Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 04. Dezember 2021
    Stoppschild für Zuzügler

    Oeder Weg: Autos müssen draußen bleiben Foto Frankfurt-journal

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Ampel zementiert die Macht der Insider in den Städten

    Wissen Sie, was eine Diagonalsperre ist? Nein. Dann empfehle ich einen Ausflug in den Oeder Weg nach Frankfurt. Wer mit seinem Auto aus der Innenstadt in Richtung Nordend fährt (der Anteil der Grünenwähler liegt hier bei knapp 40 Prozent), dem wird seit ein paar Monaten der Weg durch den Oeder Weg mit einer rot-weißen Schranke verwehrt. Man kennt das von Forstwirtschaftswegen im Wald. »Wohnviertel für Menschen, nicht für den Auto-Schleichverkehr«, so lautet die Devise. Fahrräder sind hochwillkommen. Frankfurt soll schließlich eine autofeindliche, dafür aber fahrradfreundliche Stadt werden.

    Die Gewerbetreibenden im Oeder Weg sind keine Freunde der Absperrung. Auch die Bewohner der anliegenden Straßen grämen sich: Denn nun suchen sich die Autofahrer eben andere Schleichwege. Inzwischen sind selbst die Anwohner des Oeder Wegs irritiert: Denn die für den Autoverkehr gesperrte Straße hat sich rasch in ein Eldorado für die sogenannte Außengastronomie verwandelt. Statt Autolärm lärmen nun fröhliche Zecher.

    Merke: Städtische Regulierung – hier: das Fahrverbot – führt zu unerwünschten Nebeneffekten. Und: Selbst die Begünstigten – hier: die Anwohner – werden schnell von Gewinnern zu Opfern.

    NIMBY: Not in my Backyard

    Wohnungsmangel in den großen Städten ist eines der größten Probleme in Deutschland. »Die Politik« müsse etwas tun, heißt es. Was sie tun soll, da gehen die Meinungen schon weit auseinander. Die meisten Ideen sind wenig zielführend: Linke und (viele) Grüne liebäugeln mit Mietendeckel, Mietpreisbremse bis hin zur Enteignung größere Wohnungskonzerne. Klima-Politiker warnen vor dem Bau neuer Wohnungen, weil dies zu höherem Flächenverbrauch führe und die CO2–Bilanz der Städte versaut. Und in den schönen Vierteln dominieren die NIMBYs. Das steht für »Not in my Backyard« (Nicht in meinem Hinterhof). Natürlich müssen neue Wohnungen gebaut werden, aber bitte nicht in meinem Kiez.

    Grünlungig, autofrei und lebensfroh soll unsere urbane Nachbarschaft bleiben. Man gönnt sich ein riesiges unbebautes Biotop wie das Tempelhofer Feld in Berlin (»auch geschützt für seltene tierische Bewohner*innen«, wie es auf der Internetseite heißt) und schützt sich selbst zugleich vor Mieterhöhungen mit verschärften Preisbremsen. Ein Paradies für die, die schon drin sind. Unerreichbar teuer für die, die rein wollen.

    Gleichwohl hält der Run auf die Städte an. Junge Familien finden die Urbanität der Großstadt aufregender als die Vorstadt oder das Landleben. Das hängt nicht zuletzt mit der rückläufigen Kriminalitätsrate zusammen. Nie war der Mensch in den Städten so sicher wie heute. Dass die Wohnungen der Städte zu teuer sind, ist nicht das Problem. Dass es zu wenig davon gibt, ist der Kern: Gäbe es mehr Wohnungen, würde das den Preis drücken und den Spekulanten das Handwerk legen. Neue Wohnungen soll es ja geben – aber bitte nicht vor unserer Nase.

    Halbherzig bleibt der Koalitionsvertrag der »Ampel«. Viel Verbot, wenig Aufbruch. Jährlich sollen 400 000 neue Wohnungen entstehen. Eine gute Idee. Sollen diese erschwinglich sein, dürften das nicht nur Luxusappartements sein. Standardisierung des Bauens heißt die Lösung. Doch schon tut sich ein Bündnis aus Architekten, Milieuschützern und Klima-Freunden zusammen und schreit »Betonklötze«, »Mietskaserne« und wenn das nicht reicht »Platte«. Ästhetik und Klimawandel sind die vorgeschobenen Waffen, mit denen sich der Besitzstand prima verteidigen lässt. Und Politiker machen sich zum Büttel jener Stadtbürger, die in ihrer Behaglichkeit nicht gestört werden wollen.

