Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
10. Mai 2025Ein Herz aus Stammzellen
14. April 2025Lauter Opportunisten
07. April 2025Die Ordnung der Liebe
29. März 2025Streicht das Elterngeld
17. März 2025Der Kündigungsagent
17. März 2025Hart arbeiten, früh aufstehen
04. März 2025Kriegswirtschaft
21. Februar 2025Lasst Minderheiten regieren
12. Februar 2025Sägen, Baby, Sägen
12. Februar 2025Der Kiosk lebt
02. Mai 2022
Was sind westliche Werte?Es lohnt sich stets, Francis Fukuyama zu lesen
Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine sei ein Angriff auf den Westen. So hört man es oft. Deshalb gelte es jetzt, die »westlichen Werte« zu verteidigen – mit Hilfe von Wirtschaftssanktionen, wenn es sein muss auch mit Waffen.
Was sind westliche Werte? »Die Demokratie«, sagen viele. Die Antwort ist mindestens ungenau, man könnte auch sagen, sie ist falsch. Demokratie kennt viele Spielarten; nicht alle passen uns. Demokratie ist nicht mehr als ein Verfahren zur Legitimation einer Regierung durch das Volk. Das Volk kann auch Schurken wählen. Das ist dann nicht schön, aber immer noch Demokratie. Victor Orbán, der ungarische Regierungschef, ist stolz auf seine »illiberale Demokratie«. Liberalismus hasst er, Demokratie mag er: die Stimmen der Wähler stabilisieren seine Macht. Mit demokratischen Mitteln und einem ihn begünstigenden Wahlrecht hat Orbán sich zum Autokraten gewandelt. Seine Fidesz-Partei könnte an diesem Sonntag abermals die absolute Mehrheit im ungarischen Parlament erringen.
Liberalismus und Demokratie werden oft synonym verwendet. Das ist falsch. Wenn es um die Verteidigung westlicher Werte geht, dann sollte es um liberale Werte gehen. Die sind das Erbe der (west)europäischen Aufklärung. Den Liberalismus würde ich mit Zähnen und Klauen verteidigen. Ob ich die Demokratie stets verteidigen würde, kommt darauf an. China und Nord-Korea haben beide autokratische Regime, die sich »Volks«-Republiken nennen. Wenn Premierminister Narendra Modi einen hinduistischen Nationalismus in Indien installiert, hat er nicht die Demokratie verraten – aber den Liberalismus. Wenn Polens Regierung unliebsame Richter auswechselt und die staatsunabhängige Presse stumm schaltet, ist das kein Verstoß gegen die Demokratie, aber ein schwerer Schlag gegen die Rechtsstaatlichkeit.
Liberalismus bezähmt die Mehrheitsdemokratie
Man kann noch weiter gehen: Liberalismus hält demokratische Regierungen in Schach gegen deren Verführungsanfälligkeit für Populismus und Nationalismus. Gewaltenteilung relativiert die Macht der Exekutive, schützt Minderheiten gegen demokratische Mehrheiten. Für den amerikanischen Politikwissenschaftler und Stanford-Intellektuellen Francis Fukuyama ist »klassischer Liberalismus« ein Instrument, »in pluralistischen Gesellschaften Toleranz friedlich zu managen«. Die zentralen Ideen heißen Freiheit, Toleranz und Respekt vor der persönlichen Autonomie. Diese Werte muss eine Regierung garantieren, die ihrerseits durch das Recht diszipliniert wird und dieses auch respektiert. Der Rechtsstaat sichert das Privateigentum, die Vertragsfreiheit und freie Märkte: Nichts davon darf eine demokratisch gewählte Regierung über Bord werfen. Liberalismus ohne Marktwirtschaft geht nicht. Demokratie ohne Liberalismus geht. Ob Liberalismus ohne Demokratie geht, ist umstritten.
Dass der Liberalismus allenthalben auf dem Rückzug ist, lässt sich nicht übersehen. »Freedom House«, ein Thinktank in Washington, subsumiert für das Jahr 2020 nur noch 20,3 Prozent der Regierungen der Welt unter »free« (etwa Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA, Südafrika). 41,3 Prozent sind »not free« (Russland, China, Venezuela); 38,4 Prozent sind »partly free« (Ukraine, Ungarn, Singapur, Indien). Verglichen mit dem Jahr 2005 sind die Veränderungen in Richtung Illiberalität dramatisch: Damals zählten 46 Prozent der Staaten als »frei« und 31,1 Prozent »teilweise frei«.
