Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
25. Juni 2025Vom New Deal zum Real Deal
08. Juni 2025Geld her!
27. Mai 2025Wer stoppt Trump?
10. Mai 2025Ein Herz aus Stammzellen
14. April 2025Lauter Opportunisten
07. April 2025Die Ordnung der Liebe
29. März 2025Streicht das Elterngeld
17. März 2025Der Kündigungsagent
17. März 2025Hart arbeiten, früh aufstehen
04. März 2025Kriegswirtschaft
20. November 2019
Warum wir die Milliardäre brauchenUnd warum mit eine Obergrenze für große Vermögen alle ärmer wären
Immer im November veröffentlich die Schweizer UBS-Bank ihren Milliardärsbericht. Nach den jetzt vorgelegten Daten ist die Zahl der Superreichen im vergangenen Jahr leicht zurückgegangen: Weltweit gibt es genau 2101 Menschen, die mehr als eine Milliarde Dollar ihr eigen nennen (F.A.Z. vom 9. November). Im Jahr zuvor zählte man noch 2158 Schwerreiche. Ihr Vermögen addiert sich heute auf unvorstellbare 8,5 Billionen Dollar. Wäre es gleich verteilt, entfielen auf jeden Milliardär gut vier Milliarden Dollar. Aber so ist es natürlich nicht: Auch unter den Milliardären gibt es große Ungleichheiten, eine Art Gerechtigkeitslücke im Club der »Happy Few«. Microsoft-Gründer Bill Gates, nach Amazon-Gründer Jeff Bezos der zweitreichste Mann der Welt, hat ein geschätztes Vermögen von 109 Milliarden Dollar – ein großer Abstand zu den unbekannten Milliardären, die mit einer oder zwei Milliarden auskommen müssen.
Dass die Reichsten der Reichen 2018 insgesamt weniger geworden sind, wird freilich die Kritiker großer Vermögen ebenso wenig besänftigen wie der Umstand, dass die Zahl der Milliardärinnen inzwischen rascher wächst als jene der milliardenschweren Männer. Denn wahr ist auch: Seit Jahren wächst das Vermögen der Superreichen deutlich rascher als der globale Wohlstand. Kein Wunder, dass die Kritik an der Plutokratie immer populärer wird – von links bis rechts. In den Vereinigten Staaten, wo man Reichtum traditionell eher als Ausweis von Leistung bewundert, erhält die Demokratin Elizabeth Warren viel Unterstützung für ihren Vorschlag, den Reichen jährlich sechs Prozent ihres Vermögens abzuknöpfen (zusätzlich gibt es selbstverständlich eine progressive Einkommensteuer). Radikaler noch ist der Links-Demokrat Bernie Sanders, der findet, Milliardäre sollte es eigentlich gar nicht geben – »jeder Superreiche ist ein Beleg für Politikversagen«. Und in Großbritannien tritt Jeremy Corbyn im Dezember zur Wahl mit einem sozialistischen Programm an, das sich wenig von Sanders unterscheidet. Was ist nur aus der Politik im angelsächsischen Kapitalismus geworden!
Die Deutschen sind weniger milliardärskritisch
Im Vergleich zu Großbritannien und Amerika geht es hierzulande geradezu bescheiden zu, was womöglich auch damit zusammenhängt, dass sich nicht nur SPD, sondern auch die »Linke« nach dem Rückzug von Sahra Wagenknecht in einem Prozess stiller Selbstfindung befinden, der – vorerst – keine Zeit lässt für Reichen-Bashing und Antikapitalismus. Okay: Die SPD hat durchgesetzt, dass die Reichen noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag als Strafe für ihren Reichtum den Soli zahlen müssen. Zudem hat man in Berlin den Immobilienbesitzern einen Mietendeckel verpasst, der einer Teilenteignung gleichkommt. Und auf die Managergehälter kommt künftig auch ein Deckel zulässiger Maximalvergütung. Doch im Vergleich mit den Vereinigten Staaten, wo neben einer hohen Vermögenssteuer Vorschläge für Einkommensteuertarife von bis zu 90 Prozent im Umlauf sind, könnte man meinen, wir leben hier im Land der fast unbegrenzten Bereicherungsmöglichkeiten.
Immer vernehmlicher indessen artikuliert sich auch im deutschsprachigen Raum die moralische und ökonomische Kritik am Milliardärsdasein. Christian Neuhäuser, ein Professor für praktische Philosophie an der TU Dortmund, schreibt in seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch »Reichtum als moralisches Problem«, er wisse nicht, warum Menschen, die bereits reicher sind, als irgendeiner nötig hat, ihre Mittel verdoppeln, um Dinge zu kaufen, die außer Zurschaustellung ihres Reichtums nur wenig oder gar keine Freuden schaffen. Man sieht: Hier wird generell die Legitimation großer Vermögen infrage gestellt. Als Kriterien dienen der Bedarf – wer braucht schon so viel Geld! – und der auf null zurückgehende Grenznutzen zusätzlichen Reichtums – wir sollen uns Dagobert Duck als einen unglücklichen Menschen vorstellen.
Konsequenterweise plädiert Neuhäuser für eine »Obergrenze« des Vermögens, die er ziemlich weit unten, nämlich schon bei zwei Millionen Euro ansetzt: »Auf alles darüber liegende Einkommen fiele dann eine Steuer von hundert Prozent an.« Zu Deutsch: Alles privat erworbene Einkommen über zwei Millionen fällt an den Staat.
