Hank beißt in den Hot-Dog
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November 2020
Wo bleibt sie bloß, die Inflation?

Wird's bald teurer? Foto: StockSnap/pixabay

Viel Geld in der Welt, aber keine Teuerung

Die Inflation ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Seit langem fluten die Notenbanken auf der ganzen Welt die Märkte mit kaum vorstellbaren Summen von Geld. Mit der Corona-Krise hat sich alles noch einmal potenziert. Der Leitzins ist heute überall auf der Welt auf einem Tiefstand, teilweise sogar negativ. Hinzu kommen gigantische Ankaufprogramme von Staatsanleihen. Doch was passiert? Nichts.

Was hätte passieren müssen? Nach alter Schule wäre ein deutlicher Anstieg der Teuerung zu erwarten. Folgt man einem berühmten Diktum des Ökonomie-Nobelpreisträgers Milton Friedman aus dem Jahr 1970 (»The Counter-Revolution in Monetary Theorie«) so gilt: »Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen. Sie kommt ausschließlich durch die Ausweitung der Geldmenge zustande.« Friedmans Satz war lange Zeit Dogma unter den Geldpolitikern. Doch Inflation ist – bislang – ausgeblieben, wiewohl die Notenbanken ihre Politik explizit damit begründen, die Teuerung auf »nahe, aber unter zwei Prozent« anzuheben. Knapp zwei Prozent Inflation gelten als Garant für eine stabile Währung, welche die Bürger vor der Vernichtung ihrer Ersparnisse schützt und den Unternehmen planbare Realeinkünfte sichert. Noch niedrigere Inflationszahlen wären als »Disinflation« zu werten und im Blick auf eine Deflation nicht minder gefährlich.

Von knapp zwei Prozent sind wir heute weit entfernt. In vielen europäischen Ländern flattert die Inflation in diesem Corona-Jahr um die Null-Marke. Das wird sich nach der Pandemie ändern, doch mutmaßlich nicht genug sein: Prognosen der europäischen Zentralbank (EZB) erwarten im Euroraum für lange Zeit jährliche Steigerungen der Teuerung um etwa 1,3 Prozent. Das ist das Eingeständnis der EZB, sie werde auch mittelfristig ihr selbstgesetztes Stabilitätsziel nicht erreichen. Im Gegenteil. Seit die Pandemie-Unsicherheit in diesem Herbst wieder größer geworden ist, sind die Deflationsängste wieder erwacht. Deflation bedeutet sinkende Preise und sinkende Löhne und damit verbunden einen Stillstand des wirtschaftlichen Lebens.

Mindestens so gefährlich wie Straßenräuber

Wer in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts groß geworden ist, hielt das Leben mit ständiger Inflationsgefahr für den Normalfall. Die Angst speiste sich vom Trauma der Hyperinflation, welches die Eltern oder Großeltern in der Depression der zwanziger Jahre erlitten haben. Doch der Eindruck mehrerer Generationen, dass Inflation der Normalfall sei, trügt. Das zeigt der Blick auf die langfristige Entwicklung. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts stiegen nach einer Untersuchung der Deutschen Bank die Preise nicht nur extrem langsam, sondern stagnierten sogar über einen langen Zeitraum. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts kam es wiederholt zu deutlichen Inflationsschüben: In Großbritannien etwa sind die Preise erst seit 1938 gestiegen – dann freilich in den Jahrzehnten bis heute auf das Fünfzigfache, mithin um fast 5000 Prozent. Ist die Inflation erst einmal im Gang gesetzt, gelingt es meist nur unter großen Schmerzen, die damit verbundene Lohn-Preis-Spirale zum Stillstand zu bringen. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan hielt Inflation daher »für mindestens so gewalttätig wie ein Straßenräuber«. Anfang der achtziger Jahre wurde Reagans Fed-Chef Paul Volcker zum Helden, weil er die Inflation besiegte, indem er die Leitzinsen drastisch heraufgesetzt hatte – teilweise auf über 20 Prozent -, was eine schwere Rezession mit hoher Arbeitslosigkeit zur Folge hatte.

Wie kommt es überhaupt zu Inflation? Ausgangspukt kann die Nachfrage- oder Angebotsseite sein. Ein Nachfragesog führt dazu, dass die Unternehmen auf die Schnelle ihre Produktion nicht ausweiten könnten und stattdessen die Preise für ihre knappen Güter erhöhen. Eine Angebotsinflation entsteht, wenn die Produktionskosten der Unternehmen (insbesondere Energie, Zinsen, Löhne) steigen und sie eine Chance sehen, diesen Kostendruck gewinnmargenschonend auf die Kunden zu überwälzen. Sofern die Gewerkschaften stark sind, werden sie als Antwort darauf höhere Lohnforderungen stellen, was abermals die Inflation antreibt. Das ist der Kern der berühmten Phillips-Kurve, die einen fixen Zusammenhang zwischen Inflation und Beschäftigung behauptet: Wenn viele Menschen Arbeit haben, können die Gewerkschaften preistreibende Lohnsteigerungen durchzusetzen, während von Zeiten großer Arbeitslosigkeit kein oder nur ein geringer Inflationsdruck ausgeht. Berühmt wurde das Diktum des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, fünf Prozent Inflation seien ihm lieber als fünf Prozent Arbeitslosigkeit, eine Aufforderung an die Bundesbank, die Zinsschraube ja nicht zu stark anzuziehen.