Für Francis Fukuyama müssen diese Fakten eine tiefe Kränkung sein. Im Sommer 1989, noch vor dem Mauerfall, wurde er weltberühmt mit einem einzigen Zeitschriftenartikel, der die Überschrift »Das Ende der Geschichte?« trug. Drei Jahre später wurde daraus ein Buch, der Titel blieb stehen – bloß das Fragezeichen war verschwunden. Das war dann doch etwas voreilig, wie wir heute wissen. Fukuyamas damalige These: Totalitäre Systeme, Kommunismus und Faschismus zum Beispiel, stellen keine politischen Alternativen mehr dar. Vielmehr sei der Weg frei für eine liberale Demokratie, ein irdisches Paradies der Freiheit. Totalitäre Systeme seien zum Scheitern verurteilt, weil sie der liberalen Grundidee (Schutzrechte des Bürgers gegen den Staat, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft) widersprechen. Ein bisschen naiv war das schon damals – nach dem Motto: Das Gute setzt sich am Ende in der Geschichte durch.
Wohlfeil ist indessen die Häme, die sich seither über Fukuyama ergossen hat. Nichts ist produktiver als ein Irrtum von Format. Fukuyama arbeitet sich bis heute an seinem Fehlurteil ab. Sein gerade erschienenes neuestes Buch trägt den Titel »Liberalism and its discontents« (»Liberalismus und seine Zumutungen«). Es wurde vor Ausbruch des Ukraine-Krieges abgeschlossen, hat aber an Brisanz noch einmal gewonnen. Die These, salopp gesprochen: Der Liberalismus ist auch nicht mehr das, was er zu seinen besten Zeiten einmal war. Fukuyama äußert den Verdacht, der Liberalismus Mitschuld trage an der schwindenden Zustimmung zu den Werten der Freiheit und dem Siegeszug der Populisten und Autokraten.
Dogmatische Neoliberale gegen Linksliberale
Wie das? Einerseits hätten »dogmatische Neoliberale« (Ökonomen wie Gary Becker oder Milton Friedman), für Fukuyama sind das »Rechte«, aus der Idee freier Märkte eine Art absoluter Religion gemacht, Krisen des Kapitalismus nicht verhindert und zugelassen, dass in vielen Ländern (namentlich in USA) die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen unanständig und unerträglich geworden sei. Zugleich sei von den »Linksliberalen« die Idee der Toleranz und freien Rede als Privileg zum Machterhalt weißer Männer ideologiekritisch dekonstruiert worden (»repressive Toleranz«). Aus dem liberalen Auftrag, Ambiguität zu auszuhalten, wurde eine dogmatische Identitätspolitik: Gruppenloyalität unterscheidet zwischen Freund und Feind. Kurzum: Wenn der Liberalismus selbst kein gutes Beispiel mehr gibt, braucht man sich nicht zu wundern, dass Machthaber allerorten sich dem populistischen Nationalismus oder religiösem Fundamentalismus verschreiben.
Über Fukuyamas Thesen lässt sich streiten. Das macht sie wertvoll. Sie dienen erkennbar auch der Legitimation der Tatsache, dass die Weltgeschichte nicht auf Fukuyamas These gehört hat. Ich bezweifle, dass Putin, Orbán und Erdogan sich zum lupenreinen Liberalismus bekennen würden, wären die Vermögensungleichheit in Amerika geringer und die LGBTQ-Bewegung der westlichen Eliten weniger lautstark. Trotz seiner moralphilosophischen und ökonomischen Überlegenheit war der Liberalismus für seine Gegner immer schon dekadent, wurde der Kapitalismus von ihnen immer schon als plutokratisch verunglimpft.
Denen, die sich den Werten der Aufklärung verpflichtet fühlen, bleibt wohl nur, künftig noch entschiedener für liberale Toleranz zu streiten – und die Aporie zu ertragen, dass es keine Toleranz denen gegenüber geben darf, die ihre Politik auf Intoleranz, Krieg und Vernichtung gründen.
Rainer Hank
21. April 2022
Es braucht ein Gas-EmbargoSonst wird das nichts mit dem Wirtschaftskrieg
»Monday-Morning-Quarterback« nennen sie in Amerika die Kommentatoren der Sonntags-Footballspiele, die immer schon gewusst haben wollen, wie man das Spiel hätte gewinnen können. Dummerweise sagen sie das aber erst hinterher.
Von solchen späten Besserwissern fühle ich mich gerade umzingelt, wenn es um die Globalisierung und deren vermeintliche Naivität geht. Heute räche sich der Fehler einer zu engen wechselseitigen Verflechtung der Weltwirtschaft, so hören wir. Die Angewiesenheit der Deutschen auf russisches Gas und Öl verhindere ein wirkungsvolles Embargo gegen den Diktator Putin. Die internationale Arbeitsteilung der Lieferketten habe sich schon in der Corona-Krise als äußerst fragil erwiesen. Erst fehlen die Chips, seit Kriegsausbruch fehlen der deutschen Autoindustrie die Kabelbäume, weil die in der Ukraine hergestellt werden. Ökonomische Abhängigkeit – ein Irrweg?
