Hank beißt in den Hot-Dog
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Februar 2023
Heroische Eleganz

Beeindruckender Viermaster Foto Star Clippers

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Mit der Star Clipper unterwegs im Pazifik

Der Mensch ist ein Landwesen, ein Landtreter. Er steht und geht und bewegt sich auf der festgegründeten Erde. Das ist sein Standpunkt und sein Boden; dadurch erhält er seinen Blickpunkt; das bestimmt seine Eindrücke und seine Art, die Welt zu sehen. Nicht nur seinen Gesichtskreis, sondern auch die Form seines Gehens und seiner Bewegungen, seine Gestalt erhält er als ein erdgeborenes und auf der Erde sich bewegendes Lebewesen.

Es war Carl Schmitt, ein schillernder Rechtsgelehrter, dessen im Jahr 1944 erschienene Schrift »Land und Meer« mich auf die Nichtselbstverständlichkeit des scheinbar Selbstverständlichen aufmerksam machte. Wir setzen unsere Land-Perspektive absolut, obwohl, was den Umfang seiner Oberfläche anbetrifft, Dreiviertel des Planeten aus Wasser und nur ein Viertel aus Erde besteht und auch die größten Erdteile in den Meeren wie Inseln schwimmen. Statt vom Erdball, so Schmitt, könnten wir genauso gut oder noch angemessener vom »Seeball« oder der »Meereskugel« sprechen.

Man müsste es einmal im Leben ausprobieren, den Spieß umdrehen und die Erde von der See aus in den Blick nehmen. Also zum See-Mann werden.

Mit ihren 115,5 Metern Länge ist die »Star Clipper« eines der größten Segelschiffe der Welt. Der weiße Großsegler mit vier Masten und 3365 Quadratmetern Segelfläche, der einer monegassischen Reederei gehört und unter maltesischer Flagge unterwegs ist, ist eine elegante Großskulptur mit Platz für maximal 166 Gäste und 74 Crewmitglieder. Schon von weitem erinnert das Schiff an die große Zeit der Seefahrt. Es schien uns geeignet für den radikalen Perspektivwechsel aus Seesicht, besser jedenfalls als die vielstöckigen Dickschiffe unseres Kreuzfahrtzeitalters, denen man die unbewusste Absicht unterstellen könnte, sie wollten mit ihren unzähligen Malls und Luxus-Restaurants an Deck das Land simulieren, das sie verlassen haben und von der Meereserfahrung ablenken, noch bevor sie nahekommen könnte: »Verrückt nach Meer«, so der Titel einer erfolgreichen ARD-Serie – ohne sich dem Meer wirklich auszusetzen.

Ein Schiff ist eben kein schwimmendes Stück Land, so wenig wie ein Fisch ein schwimmender Hund ist, wie Carl Schmitt bemerkt. Als Klipper, so lasse ich mich belehren, werden schnelle Segelschiffe bezeichnet, die ihre Blütezeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten. Ihre auffälligsten Merkmale sind ein scharf geschnittener Bug mit hohlen Linien und eine im Verhältnis zur Schiffslänge geringe Breite und hohe erreichbare Geschwindigkeiten. Heroische Eleganz wäre eine Beschreibung, die für mich am besten passt.

Losgelöst im Bugsptietnetz

Auch unsere Sprache bildet ihre Begriffe vom Land her. Die Sprache auf dem Schiff ist eine andere, selbst oder gerade, wenn sie Gegenstände oder Räume bezeichnet, die es auch an Land gibt. Dass die Zimmer Kabinen heißen und die Stockwerke Deck, weiß jedes Kind. Dass aber, nur als Beispiel, das Netz vorne am Bug außerhalb des Schiffes »Bugsprietnetz« heißt, auf dem ich auf der Fahrt das größte Freiheitsgefühl genoss und trotz ins Offene ausgesetzter Lage eine Erfahrung der Sicherheit und Geborgenheit erfuhr, bedurfte neben Trittsicherheit einige Lernanläufe in der neuen Terminologie. Die Segel heißen – unvollständig aufgezählt von Bug zum Heck – Vorstagsegel, Innenklüver, Jager, Großbramsegel, Großfischermann, Kreuzfischermann und Besan – jetzt gleich nochmal von vorne, damit es sitzt.

