Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 28. Oktober 2019
    Liberale mit Herz

    Deirdre McCloskey

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    Warum es sich lohnt, Deirdre McCloskey zu lesen

    In Zeiten, wie diesen, wo Populisten, Sozialisten und Nationalisten unterwegs sind, kommt Deirdre McCloskey gerade recht. Dieser Tage ist ein neues Buch der großen alten Dame des Liberalismus erschienen, das den Titel trägt »Warum der Liberalismus funktioniert«. Es ist die denkbar klügste und frechste Verteidigung des liberalen Kapitalismus, die man sich vorstellen kann. Linke wie Rechte sollten sich daran ihre Zähne ausbeißen – und das könnte sogar vergnüglich werden, jedenfalls für jene unter ihnen, die McCloskey gewachsen sind.

    In Deutschland ist Deidre McCloskey leider immer noch wenig bekannt. Das liegt daran, dass bislang keines ihrer Bücher ins Deutsche übersetzt wurde, was wiederum daran liegt, dass die Verlage denken, dass hierzulande mit liberalen Gedanken kein Blumentopf zu gewinnen sei. Vielleicht stimmt das sogar.

    Geschlechtsumwandlung als Akt der Freiheit

    Schon das Leben der Deirdre McCloskey wäre eine kleine literarische Erzählung wert: 1942 kam sie als »Donald« McCloskey in Ann Arbor, im amerikanischen Bundesstaat Michigan, zur Welt. Bis 1995 war sie verheiratet, dann ließ sie eine Geschlechtsumwandlung vornehmen. Das alles wäre ihre Privatsache, hätte sie nicht selbst diese Geschichte im Jahr 1999 mit einem Aufsehen erregenden Buch (»Crossing«) öffentlich gemacht und in Zusammenhang mit ihrer Weltanschauung gestellt. »Es war für mich eine Entscheidung zu meiner Identität.« Ihr eigenes Geschlecht frei wählen zu können, nennt sie ein liberales Recht der Menschen. Sie hat in Kauf genommen, dass die beiden Söhne nach der Geschlechtsumwandlung den Kontakt zu ihr komplett abgebrochen haben. Aber sie leidet daran.

    McCloskey vertritt einen »feministischen Liberalismus«. Sie berichtet gerne, wie sie, damals längst eine bekannte Ökonomie-Professorin, erfahren hat, als Frau plötzlich mit denselben Themen und Thesen von den Kollegen ignoriert zu werden, für die sie vorher als Mann anerkennende Zustimmung erntete.

    Die Geschlechtsumwandlung ist nicht die einzige Wandlung im Lebens der Deirdre McCloskey. Anfangs war sie ein atheistischer Marxist, wie viele Leute in den amerikanischen Achtundsechziger Jahren. Heute ist sie eine christliche Liberale. Sie nennt ihre politischen Anfänge ihren »Joan Baez-Sozialismus«: Arbeiterlieder singend die Armen aus ihrem Elend befreien wollen. Das Kapitel ihres neuen Buches, das von dieser ideologischen Wandlung berichtet, trägt die Überschrift: »Wie Deirde zu einer modernen Liberalen wurde: langsam, sehr langsam.« Sie hat dann Ökonomie in Harvard studiert, damals wie heute eine Hochburg der Keynesianer, die daran glauben, dass der Staat die Wirtschaft mit guter politischer Ingenieurskunst zum Besseren formen könne. Als Keynesianer kam sie (respektive Donald McCloskey) in den sechziger Jahren an die Universität Chicago, damals wie heute die Hochburg der Liberalen, die die Auffassung vertreten, der Staat solle sich weniger um die Nachfrage kümmern als darum, der Wirtschaft die Angebotsbedingungen zu erleichtern, um die Märkte zu dynamisieren und Wachstum zu generieren.
    Doch auch der rein ökonomische Liberalismus, zu dem sich McCloskey in Chicago bekehrte, wurde ihr rasch zu eng. Erst recht hasst sie die simple Arbeitsteilung, wonach die Ökonomen sich um die Effizienz der Wirtschaft kümmern, die Philosophen aber die Sinnfragen und Themen der Gerechtigkeit traktieren sollen. Schließlich ist der Liberalismus nicht als Wirtschaftstheorie, sondern als moralische Idee menschlicher Freiheit entstanden. Es waren bürgerliche Tugenden (Klugheit, Mut und eine große Portion Zukunfts-Optimismus), die für den Erfolg der Marktgesellschaft verantwortlich sind. McCloskey kennt die ganze dahinter stehende philosophische, literarische und theologische Tradition. Man könnte die Wette gewinnen (und es dem Nobelpreiskomitee in Stockholm zurufen), sie die umfassend gebildetste lebende Ökonomin zu nennen. In ihrer über zwei Stockwerke sich erstreckenden Wohnung im Zentrum von Chicago hat sie eine Bibliothek mit über 8000 Büchern. Diese Frau liest wie eine Wilde.