Die Besserwisser sagen: Haben die Globalisierer gar nicht gemerkt, wie »vulnerabel« wir geworden sind? Schluss damit: Das neue Paradigma heißt »Slowbalization«, Verlangsamung des Welthandels. Die dazu passenden Modebegriffe lauten Resilienz und Autarkie. Der Preis dafür wäre hoch – ein Rückfall der Zivilisation und ein Verlust von Wohlstand. Einigeln im eigenen Heim – die Hafermilch liefert der Bauer um die Ecke. Vielleicht finden wir bald auch einen heimischen Bohnenkaffee-Ersatz: Kathreiners Malzkaffee mussten wir in den fünfziger Jahren trinken.
Nein, so doof wie sie heute dastehen, waren die Freunde der Globalisierung nie. Sehenden Auges wurde die weltweite Verflechtung der Wirtschaft vorangetrieben. Dafür gibt es ein starkes ökonomisches und ein ebenso starkes politisches Argument. Die Theorie der komparativen Vorteile weiß, dass in der internationalen Arbeitsteilung jedes Land sich auf das konzentrieren soll, was es relativ am besten kann – und dass davon wirtschaftlich alle profitieren. Politisch galt diese arrangierte Interdependenz als Friedensprojekt (»Wandel durch Handel«): Staaten, die miteinander Handel treiben, würden nicht aufeinander schießen, Warum sollten sie einander die Voraussetzungen ihres Wohlstands zerbomben? Wirtschaftliche Freiheit würde politische Freiheit nach sich ziehen, eine Fortschrittsentwicklung zum Nutzen aller. Aus globalen Kapitalisten würden am Ende gute Demokraten.
Die ökonomische Hoffnung hat sich empirisch bewahrheitet: Von der Globalisierung profitierten die deutschen und amerikanischen Automobilhersteller und die Armen in China und Indien. Die politische Hoffnung freilich ist gescheitert: Wachsender Wohlstand führte nicht zu mehr Demokratien, sondern hat die Autokraten und »illiberalen« Demokraten in aller Welt politisch stabilisiert und nicht geschwächt: das gilt für China, aber auch für Russland, wo freilich Korruption und schwache Institutionen das Wachstum immer schon bremsten. Putins imperialistischer Krieg nimmt den schlimmsten wirtschaftlichen Niedergang des Landes und die Verarmung der Bürger in Kauf: Dem Exodus der ausländischen Investoren und dem Abzug der zugehörigen Technologie folgt der Braindrain von Humankapital. Wir hatten dem Imperator mehr egoistische Rationalität unterstellt. Das war der Fehler des Westens.
Solidarität, die nichts kostet
Nun hat allerdings selbst heute die wirtschaftliche Abhängigkeit nicht nur negative Folgen: Der Westen kann auf die militärische Aggression und Barbarei Putins (auch) mit einem Wirtschaftskrieg reagieren und muss nicht die militärische Eskalation riskieren. Das wäre in Zeiten des kalten Krieges allein deshalb keine Option gewesen, weil die Sowjetunion kaum in die Weltwirtschaft eingebunden also auch nicht verwundbar war. Heute ist das anders: Sanktionen wirken, westliche Unternehmen ziehen sich zurück.
Man muss den Wirtschaftskrieg aber auch wollen. Mehr und mehr drängt sich der Verdacht auf, dass das ganze Solidaritäts-Gesäusel, das wir gerade von deutschen Politikern hören, nicht aufrichtig ist, so lange wir mehr mit uns selbst mitfühlen als mit den vom Krieg gequälten und getöteten Ukrainern.Niemand kann im Vorhinein Nutzen und Risiken eines Öl- und Gas-Embargos fehlerfrei saldieren. Bei deutschen Politikern merkt man freilich die Absicht und ist verstimmt: Ganz weit vorne steht ihre Angst vor murrenden Autofahrern an der Tankstelle (und die Furcht vor der Quittung dafür bei den anstehenden Landtagswahlen). Liebevoll führen wir Debatten, ob wir den deutschen Porschefahrern oder nur der Rewe-Kassiererin mit einem Rabatt auf den Spritpreis unter die Arme greifen dürfen. Wenn es um Gerechtigkeit geht, biegen wir stets in die Verteilungsstraße ein. Für die Ukraine haben wir Solidaritätsbekenntnisse auf den Lippen, die nichts kosten – einmal abgesehen von der Spenden- und Hilfsbereitschaft bei der Aufnahme der Flüchtlinge.