    Vom Überleben der Städte

    Ed Glaeser, ein Ökonom an der Harvard Universität und weltweit führender Urbanist, zeichnet in seinem neuen Buch vom »Überleben der Stadt« (»Survival of the city«) ein besorgtes Bild. Seine These: Die Insider, also die mit den schönen Häusern, haben unsere Städte gekapert. Sie verhindern, dass die Outsider sich Wohnungen in den Städten leisten können. Das ist nicht nur grob ungerecht, es ist auch ökonomisch ein Desaster: Denn Städte sind seit der Antike Orte der sozialen Mobilität. Mein Vater kam Anfang der dreißiger Jahre aus einem armen Dorf am Rande des Schwarzwalds nach Stuttgart. Dort suchte er Arbeit und ein besseres Leben. Die jüdischen Einwanderer aus Osteuropa landeten um die Jahrhundertwende nicht in Iowa, sondern in der Lower Eastside in Manhattan. Dort begann ihre Aufstiegs- und Assimilationsgeschichte.
    Wer sind die Insider? Grob gesagt sind es die Älteren und Reicheren. Hausbesitzer haben vor Jahren zu günstigen Preisen eine Immobilie in der Stadt erworben, deren Wert unglaublich gewachsen ist. Alteingesessene Mieter schützt das Mietrecht durch Mietspiegel und Kündigungsschutz. Bei Neuvermietungen langen die Eigentümer umso mehr zu. Spiegelverkehrt ergeht es den Outsidern. Das sind die Jungen und Ärmeren, denen der Zugang in die Städte erschwert wird. Glaeser hat eindrucksvolle Zahlenbeispiele (aus den USA): Im Jahr 1983 verfügte der durchschnittliche 35– bis 40–jährige über rund 56 000 Dollar Wohnvermögen. Dreißig Jahre später hatte die entsprechende Altersgruppe lediglich 6000 Dollar Immobilienvermögen. Im selben Zeitraum ist das Vermögen der oberen fünf Prozent unter den Älteren um 60 Prozent gestiegen. Es liegt jetzt zwischen 427 000 und 701 000 Dollar. »Das ist eine massive Umverteilung des Reichtums von den Jungen zu den Alten«; sagt Glaeser. Auch in Europa gebe es diese Entwicklung.

    Die Ungleichheit der Städte, folgt man Ed Glaeser, besteht also nicht zwischen armen Mietern und reichen Immobilienhaien, sondern zwischen machtbewussten Insidern (NYMBYs) und schwachen Outsidern. Die Unterscheidung stammt ursprünglich aus der Arbeitsmarkt-Ökonomie: Wer einen Arbeitsplatz hat, schützt diesen mithilfe der Gewerkschaft durch hohe Löhne und einen starken Kündigungsschutz. Das schadet den Arbeitslosen, denen vergleichbare Einkommen und Rechte verwehrt werden.
    Den Insider-Outsider-Konflikt löst man am besten durch Deregulierung: Diese schleift die Privilegien der Besitzenden und erleichtert den Marktzugang der Jungen und Ärmeren. Will die Ampel glaubwürdig werden, reicht das Bauprogramm der 400 000 Wohnungen nicht aus. Zugleich muss der Milieuschutz fallen, die Baugenehmigungszeit verkürzt, die Grunderwerbssteuer für Selbstnutzer gesenkt werden (dazu gibt es Ansätze im Koalitionsvertrag) und Gewerbegründungen in der Stadt erleichtert werden. So geht Deregulierung.

    Ed Glaeser bleibt dabei, dass die (Groß)stadt eine der genialsten Erfindungen der Menschheit ist, die uns »klüger, grüner, gesünder und glücklicher macht« (so der Titel seines vorletzten, 2011 erschienenen Buches). Damit das so bleibt, muss die Macht der Insider gebrochen werden.

    Rainer Hank

  • 22. November 2021
    Minister Cem Özdemir

    Unser Mann für Berlin: Cem Özdemir Foto Sedat Mehden/özdemir

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Grünen sollten ihren besten Mann besser behandeln

    Jetzt, wo die Ampelfrauen und Ampelmänner schon in der kommenden Woche einen Koalitionsvertrag präsentieren, wird es höchste Zeit, sich um die rot-grün-gelbe Wirtschaftspolitik zu kümmern. Bislang geht es ja immer nur ums Klima und dass dafür viele Schulden zu machen wohl das Mindeste sei. Aber was sonst? Werden die nächsten vier Jahre von Klima und Schulden dominiert? Na ja, und leider auch noch eine Weile von Corona, ein Thema, das die Ampel in der vergangenen Woche eigentlich schon per vorweggenommenem Regierungsbeschluss abschaffen wollte. Wäre da nicht – genau: das Virus.

    Bei SPD und FDP ahnen wir, wofür sie stehen. Der SPD geht es um den hart arbeitenden kleinen Mann (Stichwort: Mindestlohn), vertreten durch seine Gewerkschaft, und um die Umverteilung von Einkommen und Vermögen, selbstredend von oben nach unten. Der FDP geht es um Freiheit und Wettbewerb und um die Unternehmen, früher gerne unter besonderer Berücksichtigung von Zahnärzten, Apothekern und Hoteliers. Beide Parteien haben im Bund schon häufig (mit)regiert. Aber die Grünen? Sie sind die Neuen und deshalb besonders interessant.