Ordnungspolitik ist die beste Entmachtung von Reichtum
Ähnlich radikal geht Martin Schürtz vor, ein Ökonom und Psychotherapeut, der bei der österreichischen Nationalbank in Wien arbeitet. In seinem gerade erschienenen Buch »Überreichtum« schlägt auch er einen »Maximalwert« vor, um die »zerstörerischen Folgen exzessiven Reichtums« einzudämmen. Dass solche Obergrenzen willkürlich sind, ficht Schürtz nicht an: Es will sie demokratisch aushandeln lassen, was per se Legitimation genug sei. Dass Reichtum legal als Eigentum erworben wurde, genügt Schürtz als Rechtfertigungskriterium nicht. Die Reichen sollen sich vor der demokratisch verfassten Gesellschaft verantworten und Rechenschaft geben über die Verwendung ihres Geldes. Das sei nötig, um Akzeptanz ihrer gesellschaftlichen Besserstellung zu erhalten.
Das alles ist starker Tobak. Gleichwohl sollte man sich auf die Argumentation einlassen und einmal nach Reichtumserwerb und Reichtumsverwendung bei den Milliardären fragen. Das hat dankenswerterweise das britische Magazin »Economist« unter Verwendung von Zahlen des amerikanischen Journals »Forbes« in der vergangenen Woche getan. Das Ergebnis: Dreiviertel des Wohlstands der Milliardäre sei »fair« erworben. Unter »unfair« versteht der Economist Gewinne, die erworben wurden auf Märkten, auf denen wenig oder kein Wettbewerb herrscht. Was nämlich von den Reichtums-Bashern gerne übersehen wird: Nichts erschwert das Reichwerden in einer gut funktionierenden Marktwirtschaft so sehr wie der Wettbewerb. Dass Konkurrenten das Gleiche besser oder billiger machen, nagt gewaltig an der Rendite. Statt Obergrenzen sollte die Politik also den Wettbewerb befeuern, Oligopole und Monopole zerschlagen und die Hand von Subventionen lassen. So etwas nennt man auf altdeutsch »Ordnungspolitik«.
Daneben bleibt jene überwältigende Mehrheit der Milliardäre, die ihren Reichtums »fair« erworben haben: Dazu braucht man nicht nur an Bill Gates oder Elon Musk zu denken, sondern an all jene einfallsreichen Entrepreneure, die mit guten Ideen dazu beitragen, dass unser aller Reichtum wächst. Das Gewinnstreben bleibt ein Trieb der menschlichen Natur, von dem alle profitieren. Den Milliardären das Handwerk zu legen, würde die Wirtschaft weniger dynamisch machen und unseren Wohlstand schmälern. Dass in den Vereinigten Staaten, dem Land mit dem höchsten Prokopfeinkommen der Welt, auch die meisten Milliardäre leben, sollte zu denken geben.
John Rawls, ein eher linker Moralphilosoph, hat in seiner »Theorie der Gerechtigkeit« (1971) ein plausibles Erlaubniskriterium für Reichtum aufgestellt. Es besagt, dass die besseren Einkommensaussichten der Reichen dann gerechtfertigt sind, wenn sie auch zur Verbesserung der Lage der am wenigsten begünstigtsten Mitglieder der Gesellschaft beitragen. Wir Ärmeren brauchen die Milliardäre aus eigenem Interesse. Fazit: Mit Rawls kommen wir moralphilosophisch besser voran als mit den Philosophen der Obergrenze.
P,S, Im Deutschlandfunk (»Sein und Streit«) habe ich mit Martin Schürz zum Thema kontrovers diskutiert. Hier kann man das nachören und nachlesen.
Rainer Hank
13. November 2019
Es geht um die WurstWarum die Metzgereien in Deutschland sterben
Ich esse gerne Wurst. Dies zuzugeben stößt hierzulande beinahe schon an die Grenzen des Sagbaren. Aber das macht mir nichts: Wurst schmeckt nicht nur gut, sondern ist auch ein Kulturgut. Deutschland ist nämlich, frei nach Heinrich Heine, berühmt für seine Universitäten und für seine Würste, von denen es nach amtlichen Schätzungen 1500 Sorten gibt, ein Rekord, der allenfalls in Österreich übertroffen wird, während es sonst weltweit mau aussieht. Doch schon bei den Universitäten liegt inzwischen hierzulande einiges im Argen. Deutlich problematischer noch sieht es bei der Wurst aus.
Das erste Alarmzeichen war ein Aushang in der Metzgerei unseres Vertrauen (»Qualität seit 1851«). »Sehr verehrte Kunden«, stand da geschrieben: »Seit einem Jahr arbeiten wir mit unterbesetztem Personal. Alle Versuche, unser Team zu verstärken, sind gescheitert.« Deshalb sehe man sich nun gezwungen, »die Öffnungszeiten der Kapazität anzupassen«. Im Klartext heißt das: Geöffnet wird erst um 9 Uhr und um 17 Uhr ist Ladenschluss, samstags sogar schon um 13 Uhr. Schön ist das nicht – für die Umsatzerwartung der Metzgerei ebenso wenig wie für alle Menschen, die gerade in diesen Kernzeiten arbeiten und deshalb, nur so als Beispiel, auf die wunderbare Gelbwurst unseres Metzgers verzichten müssen. Man habe wirklich alles versucht, erzählt die Metzgersfrau, viele Anzeigen geschaltet, übertarifliche Bezahlung angeboten – schließlich lebt man in Frankfurt nicht günstig – und beim Arbeitsamt um Hilfe gerufen, bereit, auch Ungelernte zu nehmen: Doch die Arbeitslosen seien nur vorbei gekommen, um Sanktionen zu entgehen. An einem sicheren Job waren sie offenkundig weniger interessiert.
