Idealbild herausschälen: Di, Mi, Do im Büro – Montag und Freitag zuhause. »Morgen bin ich im HO«, sagt man heute, eine Abkürzung, die die Älteren unter uns für die volkseigenen Lebensmittelgeschäfte der DDR halten, »Handels-Organisation« (HO) im Bürokratendeutsch. Doch der alte HO ist mit der DDR untergegangen, die Abkürzung deshalb frei geworden für das Homeoffice des Nachcorona-Zeitalters.
    Das Homeoffice hat Corona überlebt. In einer Umfrage des Münchner-Ifo-Instituts zusammen mit der Zeitarbeitsfirma Randstad kam heraus: Fast alle befragten Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten bieten die Möglichkeit von zu Hause zu arbeiten. Sie bewilligen heute sogar mehr Tage im Monat als vor einem Jahr: im Schnitt 7,1 Tage, nach 5,3 Tagen im Vorjahr. 90 Prozent der Betriebe, die zwischen 250 und 499 Angestellte beschäftigen, erlauben ebenfalls HO, nur weniger: Sie genehmigen durchschnittlich 6,2 Tage pro Monat, nach 6 Tagen ein Jahr zuvor. Die Faustregel heißt: Je größer das Unternehmen, desto großzügiger die Homeoffice-Regeln.

    Mit durchschnittlich einem Tag pro Woche Homeoffice darf sich Deutschland Vize-Weltmeister nennen. Das zeigt abermals eine Befragung des Ifo-Instituts unter 42.000 Beschäftigten in 34 Ländern. Demnach kommt Deutschland auf den zweiten Platz unter 17 europäischen Ländern. Vor Deutschland liegt nur das Vereinigte Königreich mit 1,5 Tagen. Weltweit rangiert Deutschland auf Platz fünf. Besonders wenig Homeoffice-Tage gibt es dagegen in Südkorea, Japan und Griechenland.

    Das klingt nach einer Win-Win-Situation, ist es aber nicht, wie sich immer mehr herausstellt. Zwar sind alle glücklich, doch am Ende leidet die Produktivität; die FAS hatte darüber Anfang Juli berichtet. Während des Corona-Lockdowns hatte man noch von Produktivitätssteigerungen geschwärmt, weil die Leute jetzt die sinnlose Pendelzeit im Auto auf die Arbeit draufschlagen (und zusätzlich Kapazitäten für Kinder, Freunde und Familie haben). Doch inzwischen hat sich die Datenlage verbessert und das Bild hat sich gedreht. IT-Leute in Indien arbeiten zuhause um 18 Prozent weniger produktiv als im Office, Untersuchungen aus Südasien verzeichnen sogar noch höhere Produktivitätsverluste. Das wird in Europa nicht viel anders sein. Man kann diese abstrakten Prozentzahlen konkret machen: Kunden hängen länger in der Warteschleife, wenn sie von zuhause bedient werden. Es gibt mehr Rückrufe, was darauf schließen lässt, dass der Service nachlässt. Am meisten hat mich die Geschichte der professionellen Schachspieler beeindruckt. Die spielten plötzlich weniger gut und weniger konzentriert, wenn sie sich online zusammen taten im Vergleich zu einem Duell in körperlicher (und geistiger) Präsenz.

    Das Büro hat eben nicht nur Nachteile, wie die Apologeten des Homeoffice meinen. Am schlimmsten: Zuhause fehlen die echten Kollegen, die man mit einem kurzen Hilferuf um Unterstützung bitten kann. Bis man den Kollegen von Homeoffice zu Homeoffice kontaktiert hat, vergeht viel Zeit, abgesehen davon, dass der Büronachbar einfach kurz vorbeikommen und einem über die Schulter schauen kann.

    Nachrufe auf das Büro waren übereilt

    Kurzum: Die Nachrufe auf das Büro waren verfrüht (ich habe auch einen geschrieben). Die Erfindung der Arbeitsteilung zwischen Haus und Arbeit behält ihr Gutes: Das Office verkürzt den Koordinationsaufwand der Arbeit und birgt zudem die Chance, im launigen Gespräch mit den Kollegen auf Ideen zu kommen, die einem am häuslichen Schreibtisch zwischen dem fünften Call und Befüllen der Waschmaschine nicht gekommen wären. Das nennt man Serendipity.