An Bord geht es in Puntarenas, einer verschlafenen Hafenstadt am Pazifik zwei Stunden westlich gelegen von San José, der Hauptstadt Costa Ricas. Ehrlich gesagt hätte es wegen mir auch irgendwo im indischen Ozean oder in der Karibik losgehen können. Mir ging es ja um die Meereserfahrung und nicht um das Land. Die Landausflüge in den tropischen Regenwald, die die Reise unterbrachen, habe ich als Fremdkörper erlebt, mindestens so fremd wie ein Besuch im Zoo. Für unsere meeresbezogene Sicht ist das feste Land bloß Küste, ein Strand mit einem »Hinterland«. Mehr wollte ich gar nicht wissen.

Bemerkenswert an den Landausflügen war einzig die Annäherung an den anderen Zustand. Unser Star Clipper durfte sich nämlich dem Land nie zu sehr anschmiegen. Um nicht auf Grund zu laufen, musste draußen geankert werden. Weiter ging es mit den Beibooten, die »Tender« heißen, wenn sie stabil aus Metall waren, oder »Zodiacs«, wenn es motorisierte Schlauchboote sind. Und selbst mit ihnen haben wir es selten bis ganz ans Ufer geschafft. Die letzten Meter wateten wir im Wasser zum Strand. »Wet Landing«, nasses Anlanden, hieß das, eine Ansage, die nicht nur metaphorisch zu verstehen war.

Zurück auf Schiff, das nach ein paar Tagen von einigen schon als »Zuhause« (auch so ein Landbegriff) bezeichnet wurde, kam es regelmäßig zu einem Moment von größtem Pathos, den sie »Sailing out« nennen. Es ist eine große Geste des Aufbruchs ins offene Meer, wenn alle Segel gesetzt werden und schon der kleinste Windstoß die größte Wirkung entfacht. Nicht »Land in Sicht« hieß mein Glücksmoment, vielmehr genoss ich stets die Augenblicke, wenn kein Land mehr zu sehen war, nur noch und nichts als »le grand bleu«, das tiefdunkle Blau des Meeres, bis es am Horizont wechselte ins milchigere Blau des pazifischen Himmels. »Conquest of Paradise«, der Song des griechischen Komponisten Vangelis aus dem gleichnamigen Film über den Aufbruch des Christopher Kolumbus im Jahr 1492 (es heißt, er habe zehn Jahre später auch in Costa Rica vorbeigeschaut), begleitete uns jedes Mal, wenn die Star Clipper in See stach. Der Ausdruck »neue Welt«, »novus orbis«, den Seneca gebraucht, wurde seit 1492 auf das neu entdeckte Amerika bezogen. Jetzt erst, mit der Entdeckung Amerikas und der Umseglung der Erde sei das höchste Stadium der ozeanischen Kultur gewonnen worden, schreibt Carl Schmitt. Dass die Wucht des Aufbruchssongs von Vangelis durch die in die Jahre gekommenen Lautsprecher an Bord verzerrt gebrochen wurde, verhinderte den sauren Kitsch und fokussierte uns auf das Spektakel der Ausfahrt: Ohne Worte zu wechseln weiß jeder Mann der Besatzung, wo sein Platz ist. Viel Muskelarbeit ist da nötig, denn nur einige der Winden sind elektrisch betrieben. Auf Digitalisierung der Takelage hat man komplett verzichtet.

I made my dreams come true

Die Mannschaft (nur wenige Frauen sind darunter) auf so einem Schiff ist hochgradig arbeitsteilig strukturiert und hierarchisch organisiert: jeder kennt seinen Platz, jeder weiß, wer ihm Befehle geben darf. Brunon Borowka, der Kapitän, ist ein alter Fahrensmann, den nichts aus der Ruhe bringt. Er stammt aus Danzig, nennt seine Heimat Pommern, nicht Polen, und seine Muttersprache kaschubisch und erwähnt Günther Grass als vormaligem Nachbarn. »I made my dreams come true«, sagt er: Ich habe meine Träume wahr gemacht. Drei Monate auf See wechseln sich ab mit drei Monaten bei der Familie. An Land sehnt er sich nach dem Meer. Und umgekehrt.