Hätte ein Öl- und Gas-Embargo Wirkung? Und würden wir so etwas verkraften? Dazu gibt es inzwischen von Ökonomen viel Kluges und verständlicherweise auch Widersprüchliches zu lesen. Zur Wirkung eines Embargos auf Putin halte ich mich an den russischen Ökonomen Sergei Guriev, einen in Paris lehrenden Wissenschaftler (man sollte das auf Youtube in den Webinaren von Markus Brunnermeier nachhören). Guriev lässt keinen Zweifel: Die Öl- und Gaserlöse (einerlei, ob in Dollar, Euro oder Rubel bezahlt) benötigt Putin, um Importe zu finanzieren, die russischen Staatsschulden zu bedienen und seinen Haushalt zu stabilisieren. Ein möglichst umfassender Öl- und Gas-Boykott triebe das Land in den Staatsbankrott. Es wäre der schnellste Weg, Putins Krieg zu stoppen, sagt Guriev.
Und die Kosten des Embargos hierzulande? Die Ausgabe deutscher Privathaushalte für Öl und Sprit lagen in den vergangenen Jahren historisch niedrig. Als der Liter Diesel im Jahr 2020 weniger als einen Euro kostete, gab es keine Gerechtigkeitsdebatte – dafür einen neuen Höchststand der Sparquote: Ein Teil dieser Ersparnisse ließe sich jetzt in einen echten Solidaritätsbeitrag eines Ölembargos umwidmen. Und die deutsche Wirtschaft? Die hat schon andere Rezessionen verkraftet. Moritz Schularick, ein Bonner Ökonom, bemerkt bissig: Die gleichen Unternehmen, die uns in der Vergangenheit erzählt haben, die Energieabhängigkeit von Russland sei kein Problem, sagen jetzt, wir können uns so schnell nicht von russischen Energielieferungen lösen.
Ich will es nicht kleinreden: Stagnation und Inflation wären nicht schön; keiner weiß, wie lange es dauert. Aber der Vergleich mit der Zeitenwende der Ölkrise 1973 ist Unfug: Damals war die Abhängigkeit von Öl und Gas viel größer. Und die Energiepreise waren relativ höher als heute. Der Weltuntergang findet nicht in Deutschland statt. Viel eher findet er derzeit in Mariupol oder Kiew statt. Das muss verhindert werden.
Rainer Hank
21. April 2022
Über die MenschenfresserGibt es einen Fortschritt im moralischen Bewusstsein?
Dass es einen Fortschritt gibt in der Geschichte, dies würde ich (fast) immer vehement verteidigen. Wir leben nicht nur länger als unsere Vorfahren. Wir leben auch besser und gesünder. Früher waren die meisten Menschen arm und nur wenige waren reich. Inzwischen geht es den meisten Menschen der Welt ordentlich – gemessen am Armutsbegriff der Weltbank: Arm ist, wer weniger als 1,90 Dollar am Tag zur Verfügung hat (bezogen auf die Kaufkraft im jeweiligen Land). Seit 1999 hat sich weltweit die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, um eine Milliarde verringert.
Geht der wirtschaftliche, mit großen Freiheitsgewinnen verbundene Fortschritt einher mit einem Fortschritt der zivilisatorischen Verbesserung der Menschheit und ihres moralischen Verhaltens? War die Weltgeschichte also zu etwas nütze? Drei Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufgewachsen sind, haben die Erfahrung gemacht, dass wir dauerhaft in einer friedlichen Welt leben und »klassische« Kriege, bei denen ein Land ein anderes Land überfällt, der Vergangenheit angehören. Gelänge es uns dann noch, den Terrorismus auszurotten, wären wir wirklich in der – subjektiv – besten aller Welten angekommen.
Seit dem 24. Februar 2022 sind wir skeptisch geworden gegenüber der Behauptung eines Fortschritts des moralischen Bewusstseins.
Dieser Tage bekam ich einen Essay des französischen Moralisten Michel de Montaigne (1533 bis 1592) zu Gesicht, der »Über die Menschenfresser« (1. Buch, Kapitel 33) überschrieben ist. Er ist unter Montaigne-Experten sehr berühmt. Ich muss allerdings eine Triggerwarnung voranschicken an meine Leser: Die Montaigne-Zitate, die gleich folgen, können ungute Vorstellungen und Gefühle auslösen.
Montaigne lässt sich berichten
Wie viele Menschen der damaligen Zeit interessierte sich auch Montaigne auf seinem Schloss in der südfranzösischen Dordogne für die Berichte aus der noch sehr neuen Neuen Welt. Als Kronzeugen bemüht er einen Forschungsreisenden, der ihm anschaulich und wahrheitsgetreu von den Sitten und Gebräuchen der Eingeborenen in (Süd)Amerika berichtet. Vermutlich handelt es sich um Brasilien, das damals eine französische Kolonie war. Montaigne vermutet, dass die abwertende Beschreibung der dortigen Einwohner als »Wilde« und »Barbaren« nicht aufrecht zu halten sei. Schon die alten Griechen nannten alle fremden Völker Barbaren, einfach nur deshalb, weil sie ihnen fremd waren, aber nicht, weil deren Sitten grausamer waren.