    Fragt man nach den ordnungspolitischen Ideen der Grünen, so gibt es in der Geschichte der Partei zwei divergierende Flügel: Nennen wir, grob vereinfachend, die einen paternalistische Zentralisten und die anderen liberale Föderalisten. Paternalisten schwören auf den Staat, dem sie nur Gutes unterstellen. Der Staat ist eine Art benevolenter Diktator, der die Menschen anleitet, auf das Fahrrad umzusteigen, ein Solardach zu bauen, kein Fleisch zu essen, nicht zu rauchen und einander nicht zu diskriminieren. Sollte die sanfte Anleitung nicht funktionieren, dürfen Paternalisten aus moralischen Gründen auch härte Maßnahmen ins Auge fassen: Der Autoindustrie verbieten, Fahrzeuge zu bauen, die mit fossilen Brennstoffen fahren oder der Energiewirtschaft gebieten, Atom- oder Kohlekraftwerke 2030 abzuschalten. Die Grünen Paternalisten meinen das gar nicht böse. Weil sie selbst per Gründungsdekret nur das Gute für sich und das Überleben der Gattung wollen, fühlen sie sich berechtigt, den Bürgern auf deren Weg zum Guten ein wenig auf die Sprünge zu helfen.

    Paternalisten gegen Föderalisten

    Paternalisten bei den Grünen finden sich nicht nur im fundamentalistischen Lager (Prototyp: Jürgen Trittin), sondern auch bei den gemäßigten Realos (Vorbild: Annalena Baerbock). Und erst recht bei jenen, die ihr Fähnchen immer an der wechselnden Windrichtung ausrichten (meisterhaft: Katrin Göring-Eckardt). Die zentralistisch-paternalistische Richtung dominiert die Partei heute.

    Dann gibt es auch noch die Liberalen bei den Grünen. Sie sind Freunde der Graswurzel, können sich plebiszitäre Elemente in der Verfassung (»Volksabstimmung«) vorstellen und wissen, dass der wirtschaftliche Wettbewerb auch ein »linkes« Entmachtungsverfahren ist, das qua Kartellrecht die Multis vom Thron stürzt und den jungen Angreifern (Startups) Chancen auf dem Markt eröffnet. In einem Bündnis mit der FDP könnten die liberalen Föderalisten wieder Oberwasser kriegen: Aus Gründen von Fairness und Wettbewerb müsste zum Beispiel der Bahn die Macht über die Schiene entzogen werden. Aus denselben Gründen dürfte bei Nordstream 2 die Pipeline nicht der Gaslieferantin gehören, was uns ein wenig aus den Fängen von Gazprom befreien würde.

    In der Frühzeit der Grünen bildeten diese liberalen Föderalisten eine nennenswerte Binnenfraktion innerhalb der Partei. Dazu zählten etwa der Haushaltspolitiker Oswald Metzger (der später zur CDU übergelaufen ist), die Finanzpolitikern Christine Scheel, die Wirtschaftspolitikerin Margareta Wolf und der Haudegen Rezzo Schlauch (die beiden Letztgenannten haben es immerhin bis zum Staatssekretär gebracht). Heute findet sich diese grün-liberale Spezies außer im Thinktank des Intellektuellen Ralf Fücks eigentlich nur noch im Südwesten des Landes, wo es bis heute eine starke liberale Tradition gibt, die nicht nur in die FDP hineinwirkt. Ihr grüner Held heißt Winfried Kretschmann, gefolgt von Boris Palmer – und Cem Özdemir.

    Özdemir hat bei der Bundestagswahl mit 40 Prozent in Stuttgart ein Direktmandat für seine Partei errungen. Selbst in Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg ist das der Öko-Partei nicht geglückt. Anders als in Kreuzberg ist es in der Autostadt Stuttgart kein Spaziergang, die Freunde ungebremster Mobilität für sich zu gewinnen. Zwar ist das pietistisch-anthroposophische Erbe der Stuttgarter sehr schöpfungs- und naturnah, doch in der Tradition von Gottlieb Daimler und Robert Bosch setzt man eben auch auf Fortschritt, Technik und Freiheit. Paternalisten sind da weniger gut gelitten. Im SUV zum Biomarkt fahren, das mag als Klischee abgegriffen sein – den Typus des gutverdienenden Stuttgarters mit Villa in Halbhöhenlage beschreibt es dennoch treffend.

    Ein bisschen Basisdemokratie

    Özdemir, der »anatolische Schwabe«, kennt diese dem Geist des Protestantismus entstammende Welt des Kapitalismus. Er kennt Ola Källenius, den Daimler-Chef, und weiß, dass die »ökologische Modernisierung« (Grünen-Sprech) nur gelingt, wenn man die Mercedes-Facharbeiter am Band mitnimmt. Mit Stefan Wolf, dem Chef von Gesamtmetall, ist er per Du, weil der wie er aus Bad Urach stammt. Kurzum: Man muss lange suchen, bis man einen Grünen-Politiker findet, der bestens in der Wirtschaftswelt vernetzt ist (ohne sich einzuschleimen). Eher rühmen die Grünen sich ihrer Wirtschaftsferne, mit der sich ein wachstumsfeindlicher Antikapitalismus ungenierter ausleben lässt.

