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  • 10. Mai 2025
    Ein Herz aus Stammzellen

    Ein künstlich gezüchtetes Herz Foto Expo Osaka

    Dieser Artikel in der FAZ

    Gibt es noch Fortschritt und wie misst man ihn?

    Ein fliegendes Taxi, ein selbstfahrender Omnibus und ein aus Stammzellen gezüchtetes, etwa drei Zentimeter großes Herz, das schlägt. Das sind einige der Highlights auf der Expo25, die am vergangenen Wochenende im japanischen Osaka eröffnet wurde. Die Auftaktveranstaltung hat ein androider Avatar moderiert.

    Der zur Besichtigung freigegebene Fortschritt wirkt immer noch als Magnet: Auf 28 Millionen Besucher hoffen die Expo-Veranstalter. Aber sind androide Roboter oder fliegende Taxis überhaupt ein echter Fortschritt? Ein Blick auf die erste Expo im Jahr 1851 zeigt die Fortschrittsdifferenz: Was die Besucher damals im Londoner Hydepark zu sehen bekamen, hatte es in sich. Es waren die spektakulären Erfindungen der sogenannten Ersten industriellen Revolution – von der Dampfmaschine über den Telegrafen bis zum Jacquard-Webstuhl, der mit Lochkarten arbeitete und als Vorläufer der Computerprogrammierung gilt: Disruptive Neuerungen, von denen der Wohlstand der Menschheit bis heute zehrt

    Der Fortschritt ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Darüber habe ich mich kürzlich mit einem Freund gestritten. Der vertrat ziemlich apodiktisch die Auffassung, echte Durchbrüche in Wissenschaft und Technik gäbe es heute kaum noch. Gut, der Mann ist Archäologe und aus seiner Perspektive markieren die Griechen des 5. Jahrhunderts vor Christus ohnehin den Höhepunkt der menschlichen Zivilisation, von wo aus es eigentlich nur bergab gehen konnte. Seine Beispiele freilich kamen aus den letzten 150 Jahren. Ob die Relativitätstheorie, die DNA-Struktur oder der Transistor: Solch bahnbrechende Entdeckungen widerlegen frühere Theorien, verändern unsere Sicht auf die Welt und lenken die technische Entwicklung in neue Bahnen – sind heute aber rar geworden.

    Tatsächlich ist der Innovationsindex bei wissenschaftlichen Publikationen (was es nicht alles gibt) seit 1945 um 91,9 Prozent gesunken, wie ich einem Artikel des Wissenschaftsmagazins »scinexx.de« entnehme, den mein Freund zur Untermauerung seiner These nachschob. Ist der menschliche Geist müde geworden? Oder sind die Usancen des Wissenschaftsbetriebs – »publish or perish«, Peer Review, Drittmittelzwang – dazu angetan, nur noch risikoarme Projekte zu fördern, die lediglich laues Mittelmaß produzieren?

    Nichts Neues seit dem Halbleiter

    Insbesondere der Halbleiter hatte es meinem Freund angetan. Der wurde bereits 1925 erfunden, also genau vor hundert Jahren, und von dem österreichisch-amerikanischen Physiker Julius Edgar Lilienfeld zum Patent angemeldet. Das war der Grundbaustein der Computertechnologie und damit auch der Künstlichen Intelligenz. Und natürlich auch die Voraussetzung für den Chip-Krieg, der derzeit weltweit mit aller Härte geführt wird.

    Nichts Neues unter der Sonne? Ich versuchte gegenzuhalten. Der Halbleiter als Erfindung in Ehren. Bis daraus aber mein iPhone (inklusive Siri, Perplexity und einer App, die Sprache in Text wandelt) wurde, waren doch noch ein paar Zwischenschritte erforderlich, denen ich ebenfalls Kreativität zubilligen würde. Und überhaupt: Bis sich die Innovationskraft und der gesellschaftliche Nutzen einer Erfindung zeigt, vergehen oft Jahrzehnte. Waschmaschine und Geschirrspülmaschine traten ihren Siegeszug durch die Haushalte der Mittelschichten erst nach dem Zweiten Weltkrieg an (das nennt man Skalierbarkeit), obwohl es die entsprechende Technik lange vorher schon gab. Wer will wissen, ob neue bahnbrechende Erfindungen nicht längst schon auf der Welt sind – es aber noch dauert, bis wir sie bei der nächsten Expo in Dubai oder Belgrad bewundern können?

    Ehrlich gesagt, ich war von mir selbst als Gegenredner nicht besonders überzeugt. Was macht man in so einer Lage? Lesen und Nachdenken. Was ist überhaupt Fortschritt und wie misst man ihn? Maß allen Fortschritts zumindest für Wirtschaftswissenschaftler ist das Wachstum, das sich an der Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ablesen lässt. Lässt man sich darauf ein, so zeigt sich eine gigantische Fortschrittsgeschichte seit dem Beginn der industriellen Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts: Das Bruttosozialprodukt der Welt entwickelte sich seit 1820 von mehr oder weniger Null auf über 100 Billionen Dollar. Die Lebenserwartung der Menschen lag um 1820 zwischen 28 und 35 Jahren. Heute sind es über 70 Jahre. Und der Anteil der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt, ist zwischen 1820 und heute von 75 Prozent auf gut zehn Prozent zurückgegangen. Beeindruckende Zahlen.

    Woher kommt das Wachstum? Seit den Arbeiten der amerikanischen Ökonomie-Nobelpreisträger Robert Solow und Paul Romer gilt der technische Fortschritt als Treiber des Wachstums. Er markiert jenen Überschuss menschlicher Ideen am Wachstumsgewinn (»Total Faktor Produktivität«), der sich nicht durch den Einsatz an mehr Maschinenstunden oder mehr Arbeitsstunden errechnet.

    Was taugt das BIP?

    Indes: Auch mit dem Überschuss an Ideen ist es heute nicht mehr wie es einmal war. Die Total-Faktor-Produktivität geht seit den fünfziger Jahren in allen Industrieländern deutlich zurück. Woran das liegt, darüber streiten die Gelehrten. Die britische Ökonomin Diane Coyle hat gerade ein schönes Buch geschrieben: »The Measure of Progress« (Das Maß des Fortschritts); vor zehn Jahren hat sie eine vielgelobte Geschichte des BIP geschrieben. Eine zentrale These des neuen Buches: Das BIP wurde in den vierziger Jahren für eine industrielle Wirtschaft erfunden, vermag indes die Realität digitaler, wissensbasierter Ökonomien nur unzureichend abzubilden. Und wie sich die von Künstlicher Intelligenz geschaffenen Effizienzgewinne im BIP messen lassen, ist ohnehin die große Frage.

    Daraus folgt für Diane Coyle: Dass wir Innovationen nicht sehen, heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Es heißt lediglich, dass unsere Messmethoden nicht auf eine neue vielfach in anonymen Clouds dematerialisierte Fortschrittswelt passen. Auf einer Expo lassen sich solche Errungenschaften menschlicher Kreativität nicht gut ausstellen.
    Fortschritt braucht ein quantifizierbares Maß, wenn wir ihn nicht einfach zu einem subjektiven Gefühl schrumpfen wollen, das keine intersubjektive Prüfung gestattet. Das BIP, ein geniales Maß, aufzugeben, kann nicht die Lösung sein. Das BIP an unsere neue Welt anzupassen, wäre indessen selbst eine wichtige Innovation in der menschlichen Fortschrittsgeschichte.

    Rainer Hank