Zum Beleg dieser Vermutung lässt Montaigne seinen Gewährsmann ausführlich berichten, wie die »Wilden« in Amerika Kriege führen (ich zitiere nach der viel gepriesenen Übersetzung von Hans Stilett): »Die Eingeborenen pflegen gegen die weiter landeinwärts jenseits der Berge lebenden Völkerschaften ihre Kriege zu führen, in die sie völlig nackt ziehen, ohne andere Waffen als ihre hölzernen Bögen und Schwerter. Die Härte ihrer Kämpfe, die niemals ohne mörderisches Blutvergießen enden, ist ungeheuer, denn von Furcht und Flucht wissen sie nichts. Jeder bringt als Trophäe den Kopf des von ihm getöteten Feindes mit und hängt ihn an den Eingang seiner Unterkunft.«
Und dann kommt Montaigne darauf zu sprechen, wie die Eingeborenen mit einem Gefangenen umgehen, den sie vor den Augen einer großen Versammlung mit mehreren Schwertstreichen niedermachen: »Sodann braten sie ihn, essen gemeinsam von ihm und schicken einige Stücke auch ihren abwesenden Freunden. All dies tun sie keineswegs, um sich zu ernähren, sondern um ihren leidenschaftlichen Rachegefühlen Ausdruck zu geben.« Man könnte meinen, grausamer und barbarischer gehe es nicht mehr. Doch dann berichtet Montaigne übergangslos, wie die Portugiesen – kein wildes, sondern ein christliches Volk – die gefangenen Eingeborenen umbringen, »indem man sie bis zur Hüfte eingrub, auf den aus der Erde ragenden Oberkörper einen Pfeilhagel niedergehen ließ und sie dann aufhängte«.
Ihn ärgere keineswegs, so kommentiert Montaigne, dass wir mit Fingern auf die barbarische Grausamkeit der »Wilden« zeigen. Empörend finde er indes, dass wir bei einem derartigen Scharfblick für die Fehler der Menschenfresser unseren eigenen Grausamkeiten gegenüber so blind seien: »Ich meine, es ist barbarischer, sich an den Todesqualen eines lebendigen Menschen zu weiden, als ihn tot aufzufressen.«
Die Barbarei war nie weg
Wir könnten die Menschenfresser also nach Maßgabe der Vernunftregeln durchaus Barbaren nennen, konzediert Montaigne, nicht aber nach Maßgabe unseres eigenen Verhaltens, da wir sie in jeder Art von Barbarei überträfen – nicht zuletzt darin, dass wir unserem barbarischen Verhalten auch noch einen Sinn unterlegten, um es zu rechtfertigen. Ent-Nazifizierung, Befreiung des russischen Volkes, so heißen die heutigen Rechtfertigungen, die aus westlicher Sicht absurd klingen, von den Aggressoren aber für bare Münzen genommen werden. Irgendeine Rechtfertigung lässt sich immer finden.
Der große französische Ethnologe Claude Levy-Strauss hat Montaignes Menschenfressertext im Jahr 1992 einen großen Vortrag gewidmet: »Rückkehr zu Montaigne«. Wenn nach Maßgabe der Vernunft frühe und moderne Gesellschaften dazu neigen, der Barbarei zu verfallen, müsste ein »Gesellschaftsvertrag« zu Humanität und Moralität verpflichten. Gerade weil sich die Menschen im Lauf der Geschichte nicht etwa immer weniger barbarisch verhalten, sondern die Methoden ihrer Grausamkeit sogar noch verfeinern, hülfe eine Übereinkunft der Vernunft zu reziproker Friedlichkeit, so die Hoffnung von Rousseau oder auch Hobbes. Nicht aus Nächstenliebe oder aus pazifistischer Gesinnung, sondern weil es in allseitigem Interesse wäre, einander nicht mit Kriegen das Leben, die Freiheit, das Eigentum und die Chance, sein Glück zu verfolgen, mit Panzern und Raketen zu zerstören.
Doch die Idee des Vertrages ist schön, aber brüchig, wie wir gerade sehen. »Entwickelte« Völker sind nicht besser als »primitive« Völker, die zu idealisieren (»edle Wilde«) ebenfalls in die Irre führt. Weder die Vernunft noch die Religion weisen einen Ausweg zum dauerhaften Frieden. Montaigne: »Unsere Religion ist gestiftet, die Laster auszurotten. Jedoch: Sie bahnt ihnen den Weg, unterhält und reizt sie noch.« Die religiöse Letztbegründung der barbarischen Aggression besorgt der Patriarch einer christlichen Kirche.