Ein Einzelfall? Ganz gewiss nicht, worüber ein Anruf beim Bundesverband des Fleischerhandwerks Aufschluss gibt. In den vergangenen dreißig Jahren hat sich die Zahl der Metzgereien in Deutschland von 27000 auf 12000 mehr als halbiert. Relativ gut versorgt sind die Menschen erwartungsgemäß in Bayern, wo es für hunderttausend Einwohner 37 Fleischereien gibt. Auch Baden-Württemberg kann mithalten (29 Läden). Hier in Hessen liegen wir mit 21 Metzgereien auf hunderttausend Menschen im Mittelfeld. Ganz weit weg hängen die Würste in Mecklenburg-Vorpommern (17 Läden). Der Osten ist auch hier wieder einmal abgehängt.
Die Veganer sind nicht schuld am Sterben der Metzgereien
Und die Gründe? An der Nachfrage liegt es nicht. Die ist seit Jahren stabil. Der Deutsche bleibt ein Fleisch- und Wurstesser, aller vegetarischen und veganen Propaganda zum Trotz verzehrt er im Schnitt 60 Kilo Fleisch und Wurst im Jahr (den Löwenanteil bei der Wurst stellen die Brühwürste). Unter den 73 Millionen Deutschen über vierzehn Jahren sind gerade einmal sechs Millionen Vegetarier und knapp eine Million Veganer. Die Zahl der Veganer ist seit Jahren ziemlich konstant, die Vegetarier nehmen sogar ab.
Auch Bestseller vom Schlage »Eating Animals« (Jonathan Safran Foer), denen es weniger um das Menschen-, als um das Tierwohl und die Qual bei der Schlachtung zu tun ist, haben uns Wurstesser nicht nachhaltig zu Abstinenzlern werden lassen. Wir vertrauen der Versicherung der Branche: »Das deutsche Schwein wird gut behandelt«, wie es im Jahresbericht des Fleischerhandwerks heißt, das sich auf diese Weise von der industriellen Tierverarbeitung abzusetzen sucht: Artgerechte Haltung und schmerzfreie Tötung seien heutzutage Standard. Aber machen wir uns nichts vor: Um zur Wurst zu kommen, muss ein Tier getötet werden. Dies verwerflich zu finden, lässt sich ethisch begründen. Wer es gleichwohl bejaht, muss sich auf die Evolution und den Gang der Zivilisation berufen, zugegeben keine ganz harten Kriterien.
Ich persönlich kann mich auf biographisch prägende Erfahrungen herausreden, warum ich Metzgereien liebe. Meine Tante im schwäbischen Oberland betrieb bis in die siebziger Jahre einen Gasthof (»Adler«) mit Metzgerei. Geruch und Geschmack von Leberkäs und Schinkenwurst gehören zu Kindheitserinnerungen, die mir lieb sind. Und auch, ich gestehe es, der Anblick der kunstvollen Zerlegung einer Sau im Schlachthaus, hat mich fasziniert: Wie aus einer blutigen Tierhälfte hinterher Blut- und Leberwürste wurden, daran konnte ich mich gar nicht satt sehen. Das zugehörige Bildungswissen vermittelte »Herings Lexikon der Küche«, seit 1907 immer wieder neu aufgelegt, wo auf Seite 841 der Prozess der Schlachttierzerlegung minutiös dokumentiert ist und man lernen kann, wo beim Schwein die Oberschale sitzt und was die Wamme vom Rückenspeck unterscheidet.
»Mohrenköpfle« aus dem Hohenlohischen
Das alles ist Geschichte. Es gibt eine Vielzahl von Gründen, die den Schwund der Metzger erklären. Unter jungen Leuten ist der Beruf nicht attraktiv, gilt als hart und in der heutigen guten Arbeitsmarktsituation gibt es coolere und besser bezahlte Alternativen. Mit 2400 Euro im Monat – das ist der tarifliche Ecklohn in Hessen – lassen sich wahrlich keine großen Sprünge machen. Dramatisch sieht es bei den Lehrlingen aus: Gab es im Jahr 2000 in Deutschland noch 12000 junge Leute, die eine Ausbildung zur »Fleischereifachverkäuferin« (welch schönes Wort) anstrebten, waren es 2018 nur noch gut 3000. Vielen Betrieben fehlt es zudem an Nachfolgern. Die Erben scheuen die Arbeit im Schlachthaus, alles andere als ein Zuckerschlecken. Bei den Fleischern hat offenkundig nicht funktioniert, was bei den Winzern gut gegangen ist: Als junger »Winemaker« an Rhein, Mosel oder Neckar und mit Hochschulabschluss in Geisenheim genießt man unter Kennern ein hohes Renommee, obwohl die Arbeit im steilen Weinberg auch nicht gerade leicht ist. Zu sagen »Ich bin Fleischer« bringt hingegen keine Statuspunkte. Der Weg vom Schwein zur Wurst ist offenbar nicht ganz so gradlinig wie der von der Sylvanertraube in die Bocksbeutelflasche.