Mikael Krafft, der Reeder der Star Clipper, den sie »Clipperman« nennen, ist ein Besessener. Der Schwede, geboren 1946, hat sein Geld mit Immobilien gemacht. Die Vorfahren fuhren – bis auf seinen Vater – alle zur See. Mikael wuchs auf zwischen Werften und Yachten. Dort erzählten die Seeleute von den Clippern, die einst die Meere beherrschten. Als Schuljunge kletterte Krafft auf der »Pommern« herum, einer 1903 von den Deutschen gebauten Windjammer, und träumte davon, so ein Schiff, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts auf den Meeren kreuzten, auch einmal zu bauen.

Als Krafft genügend Geld verdient hatte, verkaufte er alles, um seinen Traum von der Wiederbelebung der legendären Klipperromantik zu erfüllen, wobei ihn seine Ehefrau Ann tatkräftig unterstützte. Krafft gründete in Monaco eine Reederei, fand einen erfahrenen Konstrukteur und einen Schiffsdesigner. 1991 und 1992 liefen seine ersten beiden Segelschiffe vom Stapel, eben auch unsere Star Clipper, die inzwischen, man muss es so sagen, ordentlich Patina angesetzt hat und mit viel Plüsch und Messing und der etwas aufdringlichen, sich auf jeden kleinen Teller fortpflanzenden Ornamentik der Schiffstaue so sehr aus der Zeit gefallen daherkommt, dass man es schon wieder mögen kann.
Die meisten meiner Mitreisenden schienen es zu mögen. Sechzig Prozent der Gäste sind Stammkunden. Sie waren mit der Star Clipper auch schon in Asien unterwegs. Oder im Mittelmeer. Oder haben den Atlantik überquert. Monte Mathews zum Beispiel, ein weltgewandter, immer noch gutaussehender Gentleman aus Manhattan (Stadtwohnung zwei Block entfernt von Lincoln Center, Sommerhaus in den Hamptons), der uns sein Alter nicht verrät und sich auf Deck bewegt wie der Fisch im Wasser – wenn das Bild erlaubt ist. Ein erfolgreiches Leben als Manager im Verlagswesen – ein paar Jahre auch branchenfremd bei der deutschen Lufthansa in Frankfurt – liegt hinter ihm. Seine Karriere hat er als Hotel-Page begonnen (sofern er uns kein Seemannsgarn erzählt hat). Seinen Ehemann hat er in New York City zurückgelassen. Ich bin sicher, er hat es im Lauf der Fahrt geschafft, mindestens jeden zweiten Mitreisenden kennenzulernen, jedenfalls diejenigen, die ihm interessant erschienen und unter besonderer Berücksichtigung hübscher Damen und jüngerer Männer.

Drei junge Schwedinnen

Apropos jung und hübsch: zu Stars der Reise wurden drei junge Schweden – Caroline, Louise und Phillip – die gerade ihren High-School-Abschluss hinter sich hatten und nun bis zum geplanten Studium für ein paar Monate auf der Star Clipper anheuerten, offiziell als »Sports Team«, tatsächlich aber gut gelaunt und für alles zuständig waren: Morgens gab es Yoga mit ihnen, später waren sie behilflich beim – aus meiner Sicht schwindelerregenden – Mastklettern, abends dann konnten wir sie bei der Modenschau bewundern oder beim Piratenspiel. Ja, solche Animationsveranstaltungen wie ich sie mir auf der Aida & Co. als den ausgemachten Horror vorstelle, gibt es tatsächlich auf der Star Clipper auch. Wahrscheinlich haben die Cruise Manager Sorge, die Gäste könnten zu wenig mit sich selbst anfangen und würden sich langweilen. Die drei Schweden vollbrachten das Kunststück, dass dieser Firlefanz bei uns (fast) nie zum Fremdschämen führte. Insbesondere Philipp, ein Junge mit dem Schmelz von Tadzio aus dem Tod in Venedig, vermochte alle Peinlichkeitsschwellen spielerisch-verführerisch zu umschiffen.