    Es ist nicht einfach nur autoritäres Machtgehabe, dass immer mehr große Konzerne ihre Leute wieder in die Büros zurückrufen. Nichtbefolgung werten wir als »freiwillige Kündigung, heißt es bei Amazon. Schon klar, auch im Büro ist nicht alles super. Es gibt Intrigen, Affären, böses Mobbing und Meetings, die kein Ende nehmen. So wie man es kennt seit der Erfindung des Offices im späten 18. Jahrhundert. Am Arbeitsplatz sind die Kollegen, zuhause gibt es die Familie; die jeweiligen sozialen Beziehungen sind sehr unterschiedlich. Der Wechsel des Orts bietet wechselseitig Entlastung.
    Die Meinung, das HO sei die Arbeitsform der Zukunft, sei ohnehin eine Eliten-Debatte, die sich dessen nicht bewusst sei, hat Allensbach-Forscherin Renate Köcher kürzlich in der FAZ geschrieben. Für 56 Prozent der Beschäftigten (Fabrikarbeiter, Krankenschwestern, Müllmänner) kommt Homeoffice aufgrund der Natur ihrer Tätigkeit gar nicht in Frage. Es sieht so aus, als bliebe auch allen anderen der Arbeitsplatz außer Haus noch eine Weile erhalten. Gut so.

    Rainer Hank

  • 17. August 2023
    Das Schicksal der Whistleblower

    Greenwashing Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Auch ein Gesetz schützt sie nicht vor sozialer Isolation

    Desirée Fixler (51) war ein knappes halbes Jahr Nachhaltigkeitschefin der Fondsgesellschaft DWS, die der Deutschen Bank gehört. Nachdem sie ihrem Unternehmen intern vorgeworfen hatte, seine Anlageprodukte »grüner« zu färben als sie in Wirklichkeit sind, wurde die Amerikanerin fristlos gefeuert.

    Folgenlos blieb Fixlers Aktion nicht: Zwei Top-Manager der DWS verloren ebenfalls ihren Job; deutsche und amerikanische Aufsichtsbehörden prüfen die Vorwürfe des »Greenwashings«. Das bedeutet, grob gesagt, wer das Gütesiegel ESG verwendet, sollte weder Wirecard-Aktien kaufen (was die DWS tat), noch das Geld der Anleger in den Mineralölkonzern Shell investieren. Denn ESG bedeutet »Enviromental, Social and Governance«, gibt somit vor, Klima- und Umweltstandards einzuhalten und bei jenen Firmen, deren Aktien oder Anleihen in den Fonds kommen, auf soziale Ziele und eine gute Unternehmensführung zu achten.

    In einer Reihe von Interviews hat Desirée Fixler in den vergangenen Wochen sehr konkret berichtet, was eine Bankerin zu erwarten hat, die schlecht über ihr Unternehmen redet und ihm vorwirft, seine eigenen Ziele zu missachten. Während eines Aufenthalts in Amerika erreichte sie die Mail des DWS-Anwalts, ihr Vertrag werde nicht verlängert. Das war’s dann. Da sie sich aus Sicht des Arbeitgebers noch in der Probezeit befand, musste die Kündigung nicht begründet werden. Die Bank konnte jeglichen Zusammenhang mit ihren Vorwürfen leugnen. Dem Gericht blieb nichts anderes übrig, als die Kündigung durchzuwinken. Zusätzlich fand ein internes Memo der DWS seinen Weg an die Nachrichtenagentur Bloomberg. Darin stand, dass die Nachhaltigkeitschefin ihrem Job nicht gewachsen gewesen sei. Das ist der Klassiker zur Legitimation eines Rauswurfs.

    Was taugt dsa ESG-Gütesiegel?

    Nun kann man das ESG-Gütesiegel – weil wachsweich und wenig aussagekräftig – aus guten Gründen kritisieren. Das tut im Übrigen auch Desirée Fixler: Der Begriff bringe niemanden weiter, sagt sie. Doch wer damit Werbung macht und Kunden anlockt, sollte sich schon den selbstgewählten Qualitätsansprüchen unterwerfen. Fixler jedenfalls stand plötzlich ohne Arbeit da. Mit der Kündigung lief auch ihre Arbeitserlaubnis in Deutschland ab. Konkurrenten aus der Branche werden sich hüten, jemanden anzuheuern, die sich als »Nestbeschmutzer« einen Namen gemacht hat. Jetzt arbeitet sie als Beraterin der britischen Finanzmarktaufsicht FCA – nicht gerade ihr Traumberuf.