    Wäre Cem Özdemir mit dem satten Selbstbewusstsein von Christian Lindner gesegnet, hätte er längst das Wirtschaftsministerium für sich beansprucht. Immerhin hat er in den Koalitionsverhandlungen die Arbeitsgruppe »Wirtschaft« für seine Partei geführt. Die Bürger – nicht nur seine Wähler in Stuttgart – hätte er auf seiner Seite: 59 Prozent der Deutschen können sich nach einer Umfrage des »Spiegel« Özdemir sehr gut als Minister in einer Ampel vorstellen. Aber an der Spitze der grünen Partei können sich selbst vor allem Robert Habeck, Annalena Baerbock, Katrin Göring-Eckardt und Toni Hofreiter gut als Bundesminister vorstellen. Womöglich ist damit das Kontingent für grüne Posten schon erschöpft. Sollte es noch einen fünften Platz geben, dann könnten den die Fundis für sich beanspruchen, weil ihnen Toni Hofreiter noch zu wenig Linksgewicht verkörpert (eher: Leichtgewicht). Dabei gibt es zwar eine Frauen-, aber keine Flügelquote in der Partei. Dass dafür stattdessen »Vielfalt auf allen Ebenen« zu gewährleisten sei – grüner Parteitagsbeschluss -, spräche für den in Deutschland assimilierten Türken Özdemir – sofern sich jemand an diesen Beschluss erinnert. Aber natürlich: Es gibt keinen Dankbarkeitsbeschluss, dass sich Wählerzustimmung in Ministerposten auszahlen muss. Wäre ja nochmal schöner, klänge ja nach Basisdemokratie.

    Rainer Hank

  • 17. November 2021
    Gutes besser machen

    Herz und Hirn verbinden Foto Markus Spiske auf unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über den Widerspruch zwischen Moral und Ratio beim Klimawandel

    Der Ausstoß der weltweiten Treibhausgasemissionen liegt heute um rund 40 Prozent über dem Wert von 1990. Irgendetwas läuft schief. An der öffentlichen Aufmerksamkeit kann es nicht liegen. Von den meisten Menschen wird der Klimawandel als größte Herausforderung unserer Zeit bewertet.

    Mit Ausnahme von ein paar verwirrten Außenseitern bezweifelt heute niemand mehr, dass der Klimawandel von Menschen verursacht wird und von Menschen bewältigt werden muss. Geeignete Maßnahmen sind Gegenstand politischer Kampagnen, zentraler Gesetzesinitiativen, wissenschaftlicher Studien und internationaler Gipfeltreffen wie zuletzt bei der 26. UN-Klimakonferenz COP 26 in Glasgow.

    Was also läuft schief? Meine Vermutung: Es klafft eine Lücke zwischen Moral und Ratio. Ein bisschen härter noch: Es könnte sein, dass der ehrenwerte Wille vieler Menschen, klimapolitisch Gutes zu tun, am Ende den Klimawandel nicht abmildert, sondern verschlimmert.

    Beginnen wir mit der Rationalität. So wie wir leben, emittieren wir große Mengen Treibhausgase, die verantwortlich sind für die Erderwärmung. Es entstehen hohe Kosten durch sogenannte externe Effekte, für welche die Verursacher keinen (oder einen zu geringen) Preis bezahlen. Daraus folgt: Man müsste diesen Preis sichtbar machen und allen, die ihn verursachen, in Rechnung stellen. Jedes Flugzeug in der Luft, jedes Auto auf der Straße, jede Kuh auf der Weide müssten zahlen. Ganz wichtig ist: Es müssen sich fast alle Staaten (und Menschen) auf der Welt beteiligen. Länder, in denen heute schon ein zum Teil hoher Preis für Emissionen fällig wird (Schweden, Norwegen, Schweiz, Deutschland), sind lediglich für einen sehr kleinen Teil der globalen Klimaverschmutzung verantwortlich (Deutschland bekanntlich für etwa zwei Prozent). 80 Prozent der Emissionen werden in Ländern erzeugt, die keinen CO2–Preis berechnen. Sie sind Trittbrettfahrer der »tugendhaften« Staaten, weil sie billiger produzieren und exportieren können.

    Um Trittbrettfahrern ihr Handwerk zu legen, schlägt der Ökonomie-Nobelpreisträger William Nordhaus seit langem vor, dass die reformwilligen Länder sich zu einem Klimaclub zusammenschließen und einen einheitlichen CO2–Preis für alle Mitglieder festlegen. Das würde den Verbrauch fossiler Energien schrittweise verteuern. Weil dies jenen Ländern einen finanziellen Vorteil verschafft, die nicht Mitglied im Club sind, sollen Importe aus Drittstaaten in den Club mit einem Strafzoll verteuert werden. So entsteht ein Anreiz, dem Club beizutreten. Das hat auch COP 26 nicht geschafft: Dort geht es immer nur um Selbstverpflichtungen – aber nicht um Reziprozität.

    Ein Club der Willigen

    Der Club ist nach Meinung vieler Ökonomen ein zentraler Weg, global das Tempo der Erderwärmung zu drosseln und die Klimakatastrophe in letzter Minute zu verhindern. Der Kardinalfehler aller internationalen Konferenzen seit Kyoto besteht somit darin, dass man sich beschied, die Preisverpflichtungen lediglich einseitig und freiwillig einzugehen – statt zum Vorteil aller einen Club zu gründen nach dem Motto der Reziprozität: »Ich mache mit, sofern Du mitmachst!«

    So viel zur Ratio. Nun zur Moral. Geschieht nicht schon viel Gutes in vielen Ländern? Ist vieles davon nutzlos? Die kurze und freche Antwort lautet: Ja. Wir verschaffen uns ein gutes Gefühl. Das tut unserem Wohlbefinden gut, aber nicht dem Klima, dem könnte es im schlimmsten Fall sogar schaden.