Müssen wir uns also in das Schicksal fügen, dass nun ein altes Handwerk langsam stirbt, in welchem Deutschland im Vergleich der Esskulturen zweifellos einen komparativen Vorteil hat? Kulturpessimismus ist eigentlich nicht mein Ding. Doch die bestandserhaltenden Ideen der Branche klingen nicht allzu prickelnd, auch wenn sich das Stichwort »Digitalisierung« inzwischen bis in das Jahrbuch 2019 des deutschen Fleischerhandwerks Einzug gefunden hat. Mut macht uns das Schwäbisch-Hällische Landschwein, ein Vorzeigetier aus dem lange als strukturschwach geltenden Hohenlohischen. Das Schwein geht auf König Wilhelm I. von Württemberg zurück, welcher um 1820 der Landeszucht einige chinesische Maskenschweine zuführte, ein frühes Beispiel schwäbisch-chinesischer Kooperation. Die »Mohrenköpfle«, wie die Schweine aufgrund ihrer charakteristischen Färbung genannt werden, sind robuste und stressresistente Tiere, die inzwischen ihren Siegeszug durch ganz Deutschland angetreten haben. Die Hohenloher Erzeuger arbeiten deutschlandweit mit ausgewählten Metzgern zusammen, vereinen sozusagen ökonomische Skaleneffekte mit klassisch handwerklicher Tradition. Und sie versprechen, ihre Tiere restlos zu verwerten und zu verwursten, was sogar den Klimaschützern gefallen dürfte. Mir gefällt vor allem das Motto der Hohenloher: »Vom Rüssel bis zum Schwänzle«.
Rainer Hank
05. November 2019
Hartz IV: Ein ErfolgWarum nur die Arbeit gesellschafltiche Teilhabe ermöglicht
Gegenüber dem Leipziger Gewandhaus steht ein Bauwerk aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, dessen Giebel das Tympanon eines antiken Tempels imitiert. Darauf eingemeißelt ist der Satz: »Omnia vincit labor«, die Arbeit besiegt alles. Über der Inschrift stehen zwei Skulpturen von Arbeitern, die abwechselnd mit schweren Klöppeln die Glocke schlagen. Das »Krochsche Hochhaus«, so der Name des Gebäudes, hämmert den Menschen mit ziemlich viel Pathos eine Weisheit aus Vergils Lehrgedicht über den Landbau ein: Arbeit ist ein Glücks-Versprechen.
Wenn das stimmt, ist allein die Möglichkeit einer Welt, der die Arbeit auszugehen droht, der worst case. Die Erfahrung von Arbeitslosigkeit entzieht nicht nur Einkommen, sondern auch Sinn und kann die ganze Existenz zerstören. Man lässt den Dingen ihren Lauf, wird apathisch, verliert allen Elan. Gefragt, was sie unglücklich mache, nennen viele Menschen Arbeitslosigkeit an erster Stelle. Mehr noch: Auch wer Arbeit hat, fühlt sich weniger zufrieden, wenn andere arbeitslos sind.
Im Jahr 2005, als die berühmt-berüchtigten Hartz-Reformen in Kraft traten, waren in Deutschland fast fünf Millionen Menschen ohne Arbeit, davon 1,8 Millionen Langzeitarbeitslose, die länger als ein Jahr keine Arbeit hatten. Dass es je wieder Vollbeschäftigung geben könnte, wurde von vielen als Illusion verworfen. Und heute? Kurz vor dem Jubiläum »15 Jahre Hartz IV« am 1. Januar 2020 hat sich die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zu 2005 mehr als halbiert, auf 2,3 Millionen. Es gibt nur noch gut 700 000 Langzeitarbeitslose. 45 Millionen Menschen sind erwerbstätig – das ist Rekordbeschäftigung; 33 Millionen darunter in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen – ebenfalls eine Rekordzahl, die den Vorwurf entkräftet, der Preis der neu gewonnenen Arbeit seien vornehmlich prekäre Beschäftigungsverhältnisse.
Auch wenn es neben den Hartz-Reformen noch weitere Faktoren gibt, die diesen enormen Beschäftigungserfolg verantworten: Die Geschichte der Rückgewinnung von Arbeit in Deutschland widerspricht in nahezu allen Punkten dem linken Narrativ eines Sozialabbaus, eine Lesart, der »Die Linke« als Partei bekanntlich ihre Existenz – und zuletzt ihren Erfolg in Thüringen – verdankt. Folgt man dem Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, den »die Linke« 2017 für die Wahl zum Bundespräsidenten vorgeschlagen hatte, bedeuten die Hartz-Reformen »eine Verschlechterung in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens«. Deutschland sei »unsozialer, kälter und inhumaner« geworden, sagt er.
Die linke Verelendungstheorie geht so: Die Hartz-Reformen sind erstens das Ende des Sozialstaates, wie wir ihn kannten, sie haben zweitens ein neues Prekariat arbeitender Armer (working poor) geschaffen und am Ende, drittens, die Ungleichheit im Land vergrößert. Diese fatale Ungerechtigkeit der Hartz-Reformen habe, viertens, auch politische Risiken – »Neoliberalismus bringt Rechtsradikalismus«. Nichts von alledem lässt sich belegen.Die These vom »sozialen Kahlschlag« ist Unsinn
Erstens ist es verfehlt, Hartz IV als »sozialen Kahlschlag« zu brandmarken. Dass seit 2005 die Ausgaben für die Arbeitslosigkeit zurückgehen, ist wahr. Doch dies ist der verbesserten Beschäftigung geschuldet, die weniger Transferzahlungen erforderlich machte. Arbeitslosigkeit kommt die Allgemeinheit heute billiger zu stehen als vor den Reformen. Das bedeutet nicht, dass der Sozialstaat insgesamt geschrumpft wäre. Im Gegenteil: Insgesamt sind die Sozialausgaben stärker als das Wachstum auf inzwischen knapp eine Billion Euro angeschwollen. Das sind fast 50 Prozent mehr als Mitte der 2000er Jahre. Von Kahlschlag keine Rede!