    Die Moral gehört nicht (nur) den Linken

    Inzwischen vertritt McCloskey einen »Liberalismus mit Herz«, was rührselig klingt, aber polemisch gemeint ist gegen alle Sozialisten, die der Meinung sind, das Herz schlage links, und die Liberalen hätten gar keines oder allenfalls ein kaltes. Man sollte sich die Moral nicht von den Linken wegnehmen lassen, findet sie, und verweist auf den schottischen Aufklärer Adam Smith, ihren Erzheiligen. Von ihm stammt die beste Definition des Liberalismus: jedermann (und jede Frau, ergänzt McCloskey) hat das Recht, seine eigenen Ziele und Interessen auf seine eigene Weise zu verfolgen, getreu dem liberalen Plan von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Dies, so McCloskey, sei das beste Programm zur Befreiung der Armen aus der Armut. Während die Sozialisten vorgeben, sich um die Armen zu sorgen, in Wirklichkeit aber bloß die Reichen hassen und schlimmstenfalls die Armen in noch größere Armut stürzen, haben die Liberalen – historisch nachprüfbar – die größten Erfolge in der Armutsbekämpfung vorzuweisen. Seit dem Jahr 1800 hat sich das Prokopfeinkommen der Ärmsten um sagenhafte 3000 Prozent verbessert. Das sieht man in allen Lebensbereichen. Es gibt erschwingliche Nahrungsmittel, schöne Wohnungen, Antibiotika, Flugzeuge, die Antibabypille, Bildung für alle und medizinische Erfolge, die dafür sorgen, dass viel weniger Kinder heute sterben müssen als früher. Verantwortlich für diesen Erfolg ist die Produktivität innovativer Märkte.

    McCloskey wird fuchsteufelswild, wenn sie das Trickle-Down-Argument hört, wonach die Linderung der Armut allenfalls ein Abfallprodukt des Wohlstands der Reichen sei. Das Gegenteil ist richtig: Denn die Reichen leben seit der Antike immer schon im Luxus, sie brauchen den Kapitalismus gar nicht. Den Armen geht es aber erst gut seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert.

    Fragt man McCloskey nach dem Kern ihres Liberalismus, kommt sie ins Stottern, nicht aus Unsicherheit, sondern weil sie seit Kindheit einen Sprachfehler hat, mit dem sie freilich sehr souverän umgeht. Der Inhalt der Antwort stottert überhaupt nicht: Freiheit heißt, keinen Herrn über sich zu haben! Das richtet sich gegen die Anmaßung des Staates ebenso wie gegen die Bevormundung von Frauen durch ihre Ehemänner und bedeutet eine radikale Absage an jegliche Hierarchie. Das alles bekäme ein schwer erträgliches Pathos, trüge McCloskey es nicht mit dem ihr eigenen Humor vor. Mit diesem Humor kämpft sie auch gegen ihre Gegner, die sie unter dem deutschen Wort »Klerisei« rubriziert: Damit meint sie den Volksstamm der schreibenden Professoren, Journalisten, Künstler und Intellektuellen, die meinen, den Menschen diktieren zu können, was gut für sie sei und die die bürgerlichen Werte mit Füßen treten. Ur-Schurke ist der französische Dichter Gustave Flaubert, der 1867 an George Sand schrieb: »La haine du bourgeois est le commencement de la vertu – Der Hass auf den Bürger ist der Beginn aller Tugend.« Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Ohne Bürgertum geht die Marktwirtschaft vor die Hunde.

    Rainer Hank

  • 22. Oktober 2019
    Gute Schulden, schlechte Schulden

    Frankfurt – Stadt der Kreditinstitute

    Dieser Artikel in der FAZ

    Der Preis des Pump-Kapitalismus

    Schulden machen ist plötzlich wieder in Mode. Wie konnte das passieren? Eine paradoxe Erklärung hat Mark Twain: »Von jetzt an werde ich nur so viel ausgeben, wie ich einnehme, selbst wenn ich mir dafür Geld borgen muss!« Wer sich verschuldet, kann Geld, das er nicht hat, ausgeben, als hätte er Geld – eine angenehme Illusion.

    Während der Kredit umgangssprachlich häufig kritisch gesehen und als moralisch problematisch gilt, bestehen Ökonomen auf der moralischen Neutralität des Schuldenmachens. Nichts sei einzuwenden gegen einen auf Freiwilligkeit beruhenden Vertrag, in dem der eine als Gläubiger und der andere als Schuldner auftritt, erst recht nicht, wenn beide sich an den Vertrag halten und die Schuldenlast rechtzeitig getilgt wird. Mehr noch: Kredite sind eine wichtige Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand. Ein Erfinder oder Unternehmer mit einer pfiffigen Idee könnte diese nicht umsetzen, wenn ihm das Geld dafür fehlt. Kreditgeber – seit der Neuzeit sind das vor allem Banken – haben zu Unrecht einen schlechten Ruf. Sie bringen das Geld vom Sparer zum Investor und schmieren damit den Motor des Wachstums. Wenn Staaten sich verschulden, kommen die damit finanzierten Investitionen künftigen Generationen zugute, denen bessere Straßen, Schulen oder Schießgewehre zur Verfügung stehen.
    Doch vieles im Leben hat zwei Seiten: Weil die Zukunft ungewiss ist, kommt es nicht selten vor, dass zum vereinbarten Zeitpunkt der Tilgung kein Geld da ist. Dann bleibt nur die Insolvenz. Und der Gläubiger schaut in die Röhre. Wenn Staaten zu lange über ihre Verhältnisse leben, dann droht der Staatsbankrott und Jahre bitterer Austerität mit Steuererhöhungen und/oder Ausgabenkürzungen. Denn die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Im schlimmsten Fall folgt einer Krise privater Schulden eine schwere Staatsschuldenkrise. So war es in den Jahren 2007 ff. Banken verliehen Geld an private Immobilienbesitzer ohne vom Schuldner ausreichend Eigenkapital zu verlangen. Als das schief ging (»Subprime-Krise«), mussten die Staaten, selbst schon über die Halskrause verschuldete, auch noch die Bankschulden übernehmen: Eine der schwersten Finanzkrisen seit der Weltwirtschaftskrise war da.