    Nehmen wir ein Beispiel: Viele Städte in Deutschland verbreitern ihre Radwege, verknappen Parkplätze und verteuern die Parkhäuser. Wenn ich in Frankfurt vom Auto auf das Fahrrad umsteige, was ich vor ein paar Jahren getan habe, gibt mir dies das gute Gefühl, etwas gegen den Klimawandel zu tun. Sobald wir die Emissionskosten freilich beziffern, die anfielen, führe ich in der Stadt Auto statt Rad, zeigt sich, dass mein Beitrag zum Klimaschutz lächerlich ist, nicht mehr als ein paar Euro im Jahr. Zum Vergleich: Die versteckten globalen Kosten fossiler Brennstoffemissionen belaufen sich laut Internationalem Währungsfonds IWF auf etwa fünf Billionen Dollar jährlich.

    Mehr noch: Der Radler spart Geld, weil er kein Auto mehr hat, fühlt sich gut und leistet sich womöglich mit dem gesparten Geld im Urlaub eine Flugreise nach Griechenland. Sein negativer Beitrag zur Klimaverschmutzung ist damit um ein Vielfaches höher als das, was er durchs Radfahren spart. »Mental accounting« nennen die Ökonomen diese innere Bilanzierung, welche viele Menschen gerne anstellen. Glaubt im Übrigen jemand, dass der Parkplatz in Frankfurt frei bleibt oder dass die Saudis weniger Öl fördern, weil Rainer Hank radelt?

    Ähnlich desillusionierend fällt der Nutzen aus, den es für das Klima bringt, sich eine Fotovoltaikanlage auf das Dach zu montieren. Das führt zwar dazu, dass CO2–Emissionen zuhause eingespart werden, die dadurch freiwerdenden Emissionsberechtigungen verbilligen jedoch den Preis im Zertifikatehandel. Andere kommen dann billiger an Verschmutzungsrechte, so dass die Emissionen im Saldo gleichbleiben. Man nennt das »Wasserbetteffekt«: wohlgemeinte Energieeinsparungen können die Emissionen nicht über das hinaus reduzieren, was der Emissionshandel sowieso erreicht.

    Herz und Hirn

    Nun könnte man sagen: Unser moralisches Verhalten hat zumindest einen symbolisch-alarmistischen Effekt, so wie Greta Thunbergs Segelschiffsreise nach New York. Die Forschung zum moralischen Verhalten zeigt indes: wir rationalisieren unser Tun gerne im Nachhinein. Jonathan Haidt, ein amerikanischer Kulturpsychologe, vergleicht unser moralisches Bewusstsein mit einem Reiter auf einem Elefanten. Das große Tier, die Intuition, hat seine eigene Intelligenz und seinen eigenen Willen. Es neigt dazu, den Weg einzuschlagen, den es für den richtigen hält. Der Reiter liefert lediglich die Kommentare dazu. Wir halten das »warme Gefühl« beim Radfahren oder beim Bau von Solardächern schon für einen wichtigen Beitrag gegen den Klimawandel. Im schlimmsten Fall führt das zu persönlicher Enttäuschung und Erlahmung, wenn wir erkennen, dass trotz unserer guten Tat die weltweiten Emissionen ansteigen. Das würde die moralische Motivation ins Gegenteil kehren.

    Heißt das, wir sollen uns die Absicht abschminken, Gutes zu tun? Das wäre ein Missverständnis. Axel Ockenfels, Wirtschafts- und Verhaltensforscher aus Köln, wird nicht müde zu erklären, dass es darum geht, Gutes besser zu machen. Ist es nicht unsere moralische Verpflichtung, Herz und Hirn zu verbinden, und den Kampf gegen den Klimawandel rational und nach allen Regeln der Wissenschaft zu führen? Alles zu tun für die Gründung eines Clubs der Willigen wäre etwas, auf das die Bürger ihre Regierung moralisch (und mit ihrer Stimme) verpflichten müssten. Glückt es, ist es am Ende viel mehr wert, als die Erreichung deutscher Klimaziele, um die allein sich die Koalitionsklimaverhandlungen zu drehen scheinen.

    Rainer Hank

  • 05. November 2021
    King of Wall Street

    Blackrock-Chef Larry Fink Foto faz

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie Larry Fink den Kapitalismus lebt und begräbt

    Der Mann trägt langweilige Anzüge und eine randlose Brille, von der ihm sein Händler hätte abraten müssen. Er ist weder besonders originell noch besonders inspirierend, wenn er zum Beispiel darüber spricht, dass das deutsche Rentensystem chronisch unterfinanziert sei. Klar, er will Geschäfte machen, ist er doch von Beruf Vermögensverwalter, was sich ebenfalls undramatisch anhört. Dass der Mann, geboren 1952 in Los Angeles, heute über ein Anlagevermögen von zehn Billionen Dollar (10 000 000 000 000) gebietet, sieht man ihm nicht an. Understatement gehört zu seinem Selbst-Marketing. Und zur Camouflage seiner Macht, die gefährlich werden könnte.