Dass die Deutschen sich diesen Ausbau des Sozialstaats leisten konnten, ist Folge der Hartz-Reformen, die für sprudelnde Steuereinnahmen und üppige Sozialbeiträge mitverantwortlich sind. Wenn mehr Menschen Arbeit haben, zahlen sie mehr Steuern und insgesamt mehr Sozialversicherungsbeiträge. Dies (verbunden mit niedrigen Zinsen) brachte den deutschen Finanzminister in die komfortable Lage, den Staat auszubauen, ohne neue Schulden machen zu müssen. Vollbeschäftigung ist nicht nur ein Gewinn in sich und für die Menschen, die nicht mehr arbeitslos sind. Es ist auch eine soziale Wohltat für das Land.
Dass es, zweitens, Armut in Deutschland gibt, ist unbestritten. Die Zunahme des Armutsrisikos liegt in dem gestiegenen Anteil an Personen mit Migrationshintergrund; die Armutsquote bei Personen ohne Migrationshintergrund hat sich in den vergangenen 25 Jahren wenig verändert. Das soll nicht heißen, dass Armut unter Migranten weniger schlimm wäre. Es soll nur zeigen, dass der Anstieg der Armutsquote keinen Bezug zu den Agenda-Reformen hat, sondern vor allem daran liegt, dass Migranten Defizite in der Sprache haben oder soziale Netzwerke fehlen, was eine Beschäftigungsaufnahme erschwert – und sie deshalb auf Unterstützung angewiesen sind.
Schröders Agenda führt nicht zum Rechtspopulismus
Verfehlt ist es, drittens, zu behaupten, Hartz IV habe die Ungleichheit vergrößert. Das Gegenteil ist wahr: Die Ungleichheit der Einkommen hat zwar seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zugenommen, wie überall in den entwickelten Ländern. Doch die Spreizung der Einkommen ist 2005 zum Stillstand gekommen, ausgerechnet in jenem Jahr, in dem die Gesetze in Kraft getreten sind. Unser Wohlfahrtsstaat komprimiert die Ungleichheit der Markteinkommen besonders stark. Das genau ist das Ziel einer Sozialen Marktwirtschaft.
Viertens wird für den Erfolg des Rechtspopulismus inzwischen alles und jedes verantwortlich gemacht. An erster Stelle stehen aber definitiv nicht die Reformen des Arbeitsmarktes, sondern der Schock der Migration von 2015. Eine maßgebliche Rekrutierungsbasis der Rechten sind nicht die arbeitslosen Hartz-IV-Bezieher, sondern jene Zurückgebliebenen, die – zu Recht oder zu Unrecht – wähnen, die Migranten zögen als privilegierte »Einwanderer in den Sozialstaat« an ihnen vorbei. Die AfD wurde bekanntlich nicht als Anti-Hartz-IV-Partei gegründet, sondern als konservativ-liberale Anti-Euro-Protestbewegung, von wo sie sich immer weiter ins Extreme bewegt hat. Der Populismus hat einen völkischen Verteilungskampf innerhalb des Sozialstaates eröffnet. AfD-Mann Björn Höcke plädiert wie die Linke für mehr Sozialstaat, dessen Wohltaten indessen den Fremden vorenthalten werden sollen. Das ist in der Tat schlimm, hat aber mit den Hartz-Reformen nichts zu tun.
Die Agenda-2010–Reformen sind ein Beleg für die Leistungsfähigkeit des deutschen Modells der Sozialen Marktwirtschaft und nicht Ausweis seiner Kapitulation. Die Reformen mögen die Linke gespalten haben – in SPD, Linke und sozialchauvinistische Teile der AfD –, aber sie haben die Gesellschaft geeint, weil sie Teilhabe wieder ermöglicht haben. Teilhabe ist in einer Arbeitsgesellschaft nur über Arbeit möglich. Die ökonomische Spaltung in Arbeitslose und Arbeitsplatzbesitzer wurde – zumindest von der Tendenz her – überwunden. Hartz IV und die Agenda-Reformen werden als Erfolg der Sozialstaatsmodernisierung in die Geschichtsbücher eingehen.Eine Langfassung dieser Kolumne gibt es im Novemberheft (44–45/2019) von »Aus Politik und Zeitgeschichte«
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Rainer Hank
28. Oktober 2019
Liberale mit Herz2 Bilder ›
Warum es sich lohnt, Deirdre McCloskey zu lesen
In Zeiten, wie diesen, wo Populisten, Sozialisten und Nationalisten unterwegs sind, kommt Deirdre McCloskey gerade recht. Dieser Tage ist ein neues Buch der großen alten Dame des Liberalismus erschienen, das den Titel trägt »Warum der Liberalismus funktioniert«. Es ist die denkbar klügste und frechste Verteidigung des liberalen Kapitalismus, die man sich vorstellen kann. Linke wie Rechte sollten sich daran ihre Zähne ausbeißen – und das könnte sogar vergnüglich werden, jedenfalls für jene unter ihnen, die McCloskey gewachsen sind.