Nehmen wir noch Victoria (genannt Vici) aus Palm Springs hinzu. Sie war im Marketing der Sheraton Hotels, inzwischen alterslos und im Honeymoon über die wiedergefundene Liebe zu ihrem alten Jugendfreund Walter, das reine Glück. Oder Verena und Emma, die beiden Schwäbinnen aus Luzern, oder Evelyn aus Nizza, die am Talentabend französische Chansons zu Besten gab. Oder Ursel, die 72–jährige verwitwete Bremerin, die ihren Mann vermisste und zugleich froh war, nach Jahren der umsorgenden Pflege jetzt die Welt erobern zu können (als nächstes hat sie eine Radtour auf Kuba gebucht). Oder Katharina aus dem Chiemgau, Erbin eines Landhotels, die sich kleinen Fluchten auf die Star Clipper genehmigt und der Familie lediglich verriet, sie sei ein paar Tage weg. Nehmen wir sie also alle zusammen, die vielen Geschichten von gelebtem, erfülltem wie unerfülltem Leben, die bruchstückhaft an uns vorbeizogen, ohne dass wir sie zu nahe an uns heranließen, so ahnen wir: der Perspektivwechsel vom Land zum Meer gibt dem eingefahrenen Leben eine neue Unbefangenheit, ohne dass es sein Geheimnis verliert. Kleine Episoden, die sich zu einem Ganzen fügen, wenn man Glück hat. Oder eben eine Ansammlung von Fragmenten bleiben. Episoden, die sich zu einem Ganzen fügen, wenn man Glück hat. Oder eben eine Ansammlung von Fragmenten.

Oder sagen wir es anders: Die See gewährt allen einen persönlichen Schutzraum, der die Nähe des Zusammenlebens auf dem begrenzten Raum an Deck davor bewahrt, zu eng zu werden. Nur wenige der Passagiere reservieren sich ängstlich schon morgens ihre Liege mit Handtuch und Paris Match oder Neuer Revue. Die meisten gönnen sich an Bord eine kleine Pause vom Zwang zu Besitz und Macht. Womöglich eine Wirkung des Freiheitsversprechens der Meeresluft.

Die Sehnsucht nach Freiheit und einem neuen Leben, die Ahnung irgendwo lauernder Gefahren (heftige Stürme, Piraten, Mangel an Nahrung und Wasser) und die Möglichkeit der Katastrophe, des Schiffbruchs (die »Titanic« ist einer der erfolgreichsten Filme der Kinogeschichte) beziehen wir auf der Fahrt aus dem kulturellen Strandgut all dessen war wir irgendwann einmal gelesen, gesehen oder gehört haben. Es ist latent präsentes Mythenmaterial, das der Reise ihren Kitzel und den Träumen der Nacht ihre schwankende Unruhe verleiht. Und uns auch nach Ende der Reise in Erinnerung bleibt als Erfahrung des Wechsels ins andere Element: Vom Land aufs Wasser und wieder zurück.
Keine Sorge: Die Erde bleibt unser tragendes Element. Der Mensch ist kein Fisch und kein Vogel, so Carl Schmitt. Und erst recht kein Feuervogel, falls es solche geben sollte.

Die Reederei »Star Clippers« bietet zusammen mit dem Reiseveranstalter »Star Clippers Kreuzfahrten« im Jahr 2023 und 2024 ausgewählte Costa-Rica-Kreuzfahrten an. Zum Beispiel vom 11. bis 18. März 2023 »Costa Rica und Panama« ab 2135 Euro pro Person (inklusive Verpflegung). Oder vom 9. bis 16. Dezember 2023 »Costa Rica und Nicaragua«, 7 Tage ab 2035 Euro pro Person. Landausflüge werden extra berechnet. Hinzu kommt der Flug nach San José/Costa Rica und der Transfer zum Hafen nach Puntarenas. Mehr dazu hier. Telefon 00800/78272547.

Der Text erschien am 29. Januar im Reiseteil der FAS.

Rainer Hank