    Laurence »Larry« Fink heißt dieser Mann. Sein Unternehmen heißt BlackRock, inzwischen weltweit der größte Vermögensverwalter der Welt, der Geld anlegt für Rentner, Oligarchen und Studenten – für Staatsfonds wie Kleinsparer. In Deutschland wurde BlackRock außerhalb der Finanzbranche bekannt, weil der CDU-Politiker Friedrich Merz eine Zeitlang als politischer Lobbyist für Fink gearbeitet hat. Doch das nur nebenbei.

    Fink ist ein Revolutionär. Ihm und seiner Branche ist es zu danken, dass Aktiensparen nicht zuletzt in Zeiten niedriger Zinsen für jedermann attraktiv geworden ist. Ziemlich einfach ist es ebenfalls: man braucht lediglich einen Computer und eine Online-Finanzplattform. Und günstig ist es noch dazu. Ich weiß, wovon ich rede. Jahrelang hatte meine Bank mir irgendwelche komplizierten Fonds verkauft, die für viele Bankangestellte Lohn und Brot sicherten, während ich eher leer ausging.

    Fink und seine Kollegen haben nicht den Anspruch, mit genialen Anlageideen den Markt zu schlagen. So langweilig wie Fink aussieht, so langweilig ist auch seine Geschäftsidee: Seine Fonds (auch als ETF bekannt) bilden lediglich diverse Börsen-Indizes ab (Dax, Eurostoxx, DowJones). Und selbst diese Idee stammt nicht von Larry Fink, sondern geht auf den in Chicago lehrenden Wirtschaftswissenschaftler Eugene Fama und seine Theorie der »effizienten Märkte« zurück, die besagt, dass selbst der Klügste den Markt nicht schlagen kann.

    Eine Innovation für alles Aktiensparer

    Als der ehemalige Chef der amerikanischen Notenbank Fed Paul Volcker während der Finanzkrise 2008 spottete, die einzige Innovation der Finanzindustrie jüngeren Datums sei die Erfindung des Geldautomaten, muss er die Index-Fonds übersehen haben, die ihren Ursprung schon in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten, ihren gewaltigen Durchbruch aber nach der Jahrtausendwende erlebten. Der Kapitalismus ist, anders als viele meinen, eben nicht für die Kapitalisten da, sondern für die Armen, die er reich macht. Die Index-Fonds beweisen es. Mit einem Sparplan von monatlich 100 Euro ließ sich in dreißig Jahren ein Vermögen von knapp 100 000 Euro aufbauen.
    Angesichts der vielen Filme über Helden und Bösewichte an Wall Street ist es verwunderlich, dass das Leben von Larry Fink nicht längst verfilmt wurde. Jetzt gibt es zumindest eine Teilbiographie Finks in einem dieser Tage erscheinenden spannenden Buch des Financial-Times-Journalisten Robin Wigglesworth: »Trillions. How a Band of Wall Street Renegades Invented the Index Fund and Changed Finance forever«.

    Fincks Biographie beweist wieder einmal, dass sich Erfolg nicht planen lässt. Dass aber ein paar Dinge den Erfolg erleichtern, vielleicht sogar wahrscheinlicher machen: Scheitern kann nicht schaden. Treue Freunde sind hilfreich. Der richtige Augenblick will ergriffen werden. Finanzkrisen sind Chancen zum Reichwerden. Und: Ohne Härte gegenüber sich und anderen geht es nicht.

    Fink wächst in Van Nuys bei Los Angeles auf. Sein Vater hat ein Schuhgeschäft (die Erfolgsgeschichte der Söhne und Töchter von Schuhverkäufern muss noch geschrieben werden), die Mutter ist Englischlehrerin. In Los Angeles studiert er Politikwissenschaft; mit Ökonomie beschäftigt er sich kaum. Weil er Freude an Geld hat, bewirbt er sich an Wall Street, wird von Goldman Sachs aber abgewiesen. »Ein Segen für mich«, hat er Robin Wigglesworth erzählt. Stattdessen startet er seine Karriere 1976 im Anleihegeschäft bei First Boston, einer Investmentbank, und wird dort rasch zum Star. Hier lernt er Robert Kapito kennen, der ihm bis heute als rechte Hand bei BlackRock treu geblieben ist. Kapito, Liebhaber teurer Weine, ist der Mann fürs Grobe, Fink gibt den Geschmeidigen.

    Zehn Jahre später, 1986, ist Fink für einen Verlust von hundert Millionen Dollar bei First Boston verantwortlich, weil er den plötzlichen Absturz der Zinsen nicht abgesichert hat. Aus dem Kandidaten für den Vorstandsvorsitz wird ein Ausgestoßener. Seinem Rausschmiss kommt er durch Kündigung zuvor. Die Niederlage spornt seinen Ehrgeiz umso mehr an: In Steve Schwarzman, dem Eigentümer der Private-Equity-Firma Blackstone, findet er einen großzügigen Finanzier, mit dem er sich später überwirft – des guten Namens von Blackstone wegen aber seine eigene Fondsgesellschaft BlackRock tauft (und damit verantwortlich dafür ist, dass ich eine Zeitlang beide Firmen verwechselt habe).
    Der glückliche Zufall schließlich ereignet sich mitten in der Finanzkrise 2009: Weil viele Finanzinstitute in den Strudel von Lehman Brothers gerissen werden, kann Fink zusammen mit seinem Kumpel Kapito der in Geldnot geratenen Barclays Bank ihre ETF-Sparte (genannt: iShares) abkaufen. Von da an entwickelt sich das Geschäft mit »passiven« Index-Fonds zum Selbstläufer. Mitte 2021 bringt es allein die iShares-Sparte von BlackRock auf ein Vermögen von drei Billionen Dollar.