Doch mit der Inflation ist auch die Phillips-Kurve inzwischen in Bredouille gekommen. Zu häufig haben die Menschen die Erfahrung hoher Arbeitslosigkeit und gleichzeitig hoher Inflation gemacht (»Stagflation«). Andererseits gab es gerade in der vergangenen Dekade seit 2010 allenthalben viel Arbeit auf der Welt, ja annähernd Vollbeschäftigung, ohne dass es zu Inflation gekommen wäre – und das, wohlgemerkt, obwohl die Zentralbanken das erklärte Ziel hatten, eine Teuerung in Gang zu bringen, eben bis zur Marke von »nahe, aber unter zwei Prozent«.

Auch der Zins ist nicht mehr das, was er mal war

Möglicherweise sind die Gesetze des Marktes schuld daran, dass es heute kaum mehr zu Inflation kommt. Die Ökonomen sprechen von »säkularer Stagnation«, die sich dadurch erklärt, dass hohe Ersparnisse einer für das Alter vorsorgenden Bevölkerung auf eine geringe Kapitalnachfrage der Unternehmen in der heutigen Wissensökonomie treffen. Auch der Preis für das Geld – genannt Zins – richtet sich nach Angebot und Nachfrage. Tiefe Zinsen führen dann nicht zu mehr Wirtschaftsleistung und steigenden Preisen. »Säkulare Stagnation« wäre so gesehen ein Argument dafür, warum seit vielen Jahrzehnten die Zinsen und damit letztlich auch die Inflation global auf dem Rückmarsch sind und wohl auch noch lange bleiben werden.

War die Zeit wahrnehmbarer Inflation also nur ein kurzer Ausreißer der Weltgeschichte? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass das vermeintlich sichere Wissen über die Entstehung von Inflation zerbröselt wurde. Weder gibt es einen einigermaßen vorhersehbaren Zusammenhang zwischen Löhnen, Beschäftigung und Inflation. Noch existiert eine von den Monetaristen angenommene feste Beziehung zwischen der Geldmenge und der Teuerung. Daraus folgt, dass die Macht der Notenbanken zur Inflationserzeugung mit äußerster Skepsis betrachtet werden muss. Offenbar ist es so, dass die Menschen ihre Inflationserwartungen nicht an den Inflationszielen der Notenbanken ausrichten, sondern vielmehr an den Inflationserfahrungen der jüngeren Vergangenheit.

Den Notenbanken bleibt nichts anderes übrig als anzuerkennen, dass sie die Kontrolle über die Inflation verloren haben. Sie sind weniger mächtig als ihre Freunde – und ihre Feinde es ihnen zutrauen. Als Reaktion auf diese Kränkung arbeiten die Zentralbanker seit neuestem daran, die Not in eine Tugend umzudeuten, indem sie behaupten, das Zwei-Prozent-Ziel brauche künftig lediglich im längeren Zeitverlauf erreicht werden: Dann wäre eine lockere Geldpolitik auf noch lange Zeit gerechtfertigt. Offenbar gelangweilt von der seit Jahren ausbleibenden Inflation suchen die Notenbanken sich unter dem modischen Slogan »grüne Geldpolitik« jetzt neue Ziele: ihre Anleihekäufe wären dann nicht mehr neutral über alle Branchen, sondern müssten, böse gesagt, zuvor von Greta Thunberg das Zertifikat »klimafreundlich« erhalten. Ob man dann noch von »unabhängigen« Notenbanken sprechen kann?

Kommt es zur De-Globalisierung?

Prognosen sind bekanntlich schwierig, wenn es um die Zukunft geht. Es bleibt eine nicht geringe Restunsicherheit, ob der Tod der Inflation nicht zu früh ausgerufen wurde. Niemand weiß heute, ob die Rahmenbedingungen der Welt nach Corona so sein werden wie vorher. Nicht zuletzt die Globalisierung hat lange dazu beigetragen, die Inflation niedrig zu halten: Wettbewerb und offene Märkte sind allemal der Tod preistreibender Monopolisten und Kartellbrüder. Nach Corona könnte es zu De-Globalisierungstendenzen kommen, gibt der Düsseldorfer Makroökonom Jens Südekum zu bedenken. Das könnte höhere Preise nach sich ziehen – etwa dann, wenn Europa Medikamente künftig nicht mehr billig aus China bezieht, sondern selbst herstellt. Wenn so etwas auch in anderen Branchen passiert, käme es rasch zu inflationären Effekten in Erfüllung der Weisheit früherer Zeiten, wonach Todgesagte länger leben.

Mehr noch: In allen Staaten der Welt steigen die Schuldenquoten krisenbedingt derzeit auf neue Höchststände. Das ist die Folge der fiskalpolitischen Interventionen zur Stützung der Konjunktur. Sollte es nicht gelingen, das Verhältnis zwischen Schulden und Wirtschaftsleistung durch höheres Wachstum zu drücken, könnten die Staaten auf die Idee der Schuldenschmelze durch finanzielle Repression verfallen. Inflation hat bekanntlich viele Verlierer, aber daneben gibt es auch eine Gruppe von Gewinnern: die Schuldner, also die Staaten. Inflationierung von Schulden war immer schon in der Geschichte ein probates Mittel. Es wäre eine Art verdeckter Staatspleite, bei der alle Bürger (und nicht die Gläubiger) die Rechnung für die Maßnahmen der Corona-Rettung zu übernehmen hätten. Keine angenehme Vorstellung.

Der Text ist am 2. November 2020 auf der Meinungsseite der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.

Rainer Hank