    Mehr Schulden als vor der Finanzkrise

    Das Trauma der Finanzkrise hat eine Zeitlang zu einer skeptischen Rhetorik des Schuldenmachens geführt. Deutschland hat sich sogar zu einer in der Verfassung verankerten Schuldenbremse verpflichtet. Schaut man freilich auf die Statistik des Internationalen Währungsfonds (IWF), so bleibt von der skeptischen Rhetorik nicht viel übrig: Zwischen 2007 und 2017 ist die Verschuldung der Industrieländer kontinuierlich von 70 auf fast 110 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen. Dramatisch sieht es auch bei den Unternehmen aus, deren Schulden weltweit zwischen 2006 und 2019 von 25 Billionen auf über 50 Billionen Dollar angeschwollen sind. Das Schuldenrisiko sei heute höher als während der Finanzkrise 2008 mahnte kürzlich die neue Direktorin des IWF, die Bulgarin Kristalina Georgiewa.

    Einer der Hauptgründe für die große private wie öffentliche Lust an der Verschuldung besteht darin, dass das Geld seit Jahren so billig zu haben ist wie selten. Wer könnte dieser Verführung widerstehen. Doch inzwischen dreht sich auch die ökonomische Rhetorik billigend in Richtung höherer Schulden. Ein besonders originelles Argument kommt von dem Wirtschaftswissenschaftler Carl Christian von Weizsäcker (FAS vom 15. September). Es geht, grob zusammengefasst, so: Weil die Menschen immer älter werden, müssen sie immer mehr Geld zurücklegen für die Zeit, in der sie kein Erwerbseinkommen mehr haben, aber immer noch große Konsumwünsche. Wenn man den Bürger aber zur Vorsorge verpflichtet (staatlich und privat), müsse er, so Weizsäcker, auch eine Möglichkeit haben, sein Geld sicher anzulegen. Ergo: Der Staat sollte bei Nullzinsen die Staatsverschuldung erhöhen, um auf diese Weise den Leuten Anlagemöglichkeiten (Staatsanleihen) zu bieten.

    Das ist ziemlich provokant, erst recht, wenn man weiß, dass Weizsäcker kein Keynesianer ist, dem der Staat nicht genug auf Pump leben kann. Die Politiker werden es gleichwohl gerne hören, dienen ihnen neue Schulden immer schon als Instrument zum Wählerfang. Dabei besteht auch Weizsäcker darauf, es mit der Verschuldung nicht zu übertreiben, Maß und Mitte einzuhalten.

    Wann sind die Schulden zu hoch?

    Damit sind wir bei der eigentlich kniffligen Frage: Wenn Staatsschulden weder gut noch schlecht sind, hätte man doch gerne harte Kriterien zur Unterscheidung guter von bösen Schulden. Auf der Suche nach solchen Kriterien kommt ein gerade erschienener Überblicksband gerade recht: »Vom Kredit zur Schuld«, herausgegeben von den Schweizer Ökonomen Christoph Schaltegger und Ivan Adamovich. Danach lassen sich eine Reihe von Kandidaten zur Trennung guter von bösen Schulden ausfindig machen:

    (1) Simpel, aber eindeutig wären klare Obergrenzen. Die Maastricht-Kriterien erlauben maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff kamen aufgrund historischer Untersuchungen zur Erkenntnis, dass eine Verschuldung von 90 Prozent des BIP eine kritische Grenze darstelle. Doch solche Zahlen bleiben ziemlich willkürlich mit der Folge, dass sich niemand daran hält. (2) Statt mit einer Obergrenze wird deshalb häufig inhaltlich argumentiert. Demnach wären staatliche Investitionen (Infrastruktur, Bildung) gut, staatlicher Konsum (Sozialausgaben) schädlich. Doch auch dieses Kriterium ist problematisch: Staaten können alles und jedes als »Investition« taufen. Und die Präferenzen der Bürger können sich ändern. Angesichts der heutigen Klimapanik sind breite Staatsstraßen für dicke SUVs alles andere als erwünschte »gute« Investitionen. (3) Es ließen sich utilitaristisch neue Schulden dann rechtfertigen, wenn der Nutzen für Wachstum und Wohlstand am Ende höher ist als die Kosten von Zins und Tilgung. Doch auch hier gilt, dass »Nutzen« eine zweifelhafte Größe ist und außerdem Gewinner und Verlierer ungleich verteilt sind, was ein dickes Gerechtigkeitsproblem mit sich bringt. (4) Carl Christian von Weizsäcker schließlich nimmt Preissignale zum Unterscheidungskriterium: Bei Null- oder Negativzinsen wäre eine höhere Neuverschuldung angezeigt. Steigt der Zins, ist dies ein Signal, die Verschuldung zurückzufahren.