    Aufstieg ohne Fall?

    Das Hollywood-Narrativ verlangt, dass dem sagenhaften Aufstieg des Helden der tiefe Fall folgt. Davon ist (noch) nichts zu sehen. Es gibt Schätzungen, wonach demnächst die Hälfte der Aktien der fünfhundert wichtigsten amerikanischen Firmen in Händen der Index-Funds sind. Das freut Larry Fink, bedeutet indes eine Zusammenballung von wirtschaftlicher Macht, die einen fürchten lässt und womöglich gefährlicher ist als die ständig öffentlich diskutierte Macht von Google, Amazon oder Facebook. Paradoxerweise könnte die Gefahr von BlackRock gerade in seiner stillen Passivität liegen. Wenn, grob gesagt, nicht nur »mein« Unternehmen, sondern auch das meines Konkurrenten beide Larry Fink gehören, dann erlahmt der Antrieb zum Wettbewerb. Es reicht, sich mit Larry Fink gut zu stellen.

    Ein Fall für die Kartellbehörden! Schlimmer noch: »Heimlicher Sozialismus«, wie vor ein paar Jahren ein Wall-Street-Banker spottete. Eine komplett passive Ökonomie sei fürchterlicher als eine zentrale Planwirtschaft, weil sie unternehmerische Eigeninitiative und Risikolust außer Kraft setze. Ob am Ende der totale Kapitalismus in dessen Aufhebung umkippt? Dialektiker aus der Schule von Hegel und Marx hätten ihre Freude daran.

    Eine englische Version dieser Kolumne findet sich auf dem Blog des Oxforder Finanzwissenchaftlers Martin Schmalz

    Rainer Hank

  • 05. November 2021
    Die Macht der Stimmungen und die Stimmungen der Macht

    Wie ist die Stimmung? Foto: br

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie der Zeitgeist Politik und Wirtschaft beeinflusst

    Gibt es eigentlich eine Wechselstimmung im Land? Das kommt darauf an, wen man fragt. Es gibt sie, und zwar auf Rekordniveau, behauptet eine Studie der Bertelsmann Stiftung vom August dieses Jahres. Fünfundfünfzig Prozent der Befragten sagten, es wäre gut, wenn die Bundesregierung in Berlin wechseln würde. Lediglich 16 Prozent optierten für den Status quo. Der Rest war unentschieden.

    Ganz anderer Meinung ist der Wahlforscher Karl-Rudolf Korte: »Die Deutschen lieben Stabilität«, sagte er noch kurz vor der Wahl zum Bundestag am 29. September. Sie seien risikoavers und favorisierten das Bekannte. Keine Spur also von Wechselstimmung.

    Was stimmt? Ich bin kein Wahlforscher, denke aber, beides könnte stimmen. Das wäre dann eine Erklärung für den unerwarteten Aufstieg von Olaf Scholz. »Deutsche Wähler mögen keine jungen Kennedys, keinen charismatischen Überschwang«, sagt Wahlforscher Korte. Solche Eigenschaften kann man Scholz nun wirklich nicht vorwerfen. Er verspricht einerseits Kontinuität, Verlässlichkeit und Respekt: Immerhin war er die vergangenen vier Jahre Finanzminister, ist nicht besonders aufgefallen, hat aber auch nichts wirklich falsch gemacht (sieht man einmal von Cum-Ex und Wirecard ab). Andererseits gibt er sich jetzt als Vertreter des gesellschaftlichen Fortschritts, der mit Grün und Gelb in einer »Koalition der Gewinner« vieles besser machen würde, was die SPD auch schon in den vergangenen drei großen Koalitionen hätte anders machen können. Auf Scholz können sich sowohl die einigen, die Wechsel wollen, als auch jene, die keine Experimente wollen. Er ist der kleinste gemeinsame Nenner des Wahljahres 2021.
    Wer wissen will, was wirklich eine Wechselstimmung ist, muss ein ganzes Stück zurückgehen in der Geschichte der Bundesrepublik. Zuletzt gab es so etwas im Jahr 1998, einige werden sich erinnern. Damals dominierte der Wunsch, den CDU-Kanzler Helmut Kohl abzuwählen. Statt Union und FDP wählten die Deutschen zwei Oppositionsparteien – Rot und Grün – in die Regierung. So einen Wechsel hat es nie zuvor und nie danach gegeben. Auch heute bilden zwar FDP und Grüne das eigentliche Machtzentrum der Koalitionssondierungen: Doch fest steht eben auch, dass sie sich mit Schwarz oder Rot einen Anker der vergangenen großen Koalitionen zur Stabilisierung suchen müssen.
    Der inhaltlich gravierendste polit-ökonomische Stimmungsumschwung der Nachkriegszeit hat sich indessen zwanzig Jahre vor Kohls Abwahl in Großbritannien ereignet als 1979 Magret Thatcher zur Premierministerin gewählt wurde. Das war zugleich der Abschied von der Idee eines staatsgetriebenen, keynesianisch-interventionistischen Wohlfahrtsstaats, hin zur Überzeugung, dass Märkte eine allen nützende Wachstumsdynamik entfalten würden, wenn man sie nur machen ließe. Angebots- statt Nachfragepolitik. Hayek statt Keynes. Laissez faire statt finetuning. So, grob und ungefähr, lauteten die Parolen damals.