Am Ende bleibt der Relativismus, die Einsicht, dass unsere Sitten nicht weniger eigentümlich oder gar »moralisch besser« sind als die der anderen. Bei Montaigne führt der Relativismus nie in einen zynischen Fatalismus. Zugleich hat er als Skeptiker Zweifel an der Idee einer Utopie, die meint, sie könne »nach Maßgabe der Vernunftregeln« unsere Welt pazifizieren. Weiter sind wir auch heute nicht. Die Barbarei war nie weg. Sie ist und bleibt immer präsent.Rainer Hank
30. März 2022
Gentleman's personal GentlemenRussische Oligarchen und Großbritanniens Butler-Industrie
Für Oligarchen habe ich mich nie besonders interessiert. Es ist nicht so, dass mir Neid oder Bewunderung als Gefühle fremd wären. Doch die in London lebenden Superreichen (mit angeschlossener Luxusyacht und Fußballverein) sind so weit von meinem Alltag entfernt, dass mir das Vorstellungsvermögen für ihre Welt fehlt.
Mein Interesse an Oligarchen hat sich seit Ausbruch des Krieges schlagartig verändert. Soweit ich es verstanden habe, gibt es übrigens keine großen Profil-Unterschiede zwischen russischen und ukrainischen Oligarchen. Die Russen stehen nur deshalb im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil sie jetzt unter die Wirtschaftssanktionen fallen.
Ein Oligarch ist nach gängiger Definition ein steinreicher Mann – Frauen kommen nicht vor -, der auf undurchschaubare Weise an sein Geld gekommen ist und mit diesem Geld Macht ausübt auf Politik und Wirtschaft. Eine Milliarde britische Pfund oder Dollar scheint das Mindestvermögen für die Aufnahme in den Club zu sein. Man nennt sie auch »Wirtschaftsmagnaten«, »Tycoone« oder, ganz negativ, Kleptokraten. Die Geburtsstunde der neueren Oligarchen-Generation datiert in die Zeit des Zerfalls der Sowjetwirtschaft und der Privatisierung der Staatswirtschaft (Gas, Öl, Metalle). Marktwirtschaftlich gesehen war das alles in Ordnung. Star-Ökonomen wie Jeffrey Sachs von der New Yorker Columbia-Universität empfahlen als Transformationsberater einen radikale Systemwechsel (»Big Bang«).Die Zeit der Systemtransformation war für clevere Männer aus der alten Nomenklatura die Gelegenheit, schnelles Geld zu machen. Oder in den Worten der deutsch-ukrainischen heute Grünen Politikerin Marina Weisband: »Privatisieren hieß: zusammenklauen. Menschen brachten unfassbare Bestechungssummen in die Kreditabteilungen der Banken und kauften alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war.« Die Gewinne aus solchen Geschäften investierten die werdenden Oligarchen nicht in den Aufbau einer gesundenden Wirtschaft in ihrer Heimat, sondern transferierten sie außer Landes: besonders gerne nach London. Seither spricht man dort von Moskau an der Themse oder Londongrad.
Warum London? Da gibt es eine sehr rationale Paradoxie. Gerade Milliardäre aus Staaten, die es mit Vertragsfreiheit und Privateigentum nicht so genau nehmen, achten peinlich darauf, ihr Vermögen in sichere westliche Rechtsstaaten zu schaffen. Das viele Geld ist bei der HSBC oder der Royal Bank of Scotland einfach sicherer als bei der Sberbank (Savings Bank of the Russian Federation) oder der Gazprombank, jedenfalls solange es nicht gerade einen Boykott gibt. Hinzu kommt: London ist ein idealer Ort für das, was die Soziologen »ostentativen Konsum« nennen. In der Nachbarschaft des Kensington Palasts – Lady Di und Prinzessin Margaret wohnten dort – hat man den Aufstieg in den Kreis der feinen Leute geschafft: Eine royale Nachbarschaft adelt.
Ideale Bedingungen für die Geldwäsche
Doch es gibt, wie in der Theorie der Migration, auch noch viel stärkere Pullfaktoren, begünstigende Umstände, die London für postkommunistische Milliardäre attraktiv werden ließen. Das hat abermals mit der Lehre der Marktwirtschaft zu tun: ehrliche Kaufleute vertrauen einander unabhängig von ihrer Nationalität. Die Grenzen zwischen selbstverständlichem und blindem Vertrauen sind fließend. Es hat aber auch mit der Aussicht vieler Menschen zu tun, an viel Geld zu kommen: Gemeint sind hier nicht die geldgierigen Oligarchen selbst, sondern die vielen Menschen, die sich an ihnen bereichern.