    Das Zinskriterium ist raffiniert, weil flexibel. Indes: Wenn die Risikoprämien für Staatsanleihen steigen, könnte es schon zu spät sein. Das ist kein theoretischer, sondern ein empirischer Einwand, schaut man sich die Fiskalgeschichte Griechenlands oder Italiens in den letzten Jahrzehnten an. Letztlich, so das einigermaßen enttäuschende Resümee, gibt es im Vorhinein kein sicheres Kriterium, gute von schlechten Schulden zu unterscheiden. Dass Schulden schlechte Schulden sind, weiß man erst, wenn es zu spät ist. Ich bleibe skeptisch gegenüber den neuen Schuldenermunterern und halte Institutionen der disziplinierenden Selbstbindung (Schuldenbremse) weiterhin für unerlässlich. Wer das zu ängstlich findet, soll sich die überdurchschnittliche Frequenz großer Schuldenkrisen in der jüngeren Vergangenheit vor Augen führen: Der Preis des Pump-Kapitalismus ist (zu) hoch.

    Rainer Hank

  • 15. Oktober 2019
    Diktat der Populisten

    Extinction Rebellion

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wir sollten den Klimawandel nicht den Angstmachern überlassen

    »Extinction Rebellion« heißt der neueste Zweig der Protestbewegung gegen den Klimawandel. »Extinction Rebellion«, bedeutet: Aufstand gegen das Aussterben der Gattung. Die Protagonisten rufen zum »massenhaften zivilen Ungehorsam« auf. Mit Kinderwagen und Babytragetüchern an vorderster Protest-Front geht es – quasi in letzter Minute – um die Rettung der Menschheit vor ihrem Untergang. »Mich betrifft es ja nicht mehr, wenn die Welt untergeht«, sagt ein mitdemonstrierender Rentner: »Aber die Sorge für meine Nachkommen mache ich durch Aktivismus wett.«

    Das Ende der Welt ist nahe. Immer stärker ist dieser apokalyptische Ton in den Protesten der Klimaaktivisten zu vernehmen. Das zugrundeliegende Ängstigungs-Schema geht in etwa so: Es ist fünf vor Zwölf. Wenn in diesen letzten fünf Minuten nichts passiert, müssen unsere Kinder erleben, wie die Welt untergeht. Die Erde erwärmt sich, der Meeresspiegel hebt sich. Was danach kommt, erlebt kein Mensch mehr. Die Dramatik der Naherwartung des Untergangs rechtfertigt ungewöhnliche Maßnahmen zu seiner Vermeidung. »Wenn es irgendwann einen grün gefärbten Notstandsstaat geben sollte, dann, weil die Klimakrise so dramatisch geworden ist, dass sie anders nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden kann«, schreibt der Öko-Aktivist Bernd Ulrich: »Die Ökodiktatur verdankte sich dann nicht einem politischen Sieg der Ökologen, sondern deren Niederlagen und dem aggressiven Attentismus ihrer Kritiker, nicht aus ökologischer Ideologie, sondern ökologischen Unterlassungen.« Mit anderen Worten: Das drohende Endspiel der Geschichte rechtfertigt eine Notstandsverfassung, welche die demokratischen Grundrechte außer Kraft setzt (»Diktatur«). Schuld an diesen Maßnahmen tragen nicht etwa die ökologisch motivierten Putschisten, die diese Ermächtigungsgesetze erlassen werden, sondern alle übrigen Menschen bösen Willens, die verhindern, dass die Klimafreunde ihr Rettungsprogramm durchsetzen können.

    Naherwartung setzt den Normalzustand außer Kraft

    Gegen eine deutsche »Notstandsverfassung« sind wir in den sechziger Jahren auf die Straße gegangen, weil wir Sorge hatten, diese könne zum Einfallstor für die Wiederkehr des Faschismus werden. Auch die Kommunisten haben die Notwendigkeit eines Schreckensregimes stets den Anti-Kommunisten in die Schuhe geschoben, die dem Weg zum klassenlosen Paradies Steine in den Weg legen. Als klimafreundliche Ökodiktatur zur Verhinderung des Weltuntergangs findet eine solche Notstandsverfassung heute viele Unterstützer. Das ist nichts anderes als purer Populismus, vorgetragen von Leuten, deren Selbstverständnis ein elitäres, ganz und gar nicht populistisches ist.

    Wir sollten den Klimawandel nicht den Apokalyptikern überlassen. Sie handeln nach dem Motto, der gute Zwecke heilige am Ende die öko-diktatorischen Mittel, die der Gegner leider ihnen aufgezwungen habe. Naherwartung setzt den Normalzustand außer Kraft. Wir sollen unser gesamtes Leben ändern (essen, reisen, wohnen). Wer dazu nicht aus freien Stücken bereit ist, wird gezwungen. Schließlich, wie gesagt, ist es fünf vor zwölf.

    In Wirklichkeit nützen die Apokalyptiker dem Klima nicht, sie schaden ihm. Denn die kritische Frage an alle Weltuntergangspropheten lautet: Was ist, wenn das Ende der Welt nicht eintritt, zumindest nicht zu dem erwarteten Termin? Gewiss, bei den Aktivisten der Naherwartung ist dieser Fall gar nicht vorgesehen, sie glauben ja an den drohenden Weltuntergang. Bloß dass in der bisherigen Geschichte der Menschheit empirisch ihr Ende noch nicht vorgekommen ist. Das Stichwort dafür heißt »Parusie-Verzögerung«, eine Erfahrung des frühen Christentums. Die Jünger Jesu gingen davon aus, dass es nur noch eine kleine Weile dauere, bis der Erlöser wiederkehren werde, die Welt zu richten: »Noch in dieser Generation wird das alles geschehen«, heißt es im Neuen Testament: Mit dem Aufzug wilder Tiere und Monster, mit Feuer, Sturm und Wasser würde das Irdische vergehen. Alles Handeln sollte auf die Wiederkunft Christi ausgerichtet werden. Denn das Normale relativiert sich angesichts des nahenden Endes der Welt.