    Desiree Fixler erlitt das typische Schicksal eines Whistleblowers, im Deutschen ziemlich unschön übersetzt mit »Hinweisgeberin«. »Broken Lives Against Organisational Power«, so ist eine berühmte Studie des Psychologen C.F. Alford zum Whistleblowing überschrieben: Zerstörte Leben als Folge der Macht von Unternehmen. Im Kampf zwischen der Macht der Konzerne und der entlarvenden Moral der Whistleblower siegen in den meisten Fällen die Konzerne. Ein Unternehmen ist eine autoritäre Veranstaltung mit klaren Berichtslinien, kein Ort des herrschaftsfreien Diskurses. Whistleblower sind Störenfriede, selbst wenn sie formal als Compliance-Beauftragte die Pflicht haben, Unregelmäßigkeiten zu melden.

    In einer spannenden Studie von Kate Kenny, einer Wirtschaftsprofessorin aus Irland, lässt sich nachlesen, was die »Denunziantin« von ihrer Firma zu erwarten hat. Mit Ignorieren fängt es an. So landen Auffälligkeiten, dass eine Bank ihren reichen Kunden, die nicht so genau hinschauen, überzogene Gebühren aufbrummt, auf der langen Bank und anschließend im Nirvana. Dem Ignorieren folgt Schikanieren, Isolieren und am Ende Exkludieren. Kate Kenny beschreibt den eskalierenden Prozess als eine Art von »anschwellender Folter«, was nicht selten zu psychischen Problemen (Depression) beim Whistleblower führt. Er oder sie leidet an der Isolation und glaubt am Ende selbst, seinem Unternehmen Schaden zugefügt zu haben.

    Hat er ja auch: Aus Sicht des Unternehmens können Whistleblower einen großen Reputationsschaden anrichten, falls die Sache öffentlich wird. Im Schutz der Anonymität haben Mitarbeiter die Möglichkeit, offene Rechnungen mit ihrer Firma zu begleichen und falsche Anschuldigungen in die Welt zu setzen. Bis geklärt ist, dass diese erfunden und erlogen sind, kann es längst zu spät sein. Was nützt einer Unternehmung, die sich in Insolvenz befindet, dass ihr am Ende bestätigt wird, sie habe sich nichts zuschulden kommen lassen.

    Es handelt sich um einen Zielkonflikt, der schwer aufzulösen ist. Auf der einen Seite ist unternehmerisches Fehlverhalten allein durch Behauptung des Whistleblowers noch nicht bewiesen. Auf der anderen Seite muss der Whistleblower einen geschützten Raum frei von Repressalien für seine Erzählung garantiert bekommen, ansonsten wird er es sich dreimal überlegen, ob er von ihm beobachtete Unmoral und Regelverstöße ausplaudern soll.

    Löchrig wie ein Schweizer Käse

    Seit Anfang Juli dieses Jahres gibt es in Deutschland das »Hinweisgeberschutzgesetz« (HinSchG), das vorgibt, den genannten Zielkonflikt zur Zufriedenheit beider Seiten zu lösen. Whistleblower (dazu zählen nicht nur Mitarbeiter, sondern auch Kunden oder Lieferanten) haben das Recht, Verstöße (Korruption, Veruntreuung von Geld, Umweltsünden) zu melden und dafür zum Beispiel einen elektronischen Briefkasten zu nutzen, der ihre Identität verschlüsselt. Der Whistleblower wird vor Repressalien (Kündigung, Nichtbeförderung, Mobbing) geschützt, das Unternehmen wird von vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Falschmeldungen geschützt, jeweils durch die Androhung von saftigen Schadenersatzzahlungen.

    Also alles paletti? Keinesfalls, grummelt die Frankfurter Strafverteidigerin Regina Michalke in einem demnächst erscheinenden Aufsatz: »Der Vertrauensschutz des HinSchG ist so löchrig wie der Schweizer Käse«. Denn die Anonymität des Whistleblowers, der auf Vertraulichkeit hofft, wird hinfällig, sobald sein Unternehmen gegen ihn strafrechtlich ermitteln lässt. Je schwerer der von ihm gemeldete Rechtsverstoß wiegt, um so bedeutsamer und transparenter muss für alle Verfahrensbeteiligte das ursprünglich in vermeintlicher Vertraulichkeit offenbarte Insider- oder Whistleblower-Wissen auch für die Zwecke der Staatsanwaltschaft wirken. Der Zielkonflikt sei nicht zu lösen, findet die Anwältin: Der auf absoluten Schutz hoffende Hinweisgeber ist nicht zu »retten«.