In Deutschland ist Deidre McCloskey leider immer noch wenig bekannt. Das liegt daran, dass bislang keines ihrer Bücher ins Deutsche übersetzt wurde, was wiederum daran liegt, dass die Verlage denken, dass hierzulande mit liberalen Gedanken kein Blumentopf zu gewinnen sei. Vielleicht stimmt das sogar.
Geschlechtsumwandlung als Akt der Freiheit
Schon das Leben der Deirdre McCloskey wäre eine kleine literarische Erzählung wert: 1942 kam sie als »Donald« McCloskey in Ann Arbor, im amerikanischen Bundesstaat Michigan, zur Welt. Bis 1995 war sie verheiratet, dann ließ sie eine Geschlechtsumwandlung vornehmen. Das alles wäre ihre Privatsache, hätte sie nicht selbst diese Geschichte im Jahr 1999 mit einem Aufsehen erregenden Buch (»Crossing«) öffentlich gemacht und in Zusammenhang mit ihrer Weltanschauung gestellt. »Es war für mich eine Entscheidung zu meiner Identität.« Ihr eigenes Geschlecht frei wählen zu können, nennt sie ein liberales Recht der Menschen. Sie hat in Kauf genommen, dass die beiden Söhne nach der Geschlechtsumwandlung den Kontakt zu ihr komplett abgebrochen haben. Aber sie leidet daran.
McCloskey vertritt einen »feministischen Liberalismus«. Sie berichtet gerne, wie sie, damals längst eine bekannte Ökonomie-Professorin, erfahren hat, als Frau plötzlich mit denselben Themen und Thesen von den Kollegen ignoriert zu werden, für die sie vorher als Mann anerkennende Zustimmung erntete.
Die Geschlechtsumwandlung ist nicht die einzige Wandlung im Lebens der Deirdre McCloskey. Anfangs war sie ein atheistischer Marxist, wie viele Leute in den amerikanischen Achtundsechziger Jahren. Heute ist sie eine christliche Liberale. Sie nennt ihre politischen Anfänge ihren »Joan Baez-Sozialismus«: Arbeiterlieder singend die Armen aus ihrem Elend befreien wollen. Das Kapitel ihres neuen Buches, das von dieser ideologischen Wandlung berichtet, trägt die Überschrift: »Wie Deirde zu einer modernen Liberalen wurde: langsam, sehr langsam.« Sie hat dann Ökonomie in Harvard studiert, damals wie heute eine Hochburg der Keynesianer, die daran glauben, dass der Staat die Wirtschaft mit guter politischer Ingenieurskunst zum Besseren formen könne. Als Keynesianer kam sie (respektive Donald McCloskey) in den sechziger Jahren an die Universität Chicago, damals wie heute die Hochburg der Liberalen, die die Auffassung vertreten, der Staat solle sich weniger um die Nachfrage kümmern als darum, der Wirtschaft die Angebotsbedingungen zu erleichtern, um die Märkte zu dynamisieren und Wachstum zu generieren.
Doch auch der rein ökonomische Liberalismus, zu dem sich McCloskey in Chicago bekehrte, wurde ihr rasch zu eng. Erst recht hasst sie die simple Arbeitsteilung, wonach die Ökonomen sich um die Effizienz der Wirtschaft kümmern, die Philosophen aber die Sinnfragen und Themen der Gerechtigkeit traktieren sollen. Schließlich ist der Liberalismus nicht als Wirtschaftstheorie, sondern als moralische Idee menschlicher Freiheit entstanden. Es waren bürgerliche Tugenden (Klugheit, Mut und eine große Portion Zukunfts-Optimismus), die für den Erfolg der Marktgesellschaft verantwortlich sind. McCloskey kennt die ganze dahinter stehende philosophische, literarische und theologische Tradition. Man könnte die Wette gewinnen (und es dem Nobelpreiskomitee in Stockholm zurufen), sie die umfassend gebildetste lebende Ökonomin zu nennen. In ihrer über zwei Stockwerke sich erstreckenden Wohnung im Zentrum von Chicago hat sie eine Bibliothek mit über 8000 Büchern. Diese Frau liest wie eine Wilde.Die Moral gehört nicht (nur) den Linken
Inzwischen vertritt McCloskey einen »Liberalismus mit Herz«, was rührselig klingt, aber polemisch gemeint ist gegen alle Sozialisten, die der Meinung sind, das Herz schlage links, und die Liberalen hätten gar keines oder allenfalls ein kaltes. Man sollte sich die Moral nicht von den Linken wegnehmen lassen, findet sie, und verweist auf den schottischen Aufklärer Adam Smith, ihren Erzheiligen. Von ihm stammt die beste Definition des Liberalismus: jedermann (und jede Frau, ergänzt McCloskey) hat das Recht, seine eigenen Ziele und Interessen auf seine eigene Weise zu verfolgen, getreu dem liberalen Plan von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Dies, so McCloskey, sei das beste Programm zur Befreiung der Armen aus der Armut. Während die Sozialisten vorgeben, sich um die Armen zu sorgen, in Wirklichkeit aber bloß die Reichen hassen und schlimmstenfalls die Armen in noch größere Armut stürzen, haben die Liberalen – historisch nachprüfbar – die größten Erfolge in der Armutsbekämpfung vorzuweisen. Seit dem Jahr 1800 hat sich das Prokopfeinkommen der Ärmsten um sagenhafte 3000 Prozent verbessert. Das sieht man in allen Lebensbereichen. Es gibt erschwingliche Nahrungsmittel, schöne Wohnungen, Antibiotika, Flugzeuge, die Antibabypille, Bildung für alle und medizinische Erfolge, die dafür sorgen, dass viel weniger Kinder heute sterben müssen als früher. Verantwortlich für diesen Erfolg ist die Produktivität innovativer Märkte.