    Was passiert, wenn der Weltuntergang ausbleibt?

    Nachdem es dann anders gekommen ist, war der Katzenjammer groß. Die einen fielen vom Glauben ab. Die anderen waren resignativ genötigt, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. »Jesus verkündete das Reich Gottes – und gekommen ist die Kirche«, so lautete der bissige Satz des Modernisten-Theologen Alfred Loisy (1857 bis 1940); die Kirche hat ihn dafür exkommuniziert. Das erinnert an einen Sketch des britischen Comedians Peter Cook über »The End of the World«, ein Stück, welches als Durchbruch des satirischen Humors in den frühen sechziger Jahren im Londoner Westend gilt (kann man auf Youtube anhören): Peter hat sich mit einigen Getreuen auf der Spitze eines hohen Berges eigerichtet, weil ihn dies der einzig sichere Ort auf der Welt dünkt, wenn die apokalyptischen Stürme und Überschwemmungen erst einmal losgegangen sein werden. Als sein Freund ihn fragt, wann es denn nun soweit sei, gibt er der Welt gerade noch 30 Sekunden Zeit, in der sich die beiden mutmaßlich einzig Überlebenden darum kümmern, ob sie auch genügend Dosennahrung inklusive – »noch zehn Sekunden!« – einem Dosenöffner bei sich haben. Doch der Weltuntergang lässt auf sich warten, womöglich, wähnt Peter, habe er sich vertan, weil die Apokalypse gar nicht in »Greenwich Mean Time« WEZ vorhergesagt wurde. »Lass uns einfach morgen noch einmal darauf warten – same time«, so endet der Sketch.

    Die Satire zeigt: Apokalyptische Naherwartungen sind eine Spielform des Eskapismus. Die an die Wand gemalten Höllenhunde sollen die Menschen in »Panik« versetzen (Greta Thunberg), alles vorgetragen mit einem Schuss vorweggenommener Vergeblichkeit, um umso stärker Wehklage über die Verstocktheit der Menschheit üben zu können. Ausgespart wird die Frage, was zu tun ist, wenn der Weltuntergang nicht eingetreten sein wird. Angst machen reicht dann nicht mehr.

    Gibt es Wege, das Klima zu retten, die nicht gleich dem Vorwurf des Attentismus verfallen? Ja, die gibt es. Es sind die Mühen der Ebene, die der Philosoph Karl Popper als »Politik der kleinen Schritte« (piecemeal engineering) bezeichnet hat. Seine erste Voraussetzung heißt: Die Welt wird nicht untergehen. Ist angesichts der großen Bedrohung eine Politik der kleinen Schritte nicht zynisch? Nein. Nötig – und vielfach von Ökonomen vorgetragen – wäre vor allem ein institutionelles Arrangement, welches der Preisbildung auf den Märkten vertraut, welche ausgelöst wird durch politische CO2 -Mengenvorgaben. Das wäre eine marktkonforme, also nicht-dikatorische Lösung, ein Emissionshandel mit CO2–Zertifikaten. Er setzt auf Anreize zur Vermeidung von Treibhausgasen und kommt ohne apokalyptische Reiter aus. Neben solchen Anreizen braucht es parallel Maßnahmen der Anpassung der Welt an den unabwendbaren Klimawandel. Dazu gehört zum Beispiel: Dämme bauen oder bessere Klimaanlagen erfinden. Dass die Apokalyptiker solch adaptive Strategien nicht in den Blick bekommen, ist sträflich, aber verständlich: Sie erwarten ja den Untergang der Welt. An den Weltuntergang kann man sich nicht anpassen. Wir sollten aus ökologischen Gründen den Untergangspropheten das Monopol auf die Sorge um unsere Umwelt streitig machen.

    Rainer Hank

  • 08. Oktober 2019
    Kunst-Kapitalismus

    Salvator Mundi – vielleicht von Leonardo da Vinci

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie kann ein Gemälde 450 Millionen Dollar wert sein?

    Paris bereitet sich auf Leonardo da Vinci vor. Vom 24. Oktober an wird im Louvre eine Gesamtschau des »genialen Künstlers mit den vielen Talenten« zu sehen sein, wie es in der Werbung dafür heißt.

    Doch der teuerste Leonardo, wird in der Ausstellung nicht zu bewundern sein. Nein, es handelt sich nicht um die Mona Lisa, – die ist ja schon im Louvre. Es dreht sich um ein Gemälde mit dem Titel »Salvator Mundi«, welches Jesus mit verklärtem Blick als Erlöser der Welt und Herrscher über den Kosmos zeigt. »Salvator Mundi« ist nicht nur der teuerste Leonardo, es ist sogar das weltweit teuerste Gemälde überhaupt, für das zuletzt im November 2017 der schwindelerregende Preis von 450 Millionen Dollar gezahlt wurde – obwohl die Gelehrten streiten, ob es überhaupt von Leonardo stammt. Doch niemand weiß genau, wo sich das Gemälde derzeit aufhält.