Als Pull-Faktor betrachtet, sind genau dies die idealen Bedingungen für Geldwäsche. Die Kopie eines Personalausweises genügte in den neunziger Jahren, um in London Immobilien in großem Stil zu erwerben. Dass hinterher im Grundbuch nicht der Name aus dem Personalausweis eingetragen war, sondern eine Firma mit Sitz auf den Jungferninseln, scherte niemanden. Amnesty International beziffert den Wert der heute von russischen Oligarchen gehaltenen Londoner Liegenschaften auf 1,5 Billionen Pfund. Jetzt rächt es sich, dass sich in den neunziger Jahren keiner für die Herkunft des Geldes interessiert hat. Entsprechend ist es heute schwer, zwischen »bösem« Putin-Geld und »normalen« Vermögen zu unterscheiden: »Großbritannien ist kein Platz für schmutziges Geld«, meint der Britische Premierminister Boris Johnson. Gut gebrüllt: Doch wer unterscheidet Schmutz von Sauberkeit?
Butler-Business statt Britischem Empire
Dass an derartiger Provenienzforschung bislang niemand wirklich interessiert war, liegt an der riesigen Dienstleistungsindustrie, die bis heute an den Oligarchen verdient. Diese Industrie ist es, die ihnen ihr Luxusleben ermöglicht. Der Schriftsteller Oliver Bullough nennt diese Industrie in einem neuen Buch, auf das die Financial Times am vergangenen Wochenende zu Recht lobend hinwies, »Butler für die Welt«. Gemeint sind die Immobilienmakler, die die Grundstücke und Paläste aussuchen, die Notare und Rechtsanwälte, die alles ordentlich testieren und Schiedssprüche aushandeln und die Banker, die aus viel Geld noch mehr Geld zu machen versprechen. Und das ist nicht alles: Hinzu kommt das viel gelobte Bildungssystem mit seinen Elite-Internaten und die Gesundheitsindustrie in England, wo man für gutes Geld beste Behandlung kaufen kann. Und natürlich die Caterer, die dafür sorgen, dass es bei den Partys nur besten Champagner und edelsten Kaviar gibt. Zur Pflege der Umgebung, aber auch um als guter Bürger dazustehen, sind Oligarchen gern gesehene Mäzene für Museen und Universitäten. Auch für beide großen Parteien fiel die ein oder andere großzügige Spende ab.
Butler in dieser Welt sind also nicht einfach nur Diener in weißem Livree. Es sind Scharen von Dienstleistern, die von den Oligarchen ein stabiles Einkommen beziehen. Reginald Jeeves, Butler in den Romanen von P.G. Wodehouse, nennt sich stolz »Gentleman’s personal Gentleman«. Bullough greift historisch weit zurück und zeigt, dass die britische Butler-Industrie das Kompensat war für die Kränkung des Imperiums nach der Suez-Krise (1956), rettende Idee eines neuen Geschäftsmodells für die »City«.
Aus all dem lassen sich drei verstörende Überlegungen ableiten. (1) Monokulturen in der internationalen Arbeitsteilung sind gefährlich. Sie bergen die Gefahr der Abhängigkeit. Teile der Dienstleistungsindustrie in London und anderswo haben sich abhängig gemacht von den Oligarchen. Europa hat sich abhängig gemacht von russischem Öl und Gas. (2) Wenn Ignoranten oder gar Feinde der Marktwirtschaft Markt und Rechtsstaatlichkeit legal benutzen, um sich zu bereichern, liegt das dann an der Naivität oder Profitgier der Marktwirtschaftler oder an der kriminellen Energie der Oligarchen? (3) Der alte Streit darüber, oder der Markt seine eigene Moral generiert (Friedrich A. von Hayek) oder ob er andauernd Moral verzehrt (Wilhelm Röpke) fällt – zumindest in diesem Fall – zugunsten von Röpke aus.
Rainer Hank
15. März 2022
Das Charisma des TyrannenWarum Menschen freiwillig Knechte werden
Warum unterwerfen sich Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten den Befehlen einer Regierung, die ihrerseits nur aus einer kleinen Minderheit dieser Menschen besteht? Murray Rothbard (1926 bis 1995), ein anarcholibertärer Ökonom, behauptet, dies sei das zentrale Problem der politischen Philosophie: Despoten halten sich nicht allein deshalb an der Macht, weil sie Bösewichte sind und ihre Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen. Hinzu kommt eine freiwillige Gefolgschaft der Untertanen, eine Art Hörigkeit, ohne welche nicht zu erklären wäre, warum zum Beispiel viele Menschen in der Sowjetunion nach Stalins Tod Tränen weinten und um ihren größten Peiniger trauerten, anstatt Freudentänze aufzuführen. Auch die Römer, so wird es überliefert, beweinten Nero nach seinem Tod trotz seiner Grausamkeiten.
Tyrannen müssen nicht immer Putschisten sein, die sich mit Gewalt an die Spitze eines Staates gebracht haben. Tyrannen kommen in der Geschichte auch vor als »lupenreine Demokraten«, die durch legale Wahlen an die Macht gekommen sind. Die Kehrseite des Despotismus ist nicht selten ein Paternalismus, welcher die nackte Machtausübung als väterliche Fürsorge camoufliert. Die Machthaber lassen sich dafür von Dichtern, Musikern oder Managern huldigen, die ihrerseits von der Gunst der Machthaber profitieren.