    Jedermann sollte sich gut überlegen, ob er zum Whistleblower taugt. Es drohen Verstoß und Ächtung aus der Businesswelt. Einen »Denunzianten« und »Verräter« mag niemand bei sich haben, auch und womöglich gerade dann, wenn er die Wahrheit spricht. Am Ende treiben Selbstzweifel den Whistleblower mit schlechtem Gewissen in die Isolation. Es bleibt dabei: Whistleblowing ist und bleibt ein hohes Risiko.

    Rainer Hank

  • 25. Juli 2023
    Der Fluch des Erfolgs

    Panama-Kanal Foto wikipedia

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ferdinand de Lesseps und sein Panama-Projekt

    Dem Panama-Kanal geht das Wasser aus. Seit Wochen erreichen uns Hiobsnachrichten. Trockenheit bedroht eine der wichtigsten Seerouten der Welt. Weil die Stauseen Panamas, durch die die Wasserstraße führt, immer weniger gefüllt sind, müssen die Containerschiffe, die ihn befahren, leichter werden und dürfen nicht mehr so viel Fracht laden. Bis Mitte Juni galt ein Tiefgang von höchstens 15,24 Metern, seit Anfang Juli sind nur noch 13,26 Meter erlaubt. Was das bedeutet: Zwischen 10 und 25 Prozent der Ladung muss von den Schiffen abgeladen werden, damit sie nicht den Grund des Kanals schrammen. Schlimmstenfalls drohe Stillstand, heißt es.

    Der Klimawandel bedroht das globale Wachstum. Ich konnte mir das nie so richtig vorstellen. Die Aussage blieb abstrakt. Beim Panamakanal wird es konkret: In den Containern befindet sich Wein aus Chile, Sojabohnen auch Brasilien, Autos aus den USA und Chips aus China. Auch die Mengen an Avocados, die wir Deutschen so gerne essen, finden ihren Weg durch den Panama-Kanal. All solche Sachen, die in der globalen Arbeitsteilung über die Meere der Welt schippern. Der Wassermangel führt zu einer Verlangsamung der Lieferkettengeschwindigkeit, mithin einem Verlust von Wachstum und Wohlstand. Immerhin fünf Prozent des weltweiten Seehandels passieren den Panamakanal. Trockenperioden gab es in dem tropischen Land Mittelamerikas immer wieder. So schlimm wie derzeit war es noch nie. Dass die außergewöhnliche Trockenheit eine Folge des Klimawandels ist, lässt sich schwerlich leugnen, finde ich.

    So sehr der Panamakanal heute Symbol unseres von der Erderwärmung bedrohten Wohlstands ist, so sehr ist er auch Symbol einer segensreichen menschlichen Fortschrittsgeschichte. Dazu muss man sich mit dem faszinierenden Leben des französischen Abenteurers und Visionärs Ferdinand de Lesseps (1805 bis 1895) beschäftigen, der nicht nur für den Bau des Panamakanals verantwortlich ist, sondern zuvor auch die Idee für den Suezkanal hatte.

    Ein Kanal vom Mittelmeer zum Roten Meer

    Mit knapp fünfzig Jahren hatte Lesseps sich nach einem erfolgreichen Leben als Diplomat mehr widerwillig als freiwillig und viel zu jung in den Ruhestand auf seinen Landsitz Manoir de la Chesnaye in der Normandie zurückgezogen. Dort erreichte ihn eine Einladung nach Ägypten, ausgesprochen vom neuen ägyptischen Vizekönig Mehmed Said Pascha. Lesseps kam am 7. November 1854 in Alexandria an. Bei einem der Ausflüge in die Wüste unterbreitete er dem Vizekönig am 15. November 1854 ein Memorandum über die Vorzüge eines Kanals durch den Isthmus: Der sollte das Mittelmeer mit dem Roten Meer verbinden und den Seeweg von und nach Indien und weiter nach Ostasien enorm verkürzen. Schon am 30. November 1854 erhielt Lesseps von Said Pascha die Konzession, die »Compagnie universelle du canal maritime de Suez« zu bauen und 99 Jahre lang zu betreiben.