    Kann ein einziges Gemälde 450 Millionen Dollar wert sein, dessen Provenienz noch dazu zweifelhaft ist? Auf dem Kunstmarkt herrschen eben eigene Gesetze, heißt es gerne. Ich will hier eine entgegensetzte These vertreten: Der Kunstmarkt ist quasi die Urform der Marktwirtschaft.
    Für alle, die die Geschichte von »Salvator Mundi« nicht mitbekommen haben – eine Geschichte, die das Zeug zum großen Thriller oder zum Märchen aus Tausendundeiner Nacht hat – hier eine Zusammenfassung: Alles beginnt am 5. März 2008, als dem Oxford-Kunsthistoriker und Leonardo-Spezialisten Martin Kemp das Gemälde eines bislang unbedeutenden alter Meisters gezeigt wird. Kemp ist elektrisiert, sagt später, er habe sich gefühlt »wie in der Gegenwart der Mona Lisa«, und ist sich alsbald sicher, dass es sich um ein Original von Leonardo handelt.

    Schillernde Kunstberater und gierige Oligarchen

    Die »Entdeckung« eines Leonardos wirkt als Ausweitung des Angebots auf einem starren Markt. Das gierige Geld der Reichen braucht sozusagen Frischfleisch. Postwendend ging der Preis durch die Decke. Im Jahr 1956 war »Salvator Mundi« noch für 45 britische Pfund zu haben. Doch schon im Jahr 2013 musste ein schillernder Kunstberater und Händler in Genf dafür 80 Millionen auf den Tisch legen, was freilich nicht zu seinem Schaden war, denn er drehte es alsbald einem russischen Oligarchen und Sammler mit einem kleinen Aufpreis für 127,5 Millionen Dollar an. Nicht schlecht: Ein Gewinn von 50 Millionen Dollar mit einem einzigen Produkt und ohne viel Arbeit. Seit der Oligarch von dieser märchenhaften Marge seines Beraters Wind bekommen hat, sind die Herren nicht mehr so gut befreundet.

    Doch auch der Oligarch brauchte sich nicht zu beklagen, als er vier Jahre später beschloss, das Werk bei Christie’s versteigern zu lassen. Ein saudischer Prinz war bereit, die schon genannte Summe von 450 Millionen Dollar zu bezahlen. Danach verwischen sich die Spuren: Heute soll es im Besitz des Kronprinzen von Abu Dhabi sein, der es im letzten Herbst feierlich in seinem dortigen Louvre-Ableger präsentieren wollte. Dazu ist es nicht gekommen.

    Gesehen hat das Bild schon lange niemand mehr. Es soll sich in einem sogenannten Freihafen in Genf befinden. Diese Zollfreilager sind aufregende Paläste des globalen Kunst-Kapitalismus, für den gemeinen Mann unzugängliche Museen der Super-Reichen. Ursprünglich waren sie für den Transithandel gedacht. Heute sind es Lagerhäuser, in denen Güter aufbewahrt werden, ohne dass Zollgebühren oder Mehrwertsteuern bezahlt werden müssen. Oft werden Kunstwerke dort jahrelang eingelagert, wobei sie mehrmals den Besitzer wechseln. Wie viele hunderte Millionen Dollar an Wert sich da summieren, weiß niemand.

    Das Kunstwerkt hat sich heute zu einer Art Immobilie gewandelt. Es kann im Lager bleiben, mehrfach den Besitzer wechseln, ohne dass Zölle oder Steuern anfallen. Das Geschäft ist anonym und intransparent: es genügt, wenn die Abgesandten des Deals – meist Anwälte – sich einigen. Es gibt ernste Überlegungen, den Kunstmarkt wie den Aktienmarkt zu organisieren: Dann könnte man Leonardos »Salvator Mundi« sogar in tausend virtuelle Teile – sogenannte Token – stückeln: und man wäre schon mit 450000 Dollar ein kleiner Mitbesitzer. Das beweist: Das Kunstwerkt ist inzwischen ein reinrassiges kapitalistisches Handelsgut.

    Der Kunstmarkt als Urform der Marktwirtschaft

    Gibt es denn neben dem Marktwert nicht auch noch einen immateriellen Wert eines Bildes? So argumentieren jene Kunstrichter, deren normatives Wertungsmonopol der schnöde Tauschwert konterkariert. Daran ist zumindest richtig, dass das Kunstwerk ein Janusgesicht hat, vergleichbar einer teuren Flasche Wein, einem Unternehmen, einem Batzen Gold oder eben einer Immobilie. All diese Güterklassen dienen neben der Geldanlage auch noch einem weiteren Zweck: Wein kann man »liquidieren«, wonach freilich der ganze schöne Bordeaux nichts mehr wert ist. Gold lässt sich als Diadem tragen. In einer Immobilie kann man wohnen, in einer Fabrik arbeiten. Überall gibt es Shareholder, die Eigentümer, und Stakeholder, die mit den Wertgegenständen noch anderes im Sinn haben, was Raum für vielfältige Konflikte eröffnet.
    Mehr noch: Dass aus dem Kunstwerk ein erzkapitalistisches Handelsgut geworden ist, heißt nicht, dass sein künstlerischer Wert keine Rolle spielen würde. Im Gegenteil: Das Immaterielle, die Aura und der anhaltende Ruhm Leonardos begründen ja gerade den stolzen Preis. Eine einfache Holzplatte aus der Renaissance, bemalt mit bunten, Farben wäre uninteressant. Niemand würde aufwendige, schwer bewachte Läger dafür bauen. Kein Oligarch, kein Scheich würde sich je dafür interessieren. Als Handelsgut ist das Kunstwerk freilich säkularisiert: Man darf vermuten, dass dem Kronprinzen von Abu Dhabi der religiöse Sinn der Christus-Ikone gleichgültig ist. Er hätte auch einen indischen Buddha erstanden, würden der Markt und er danach gerade gieren.