    Die neoliberale Wende

    Die Wahl Thatchers war eine epochale Zäsur, bei der es um die Frage ging, wer die »Kommandohügel« (Lenin) in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft besetzt: Der Markt oder der Staat? Vom Jahr 1979 ging damals ein Signal in die Welt, dem sich weder rechte, noch linke, schon gar nicht liberale Parteien entziehen konnten. Nicht nur Ronald Reagan (1981) oder Helmut Kohl (1982), sondern eben auch Tony Blair (1997) und Gerhard Schröder (1998) zeigten sich davon überzeugt, dass der Wohlfahrtsstaat von seinen Verkrustungen befreit, Güter- und Arbeitsmärkte dereguliert und die Politik mit ihren bürgerbeglückenden Fantasien sich bescheiden müsse. Man nennt das heute die neoliberale Wende. Der Sozialdemokrat Gerhard Schröder war so gesehen zwar personell ein Neuanfang, ideengeschichtlich blieb er ein Enkel Margret Thatchers – was im Übrigen (eine Lieblingsfloskel Schröders) nicht zum Schaden des Landes war, denkt man an die Agenda 2010.

    An der neoliberalen Wende des Jahres 1979 zeigt sich die »Macht der Stimmungen«, von der der Soziologe Heinz Bude spricht. Doch was ist eigentlich eine Stimmung, wenn sie so viel Macht hat? Der Begriff stammt ursprünglich aus der Musik, wo es um die Festlegung von Frequenzverhältnissen geht, etwa in Bezug auf einen Referenzton wie den Kammerton »a« mit traditionell 440 Herz. Wenn es glückt, ist die Stimmung gut, wenn nicht, ist sie eher gedämpft. Aus der wohltemperierten Tönung der Musik hat sich der Begriff seit dem 18. Jahrhundert auf die Grundverfassung der Seele und das Verhältnis von Mensch und Welt erweitert. Eine Stimmung eint Menschen, mag die Gesellschaft auch ökonomisch, sozial oder politisch gespalten sein. Insofern übt die Stimmung ein Konformitätsgeschehen aus, das auch problematisch sein kann. Als sich zeigte, dass Armin Laschet hi und da nicht richtig zog, kippte die Stimmung, wie man so sagt – überraschenderweise zugunsten von Olaf Scholz, den vorher keiner auf dem Zettel hatte.
    Auch wenn es immer wieder Stimmungsmacher gibt (gar Stimmungskanonen), so bleibt doch verstörend, dass hinter der Macht der Stimmungen kein lenkendes Subjekt steckt. Niemand führt Regie. Die neoliberale Wende hat vorher niemand ausgerufen, sie war plötzlich da, ohne dass man sie gleich so genannt hätte. Ähnlich ging es dann auch mit dem »Ende des Neoliberalismus« (Wolfgang Streeck), das man erst wahrnahm, als es schon hinter einem lag. Stimmungen, gar Wechselstimmungen, kommen zwar nicht aus dem Nichts, aber sie kommen doch irgendwie über uns, vergleichbar einer Euphorie, Nostalgie oder gar Depression.

    Besser nicht regieren?

    Notabene – und damit zurück zur Politik – gibt es immer wieder Ereignisse, welche die herrschende Stimmung konterkarieren. Spektakulär passierte so etwas bei den Jamaika-Verhandlungen nach der Wahl 2017. Damals war die politische Stimmung eindeutig: Nie wieder Große Koalition. Dann gab es wochenlange Sondierungen für eine Jamaika-Koalition, welche die Liberalen am Ende platzen ließen, weil sie der Meinung waren, von Schwarz-Grün über den Tisch gezogen zu werden. »Besser nicht regieren, als schlecht regieren«, dieser Satz Christian Lindners ist seither das Trauma der Liberalen geworden, weil viele Wähler (vor allem viele Wähler, die zum ersten Mal FDP wählten) sich um ihre Stimme betrogen fühlten und den Liberalen vorwarfen, die herrschende Stimmung zu missachten.

    Im Nachhinein zeigte sich, dass die Verhandlungen damals gezeichnet waren von Spannungen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Parteien, bei welchen Egoismen und mit Misstrauen unterlegte interne Machtansprüche das Geschehen dominierten. Keiner traute keinem. Das führte dazu, dass es entgegen der verbreiteten Stimmung am Ende wieder zu einer von allen ungeliebten, großen Koalition kam.

    FDP und Grüne haben aus dem Unglück von 2017 vor allem eines gelernt: Wer Stimmungen ignoriert, verliert. Vieles spricht dafür, dass sie dieses Mal die Macht der Stimmungen besser zu nutzen verstehen.

    Gerkürzte Fassung meiner Einleitung zur Freiburger Tagungen »Stimmungen« am Walter Eucken Institut 8. Oktober 2021

    Rainer Hank