    Lesseps, so lese ich es in dem ungemein anregenden Buch »Power and Progress« des MIT-Ökonomen Daron Acemoglu, war ein begeisterter Anhänger des französischen Philosophen Henri de Saint-Simon (1760 bis 1825): Die Macht sei am besten bei »Männern mit Genie« aufgehoben anstatt bei »Nichtsnutzen«, zu denen Saint Simon auch die Aristokratie zählte. Neben solchen genialen Einzelnen, die ihre Ideen des technischem, zu Wohlstand führendem Fortschritt verwirklichen, braucht es Aktionäre, Menschen, die bereit sind, solch aufwendige Projekte zu finanzieren und für ihre Risikobereitschaft fürstlich entlohnt werden, sofern die Rechnung aufgeht. Ein »Reservoir« von Arbeitskräften, die der Bau benötigt, stand in Ägypten hinreichend zur Verfügung. Da war Lesseps, ein Mann seiner Zeit, tief verhaftet im kolonial-imperiale Denken der Europäer. Von »Zwangsarbeit« könne man nicht im strengen Sinn sprechen, so Lesseps beschwichtigend: Schließlich seien die Leute freiwillig zur Arbeit gekommen und liege das Lohnniveau der Suez-Gesellschaft deutlich über dem Landesdurchschnitt.

    Die Vision ging auf, Lesseps war ein international gefeierter Held. Der Kurs der Suez-Aktien (viele Franzosen hatten gezeichnet; Ägypten war als Großaktionär eingestiegen) hatte sich innerhalb von gut zehn Jahren vervierfacht, eine Dividende von jährlich fünfzehn Prozent kam obendrauf. Das Geniale am Suezkanal besteht darin, dass er keine Schleusen braucht, was die Durchfahrt der Schiffe extrem verkürzt. Heute ist der Suezkanal, inzwischen komplett in staatlicher Hand, die wichtigste Einnahmequelle Ägyptens: 20.000 Schiffe durchquerten 2022 den Kanal und bescherten dem Staat acht Milliarden Euro.

    Trunken vom eigenen Ruhm

    Ferdinand de Lesseps, vom Ruhm trunken, hatte die Idee, mit dem Bau des Panama-Kanals den Erfolg des Suez-Kanals zu wiederholen. Doch die Sache ging schief. Der Franzose übersah, dass die klimatischen Bedingungen in den Tropen viel schwieriger waren als in der ägyptischen Wüste. Gelbfieber und Malaria rafften 22.000 Arbeiter dahin. Das Bergland Panamas stellte die Ingenieure vor viel größere Herausforderungen. Ständig wurde von den Aktionären neues Kapital gefordert und die Risikoaufschläge, die für die Anleihen geboten werden mussten, stiegen kontinuierlich. Alles endete mit einer großen Pleite. Die Kapitalgeber hatten ihr ganzes Geld verloren, Abertausende Arbeiter verloren ihr Leben.

    Was lief falsch? Daron Acemoglu macht die fixe Idee de Lesseps verantwortlich, auch im Bergland Panamas wie in der ebenen Wüste Ägyptens ohne Schleusen auszukommen. Das trieb Kosten und technische Probleme ins Unermessliche. Zugleich übersah de Lesseps die naheliegende Idee, Seen im Hochland Panamas zu Stauseen zu fluten, was den eigentlichen Kanal selbst verkürzt hätte. Dabei hatte er es mit den Bitterseen in der ägyptischen Wüste auch so gemacht. Er zogt die falschen Lehren aus dem Erfolg des Suez-Projekts. Lesseps wurde Opfer einer Logik des Scheiterns, die er selbst nicht durchschaute. Ein Debakel! Erst die USA haben das Panama-Projekt Anfang des 20. Jahrhunderts auf die »richtige« Weise realisiert, Schleusen gebaut und die Seen des Hochlands geflutet – die heute unter der Trockenheit leiden.

    Und die Moral von der Geschicht›? Ferdinand de Lesseps ist ein Held des wirtschaftlichen Fortschritts, seine Projekte sind ein Segen für die Menschheit. Sein Ruhm wurde ihm zum Verhängnis. Es gibt eine Dialektik des Fortschritts. Die führt uns zurück zum Wassermangel des Panamakanals als Folge des Klimawandels. Der Klimawandel ist das unintendierte Nebenprodukt der menschlichen Fortschrittsgeschichte – eine Bedrohung für unseren Wohlstand. Dass die Menschheit aus vitalem Eigeninteresse auch solche negativen Folgen des Fortschritts in den Griff bekommt, ist die tröstliche Lehre, die der Verlauf der Wirtschaftsgeschichte bereit hält. Optimismus schlägt Apokalypse.

    Rainer Hank