    Inzwischen sollte meine These plausibel geworden sein, dass der Kunstmarkt die Urform der der Marktwirtschaft darstellt – ein »unregulierter Dschungel« (Martin Kemp) eben. Käufer und Verkäufer auf einem Marktplatz sind niemandem Rechenschaft darüber schuldig, warum sie kaufen oder verkaufen. Sie müssen dies auch niemandem »ad hoc« annoncieren. Zölle und Steuern sind Übergriffe des Staates auf die Werte der Eigentümer, die sich diesen Übergriffen zu entziehen suchen. Preise sind das, was jemand zu zahlen bereit ist, unabhängig davon, wie hoch oder niedrig irgendwelche Experten den Wert bemessen. Renditen ergeben sich aus der Differenz zwischen Ankauf und Verkauf: Wenn es jemandem glückt, mit einem Produkt an einem Tag 50 Millionen Dollar zu machen, hat er eben Glück gehabt. Märkte per se sind weder moralisch noch unmoralisch. Gerade deswegen muss man sie zuweilen regulieren.

    Am Ende verflüchtigt sich übrigens auch noch der Gegensatz zwischen die Kunst und Wirtschaft. Fiktiv und real sind nämlich keine hilfreichen Unterscheidungskategorien. Der Münsteraner Ökonom Holger Bonus hat 1990 ein schönes Buch über »das Unwirkliche in der Ökonomie« geschrieben. »Was für einen Rembrandt oder einen Picasso gilt, trifft auch für erstklassige Immobilien und sogar für so handfeste Träger von Wert wie Geld, Gold und Wertpapiere zu. Der verkörperte Wert kann sich jäh daraus verflüchtigen, ohne dass sich physisch irgendetwas verändert hätte.« Kunst wäre dann nicht der Spezialfall des Marktes, sondern ihr Modell.

    Rainer Hank

  • 02. Oktober 2019
    Volksverhexer

    Étienne de la Boétie (1530 bis 1563)

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum sich Populisten und Demokraten vertragen

    Wohin treibt die Demokratie? Ganz offenkundig bietet sie keinen Schutz gegen den Populismus. Im Gegenteil: Die Stimmen der Mehrheit werden zum willfährigen Instrument der Manipulation im Interesse populistischer Führergestalten. Während die Eliten seit Jahren analysieren, warum der Populismus schädlich ist, zeigt das Volk sich von den Argumenten der Eliten-Intelligenz unbeeindruckt und bleibt loyal zu den populistischen Führern, die durch sie an die Macht gekommen sind.

    Warum begeben sich Wähler freiwillig in die Knechtschaft von Volks-Tribunen? Warum imprägnieren sie sich gegen die Argumente der Eliten? Ja, mehr noch, warum richtet sich ihre Wut eher gegen die Eliten, von denen sie sich unterdrück fühlen, als gegen ihre Herrscher, die in Wirklichkeit nicht ihr Bestes wollen? Per Zufall fiel mir kürzlich ein kleines Büchlein in die Hand, das den kühnen Titel trägt »Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft«. Veröffentlicht wurde es im Jahr 1574 von einem Mann aus dem Südwesten Frankreichs namens Etienne de la Boétie. Dazu später mehr.

    Monopolisten der Macht – demokratisch gewählt

    Zunächst zur aktuellen polit-ökonomischen Situation: Seit geraumem lässt sich in vielen Ländern eine Monopolisierung der Macht beobachten durch einen Führer an der Spitze und unter Rückgriff auf frühere autoritäre Traditionen der Staatsführung. In Wladimir Putin lebt die zaristische Tradition, in Recep Erdogan das Sultanat wieder auf. Donald Trump will America First, Boris Johnson will das britische Imperium zurück haben. Es handelt sich allemal um Männer an der Staatsspitze (nehmen wir Victor Orban oder Jaroslav Kaczynski hinzu), die sich offen zur Lust an der Macht bekennen und darin ganz offensichtlich nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Untergebenen gefallen. Erdogan, Orban & Co. verwandeln offene Demokratien in protektionistische Autokratien. Sie beschneiden Freiheiten und verhindern Wettbewerb. Oder anders gesagt: Trump & Co. wollen ihr Land wie eine Firma führen: autoritär als CEO.

    Alle diese Männer sind demokratisch an die Macht gekommen. Ohne die Loyalität ihrer Völker wären sie nichts. Mehr noch: Diese populistischen Führer nutzen die ihnen demokratisch verliehene Macht zum Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit. Sie verändern die »Balance of Power« zu ihren Gunsten: Judikative, Medien, Wissenschaft oder Wirtschaft müssen das Machtmonopol des Anführers akzeptieren oder es geht ihnen an den Kragen. All das vollzieht sich schleichend, innerhalb der bestehenden Systeme, ohne dass ein Putsch oder gar eine Revolution nötig wären. Systemveränderung verläuft systemimmanent.