McCloskey wird fuchsteufelswild, wenn sie das Trickle-Down-Argument hört, wonach die Linderung der Armut allenfalls ein Abfallprodukt des Wohlstands der Reichen sei. Das Gegenteil ist richtig: Denn die Reichen leben seit der Antike immer schon im Luxus, sie brauchen den Kapitalismus gar nicht. Den Armen geht es aber erst gut seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert.
Fragt man McCloskey nach dem Kern ihres Liberalismus, kommt sie ins Stottern, nicht aus Unsicherheit, sondern weil sie seit Kindheit einen Sprachfehler hat, mit dem sie freilich sehr souverän umgeht. Der Inhalt der Antwort stottert überhaupt nicht: Freiheit heißt, keinen Herrn über sich zu haben! Das richtet sich gegen die Anmaßung des Staates ebenso wie gegen die Bevormundung von Frauen durch ihre Ehemänner und bedeutet eine radikale Absage an jegliche Hierarchie. Das alles bekäme ein schwer erträgliches Pathos, trüge McCloskey es nicht mit dem ihr eigenen Humor vor. Mit diesem Humor kämpft sie auch gegen ihre Gegner, die sie unter dem deutschen Wort »Klerisei« rubriziert: Damit meint sie den Volksstamm der schreibenden Professoren, Journalisten, Künstler und Intellektuellen, die meinen, den Menschen diktieren zu können, was gut für sie sei und die die bürgerlichen Werte mit Füßen treten. Ur-Schurke ist der französische Dichter Gustave Flaubert, der 1867 an George Sand schrieb: »La haine du bourgeois est le commencement de la vertu – Der Hass auf den Bürger ist der Beginn aller Tugend.« Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Ohne Bürgertum geht die Marktwirtschaft vor die Hunde.
Rainer Hank
22. Oktober 2019
Gute Schulden, schlechte SchuldenDer Preis des Pump-Kapitalismus
Schulden machen ist plötzlich wieder in Mode. Wie konnte das passieren? Eine paradoxe Erklärung hat Mark Twain: »Von jetzt an werde ich nur so viel ausgeben, wie ich einnehme, selbst wenn ich mir dafür Geld borgen muss!« Wer sich verschuldet, kann Geld, das er nicht hat, ausgeben, als hätte er Geld – eine angenehme Illusion.
Während der Kredit umgangssprachlich häufig kritisch gesehen und als moralisch problematisch gilt, bestehen Ökonomen auf der moralischen Neutralität des Schuldenmachens. Nichts sei einzuwenden gegen einen auf Freiwilligkeit beruhenden Vertrag, in dem der eine als Gläubiger und der andere als Schuldner auftritt, erst recht nicht, wenn beide sich an den Vertrag halten und die Schuldenlast rechtzeitig getilgt wird. Mehr noch: Kredite sind eine wichtige Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand. Ein Erfinder oder Unternehmer mit einer pfiffigen Idee könnte diese nicht umsetzen, wenn ihm das Geld dafür fehlt. Kreditgeber – seit der Neuzeit sind das vor allem Banken – haben zu Unrecht einen schlechten Ruf. Sie bringen das Geld vom Sparer zum Investor und schmieren damit den Motor des Wachstums. Wenn Staaten sich verschulden, kommen die damit finanzierten Investitionen künftigen Generationen zugute, denen bessere Straßen, Schulen oder Schießgewehre zur Verfügung stehen.
Doch vieles im Leben hat zwei Seiten: Weil die Zukunft ungewiss ist, kommt es nicht selten vor, dass zum vereinbarten Zeitpunkt der Tilgung kein Geld da ist. Dann bleibt nur die Insolvenz. Und der Gläubiger schaut in die Röhre. Wenn Staaten zu lange über ihre Verhältnisse leben, dann droht der Staatsbankrott und Jahre bitterer Austerität mit Steuererhöhungen und/oder Ausgabenkürzungen. Denn die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Im schlimmsten Fall folgt einer Krise privater Schulden eine schwere Staatsschuldenkrise. So war es in den Jahren 2007 ff. Banken verliehen Geld an private Immobilienbesitzer ohne vom Schuldner ausreichend Eigenkapital zu verlangen. Als das schief ging (»Subprime-Krise«), mussten die Staaten, selbst schon über die Halskrause verschuldete, auch noch die Bankschulden übernehmen: Eine der schwersten Finanzkrisen seit der Weltwirtschaftskrise war da.Mehr Schulden als vor der Finanzkrise
Das Trauma der Finanzkrise hat eine Zeitlang zu einer skeptischen Rhetorik des Schuldenmachens geführt. Deutschland hat sich sogar zu einer in der Verfassung verankerten Schuldenbremse verpflichtet. Schaut man freilich auf die Statistik des Internationalen Währungsfonds (IWF), so bleibt von der skeptischen Rhetorik nicht viel übrig: Zwischen 2007 und 2017 ist die Verschuldung der Industrieländer kontinuierlich von 70 auf fast 110 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen. Dramatisch sieht es auch bei den Unternehmen aus, deren Schulden weltweit zwischen 2006 und 2019 von 25 Billionen auf über 50 Billionen Dollar angeschwollen sind. Das Schuldenrisiko sei heute höher als während der Finanzkrise 2008 mahnte kürzlich die neue Direktorin des IWF, die Bulgarin Kristalina Georgiewa.
