Rainer Hank als Illustration

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  • 19. August 2025
    Nahbarkeit

    Sie hieß Mary Ann Foto CSU-Fraktion im bayerischen Landtag

    Politiker zum Anfassen sind eine Gefahr für die Demokratie

    Politiker sind auch nur Menschen. Schon, aber ist das eine Überraschung? Fast hat man den Eindruck, Politiker seien der Meinung, sie müssten das den Bürgern täglich einhämmern. Ein Hang und Zwang zur »Nahbarkeit« hat um sich gegriffen, der befremdlich ist. Nahbarkeit als Tugend? Politiker zum Anfassen sind peinlich.
    Die Belege gehen quer durch die Parteien. Beginnen wir mit Robert Habeck (Die Grünen), dem Meister der Nahbarkeit. Bei der Bundestagswahl 2025 trat Habeck unter dem Motto an »Kanzler werden, Mensch bleiben«. Gerade so, als ob es da eine Gefahr gäbe, das Amt könne ihn, Habeck, entmenschlichen. Damit es der Letzte kapiert, bekräftigt Habeck: »Meine Arbeit, ja meine Vorstellung von Politik ist, die Distanz zwischen Menschen, die Distanz zwischen den Typen, die man aus dem Fernsehen kennt, und denjenigen, die von der politischen Entscheidung betroffen sind, zu verringern, nahbar zu sein.« Habeck, so will es Habeck, sollen wir also nicht nur aus dem Fernsehen kennen, sondern auch aus unserer alten WG-Küche.

    Zu Habeck gesellt sich die frühere Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang. Sie wurde von Habeck aus dem Amt gedrängt (vermutlich eine Spielart der Nahbarkeit), um anschließend den Rückzug ins Privatleben als eine Art von Menschwerdung zu vermarkten – und den Zustand des Politikerseins demgegenüber als Entfremdung zu kontrastieren. Lang kritisiert den Zwang zu einer technizistischen und unaufrichtigen Sprache im Amt: »Und dann fängt man an, Mist für Gold zu verkaufen und so einen Unsinn zu reden, wie ich es da geredet habe.« Hier geniere sich jemand für das eigene Handeln und Reden – und lasse den Rücktritt wie einen Befreiungsschlag wirken. So analysieren Astrid Séville und Julian Müller, zwei Sozialwissenschaftler, im neuesten Heft der Zeitschrift »Mittelweg«.

    Nehmen wir noch Kevin Kühnert (SPD) und Christian Lindner (FDP) hinzu – um dann beim ungekrönten König der Nahbarkeit zu landen. Kevin Kühnert gab zu Protokoll, er wolle sich dem Hass nicht mehr weiter aussetzen, den das politische Amt mit sich bringe. Zuletzt ist er allein unterwegs auf einer tausend Kilometer langen Alpenwanderung, die ihn vom Neusiedler zum Bodensee führt. »Alles wird ein bisschen besser, wenn Berge in der Nähe sind«, sagt er: Damit auch wir das mitbekommen, lässt er uns gelegentlich auf Instagram teilhaben. Nahbarkeit, nah bei den Menschen (Kurt Beck), bleibt ihm wichtig, zumindest im digitalen Modus sogenannter sozialer Netzwerke. Nicht anders als Christian Lindner, der uns am neuen Baby- und Vaterglück teilhaben lässt (»Familie ist das Wichtigste; das baut auf«), jedenfalls sofern damit nicht satirisch umgegangen wird wie in der Titanic: dann schaltet er seine Anwälte ein.

    Der Döner des Monats

    Flaggschiff der Nah-Menschlichkeit ist Markus Söder, der uns inzwischen so nah ist, dass wir fast schon vergessen haben, dass er im Nebenamt auch noch bayerischer Ministerpräsident ist. Söder beißt in jede Bratwurst, jedenfalls so sich daraus ein Reel, View oder Like machen lässt (1,5 Millionen Follower). Wir wissen von ihm, dass er sich für günstigere Döner einsetzt und dass er Seemannslieder tonsicher schmettern kann (»Sie hieß Mary Ann«). Wofür er politisch steht, ist weniger wichtig, ändert sich ohnehin von Monat zu Monat. Dafür kriegt er als Held der sozialen Netzwerke vergangene Woche sogar eine ziemlich unkritische Titelgeschichte im »Spiegel«.