    Anschaulich machen lässt sich der Prozess der Monopolisierung der Macht besonders gut an Victor Orban in Ungarn. Das geltende Wahlsystem dort hat es möglich gemacht, dass seine Fidesz-Partei mit nur 53 Prozent der Wählerstimmen zwei Drittel der Sitze im Parlament innehat. Mit dieser starken Verankerung der Macht in der Legislative gelang es Orban, trickreich, die Rechtsinstitutionen des Landes zu verändern: Dazu mussten keine unliebsamen Richter entmachtet oder Gerichtshöfe neu geschaffen werden. Es genügte schon, die Zahl der Richter am Verfassungsgericht von elf auf fünfzehn zu erhöhen und die vier neuen Stellen mit Fidesz-Leuten zu besetzten. Auf ähnliche Weise werden Medien gleichgeschaltet, Universitäten und Wissenschaftsinstitutionen aus dem Land vertrieben. Aber das Volk bleibt bei der Stange.

    Ungarn ist nur ein Beispiel für den zentralisierenden Mechanismus populistischer Machtentfaltung. Es braucht dafür kein Einparteiensystem, wie die Vereinigten Staaten zeigen. Es funktioniert in alten Demokratien (Amerika) genauso wie in jungen Demokratien (Türkei, Russland). Allerdings entfalten die rechtsstaatlichen Institutionen in den alten Demokratien eine größere Resilienz: Den High Court anzutasten wagt der Brite Boris Johnson – bislang – nicht. Schmollend unterwirft er sich dem Spruch. Der Versuch, mit der öffentlichen Meinung gegen das Parlament zu regieren, ist vorerst gescheitert.

    Warum begibt man sich freiwillig in Knechtschaft?

    Das alles führt direkt zu Etienne de la Boétie, den Autor des späten 16. Jahrhunderts. Wir kennen ihn vor allem durch den französischen Moralisten Michel de Montaigne, der von Boéties Abhandlung über die »freiwillige Knechtschaft« so begeistert war, dass er beschloss, den Verfasser kennen lernen zu wollen. Daraus ergab sich eine innige Freundschaft bis zum frühen Tod Boéties. Lange wurde spekuliert, ob die »Abhandlung« in Wirklichkeit womöglich von Montaigne selbst stammt. Inzwischen wird diese Hypothese seriös nicht mehr vertreten. De la Boétie. der kühne Autor, schrieb den Essay als Sechzehnjähriger.

    »Das Volk selbst schlägt sich in Fesseln, schneidet sich die Kehle ab, gibt die Freiheit für das Joch dahin«, heißt es bei de la Boétie. Wie verhext muss das Volk sein, das es den Tyrannen sogar noch bewundert, wenn er nicht mehr lebt: Neros Tod wurde vom Volk betrauert. Als Stalin starb, flossen Tränen. Das alles ist unfassbar, weil die Freiheit doch eigentlich das natürlichste und höchste Gut sein müsste, etwas, was niemand ohne Zwang gegen eine Selbstversklavung eintauschen würde, findet de la Boétie. Woher kommt das »Gift der Knechtschaft«. Demokratische Herrscher, schreibt de la Boétie, seien nicht besser als gewaltsame Usurpatoren oder erbrechtlich abgesicherte Monarchen. Alle erliegen sie dem »Reiz der Größe«, wollen die Macht, einmal errungen, nicht mehr abgeben. Auch der demokratische Herrscher trachtet danach, die Macht, die ihm vom Volk verliehen wurde, anschließende gegen dieses zu wenden.

    Doch die »Lockpfeife der Knechtschaft« – Boétie hat lauter solch schöne Formulierungen – ist eben nicht die Gewalt, sondern die Verführung: Es ist sogar eine besonders geschickte Verführung, mit der es dem demokratischen Herrscher gelingt, sich die Abhängigkeit, ja Liebe seiner Untertanen zu sichern, wofür sie sogar bereit sind, ihre Freiheit zu opfern. Mittel der Verführung sind »Spiele und Possen«, vor allem aber vom Herrscher verteilte materielle Wohltaten: »und so betrogen sie den Pöbel, dessen Herr immer der Bauch ist«. In heutiger Übersetzung könnte man vielleicht sagen: Es ist der Wohlfahrtsstaat, der den Populisten entgegenkommt, wenn sie sich ihre Macht sichern wollen. Sie teilen »Korn, Wein und Geld« aus, schreibt Boétie – und erkaufen sich damit die Wiederwahl.
    In all dem zeigt sich die erstaunliche Modernität des französischen Autors. Die Konsequenz ist beunruhigend: Der Populismus ist kein Betriebsunfall der Demokratie, sondern mit ihrem Wesen bestens vereinbar. Demokratischer Populismus ist der größte Feind der Rechtsstaatlichkeit, gerade weil er sich für den Umsturz keiner gewaltsamen Putschisten bedienen muss.

    Demokratischen Populismus wird man nur ganz schwer wieder los. Etienne de la Boétie indes ist am Ende kein Fatalist. Er glaubt nicht, dass die Menschen dauerhaft dazu bereit sind, sich ihre Freiheitsrechte gegen »Brot und Spiele« abkaufen zu lassen. Sein Freiheits-Imperativ lautet: Hört auf, den Populisten zu gehorchen. Kassiert eure freiwillig gegebene Einwilligung, Sklave der Volkstribunen zu sein. »Stillschweigende Verweigerung«, war die Wendung de la Boéties. Im 20. Jahrhundert hätte man das »zivilen Ungehorsam« genannt.

    Rainer Hank