Einer der Hauptgründe für die große private wie öffentliche Lust an der Verschuldung besteht darin, dass das Geld seit Jahren so billig zu haben ist wie selten. Wer könnte dieser Verführung widerstehen. Doch inzwischen dreht sich auch die ökonomische Rhetorik billigend in Richtung höherer Schulden. Ein besonders originelles Argument kommt von dem Wirtschaftswissenschaftler Carl Christian von Weizsäcker (FAS vom 15. September). Es geht, grob zusammengefasst, so: Weil die Menschen immer älter werden, müssen sie immer mehr Geld zurücklegen für die Zeit, in der sie kein Erwerbseinkommen mehr haben, aber immer noch große Konsumwünsche. Wenn man den Bürger aber zur Vorsorge verpflichtet (staatlich und privat), müsse er, so Weizsäcker, auch eine Möglichkeit haben, sein Geld sicher anzulegen. Ergo: Der Staat sollte bei Nullzinsen die Staatsverschuldung erhöhen, um auf diese Weise den Leuten Anlagemöglichkeiten (Staatsanleihen) zu bieten.
Das ist ziemlich provokant, erst recht, wenn man weiß, dass Weizsäcker kein Keynesianer ist, dem der Staat nicht genug auf Pump leben kann. Die Politiker werden es gleichwohl gerne hören, dienen ihnen neue Schulden immer schon als Instrument zum Wählerfang. Dabei besteht auch Weizsäcker darauf, es mit der Verschuldung nicht zu übertreiben, Maß und Mitte einzuhalten.
Wann sind die Schulden zu hoch?
Damit sind wir bei der eigentlich kniffligen Frage: Wenn Staatsschulden weder gut noch schlecht sind, hätte man doch gerne harte Kriterien zur Unterscheidung guter von bösen Schulden. Auf der Suche nach solchen Kriterien kommt ein gerade erschienener Überblicksband gerade recht: »Vom Kredit zur Schuld«, herausgegeben von den Schweizer Ökonomen Christoph Schaltegger und Ivan Adamovich. Danach lassen sich eine Reihe von Kandidaten zur Trennung guter von bösen Schulden ausfindig machen:
(1) Simpel, aber eindeutig wären klare Obergrenzen. Die Maastricht-Kriterien erlauben maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff kamen aufgrund historischer Untersuchungen zur Erkenntnis, dass eine Verschuldung von 90 Prozent des BIP eine kritische Grenze darstelle. Doch solche Zahlen bleiben ziemlich willkürlich mit der Folge, dass sich niemand daran hält. (2) Statt mit einer Obergrenze wird deshalb häufig inhaltlich argumentiert. Demnach wären staatliche Investitionen (Infrastruktur, Bildung) gut, staatlicher Konsum (Sozialausgaben) schädlich. Doch auch dieses Kriterium ist problematisch: Staaten können alles und jedes als »Investition« taufen. Und die Präferenzen der Bürger können sich ändern. Angesichts der heutigen Klimapanik sind breite Staatsstraßen für dicke SUVs alles andere als erwünschte »gute« Investitionen. (3) Es ließen sich utilitaristisch neue Schulden dann rechtfertigen, wenn der Nutzen für Wachstum und Wohlstand am Ende höher ist als die Kosten von Zins und Tilgung. Doch auch hier gilt, dass »Nutzen« eine zweifelhafte Größe ist und außerdem Gewinner und Verlierer ungleich verteilt sind, was ein dickes Gerechtigkeitsproblem mit sich bringt. (4) Carl Christian von Weizsäcker schließlich nimmt Preissignale zum Unterscheidungskriterium: Bei Null- oder Negativzinsen wäre eine höhere Neuverschuldung angezeigt. Steigt der Zins, ist dies ein Signal, die Verschuldung zurückzufahren.
Das Zinskriterium ist raffiniert, weil flexibel. Indes: Wenn die Risikoprämien für Staatsanleihen steigen, könnte es schon zu spät sein. Das ist kein theoretischer, sondern ein empirischer Einwand, schaut man sich die Fiskalgeschichte Griechenlands oder Italiens in den letzten Jahrzehnten an. Letztlich, so das einigermaßen enttäuschende Resümee, gibt es im Vorhinein kein sicheres Kriterium, gute von schlechten Schulden zu unterscheiden. Dass Schulden schlechte Schulden sind, weiß man erst, wenn es zu spät ist. Ich bleibe skeptisch gegenüber den neuen Schuldenermunterern und halte Institutionen der disziplinierenden Selbstbindung (Schuldenbremse) weiterhin für unerlässlich. Wer das zu ängstlich findet, soll sich die überdurchschnittliche Frequenz großer Schuldenkrisen in der jüngeren Vergangenheit vor Augen führen: Der Preis des Pump-Kapitalismus ist (zu) hoch.
Rainer Hank