    Die schon erwähnte Zeitschrift »Mittelweg« – sie wird redaktionell verantwortet von Jens Bisky im Hamburger Institut für Sozialforschung – behandelt das Thema »Nahbarkeit« jetzt in einem sehr lesenswerten Heft und erst einmal ohne Wertung unter der Überschrift »Amtsmenschen«. Heute als bürokratisch und entfremdungsanfällig beäugt, war das einem verliehene Amt in Politik, Kirche oder Wirtschaft einmal als Schutz der Menschlichkeit und Person gedacht. Der Amtsinhaber hat eine Rolle zu leben, die seine Autorität begründet und Respekt von den Menschen (nicht nur den Untergebenen) entgegengebracht bekommt. Klassisch kann man das bei Max Weber (»Politik als Beruf«) nachlesen. Dort schreibt der Soziologe, Politik sei »ein starkes und langsames Bohren von Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich«. »Augenmaß« setzt für Weber die Fähigkeit »der Distanz zu den Dingen und Menschen« voraus.

    Distanzfähigkeit anstatt Distanzlosigkeit wäre somit vom Politiker gefordert. Distanzlosigkeit hält Weber für »eine der Todsünden jedes Politikers«. Amtsmenschen haben die vom Amt gegebenen Erwartungen zu erfüllen; das ist das Gegenteil der heutzutage vorgeschriebenen Authentizitätserwartungen. Distanz ist Voraussetzung des »Amtscharismas«. Dieses ist gerade nicht eine besondere, Instagram taugliche Ausstrahlung (mit oder ohne Bratwurst), sondern der vom Amt dem Politiker verliehene »Glaube an die spezifische Begnadung einer sozialen Institution als solcher«. Der Begriff »Begnadung« verweist auf die religiösen Wurzeln des Amtscharismas, zuweilen in Kreisen von Kirchenleuten verspottet mit dem Diktum: »Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand.«

    Das Amtscharisma als Ausweg

    Lässt man sich auf eine solche Ethik der Distanz ein, so flackert der Verdacht auf, der heutige Zwang zur Nahbarkeit, gar zum »Anfassen«, sei nicht etwa ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie, sondern sein Gegenteil: blanker Populismus. Politiker wollen keine Respektspersonen sein, sondern Kumpel. Da ist der Weg zur populistischen Kumpanei nicht mehr weit. Der »Mittelweg« zitiert eine Bemerkung des Politikwissenschaftlers (und großen Max Weber-Forschers) Wilhelm Hennis, wonach der zentrale Begriff der repräsentativen Demokratie das Amt sei. Wer das Amt nur noch als bürokratische Entfremdung verachtet, der schädigt die Demokratie, statt sie zu stärken, was er durch sein Anfassbarkeitspathos zu erreichen hofft.

    Man könnte das »Amtscharisma« jene »unsichtbaren Institutionen« zugesellen, die zu Unrecht in Verruf geraten sind und gerade deshalb für die von allen beklagte Krise der Demokratie verantwortlich sind. Der Begriff »unsichtbare Institutionen« stammt von dem französischen Historiker Pierre Rosanvallon; sein neuestes Buch gibt es seit kurzen ebenfalls im Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Rosanvallon nennt als unsichtbare Institutionen das Vertrauen, die Autorität und die Legitimität. Aus ökonomischer Sicht müsste man den Markt hinzufügen. Sie alle tragen – neben den sichtbaren Institutionen der Gewaltenteilung – zu Integration, Kooperation und demokratischer Regulierung von Gesellschaften bei. Wer die Demokratie stärken will, müsste Distanzlosigkeit gerade vermeiden, statt sie populistisch zu zelebrieren.

    Rainer Hank