»Das Rätsel der Tyrannenherrschaft ist so unergründlich wie die Liebe«, lesen wir bei dem französischen Autor Étienne de La Boétie (1530 bis 1563). Nicht nur für den amerikanischen Liberalen Murray Rothbard, sondern auch für den deutschen Pazifisten Gustav Landauer ist La Boétie der beste Führer zur Ergründung des Paradoxes, warum Menschen sich freiwillig in Knechtschaft begeben. Und für die Frage, wie wir uns aus dieser Hörigkeit befreien können. Der französische Moralist Michel de Montaigne, ein Zeitgenosse, war von La Boéties »Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft« so begeistert, dass er beschloss, den Verfasser kennenzulernen. Daraus ergab sich eine innige Freundschaft bis zu La Boéties frühem Tod. Den Pazifisten gilt La Boétie als Begründer des »zivilen Widerstands«. Im zweiten Weltkrieg erschien seine Schrift in den Vereinigten Staaten unter dem Titel »Anti-Dictator« mit Anmerkungen zu Themen wie »Appeasement ist sinnlos« oder »Warum Führer Reden halten?« (»Why Führers make speeches«)
Muss ich begründen, warum ich La Boéties Schrift in diesen dunklen Tagen als Lektüre empfehle?Gift der Knechtschaft
Woher kommt das »Gift der Knechtschaft«? Demokratische Herrscher, schreibt La Boétie, seien nicht besser als gewaltsame Usurpatoren oder erbrechtlich abgesicherte Monarchen. Alle erliegen sie dem »Reiz der Größe«, wollen die Macht, einmal errungen, nicht mehr abgeben. Auch der demokratische Herrscher, der seine Herrschaft der Wahl durch das Volk verdankt, trachte danach, die Macht, die ihm vom Volk verliehen wurde, anschließend gegen dieses zu wenden: »Das Volk schlägt sich in Fesseln, schneidet sich die Kehle ab, gibt die Freiheit für das Joch dahin.« La Boétie schreibt, Caesar sei ein Herrscher, »der die Gesetze der Freiheit aufhob und an dem nichts Gutes, wie ich glaube, zu finden war«. Und doch wurde er über alle Maßen verehrt.
Die »Lockpfeife der Knechtschaft« ist eben nicht die Gewalt, sondern die Verführung: Es ist sogar eine besonders geschickte Verführung, mit der es dem Herrscher gelingt, sich die Abhängigkeit, ja Liebe seiner Untertanen zu sichern, wofür sie sogar bereit sind, ihre Freiheit zu opfern. Mittel der Verführung sind »Spiele und Possen«, vor allem aber von den Herrschern verteilte materielle Wohltaten: »Und so betrogen sie den Pöbel, dessen Herr immer der Bauch ist.« Sie teilen »Korn, Wein und Geld« aus, schreibt La Boétie – und erkaufen sich damit die Wiederwahl.
Die britische Autorin Sarah Bakewell erklärt in ihrem schönen Buch über Michel de Montaigne (»Wie soll ich leben?«) dessen Freund La Boétie gerade deshalb zum »Helden der Freiheit«, weil er wie kein zweiter die »Dramaturgie der Unterwerfung« analysiert habe, die der Diktator schafft. Dieses Drehbuch zieht sich durch die Geschichte. Als der Henker des ugandischen Diktators Idi Amin gefragt wurde, warum er Amin so treu gedient habe, antwortet er: »Sehen Sie, es ist Liebe.«
Warum Hörigkeit destruktiv ist
Natürlich ist es keine Liebe, sondern Hörigkeit, welche die vom Machthaber Abhängigen mit Liebe verwechseln. Unter Hörigkeit verstehen die Psychologen die gefühlsmäßige Bindung an einen anderen Menschen in einem Maße, in dem die persönliche Freiheit und menschliche Würde aufgegeben werden. Der Herrscher kann dann über die sich unterwerfende Person verfügen, was ihm selbst dann gelingt, wenn er die Grenzen von Recht und Moral missachtet.
Loyalitäts- und Hörigkeitsbindungen wird man nur schwer wieder los. Doch Étienne de la Boétie ist am Ende kein Fatalist. Er glaubt nicht, dass die Menschen dauerhaft dazu bereit sind, sich ihre Freiheitsrechte abkaufen zu lassen. Sein Freiheitsimperativ lautet: Hört auf, den Despoten und Populisten zu gehorchen. Was Anarchisten und Libertäre am meisten an La Boétie bewunderten, war die auch von Mahatma Gandhi propagierte Idee, eine Gesellschaft könne sich dadurch von der Tyrannei befreien, dass ein oder mehrere Einzelne mit Charisma und Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung dem Unterdrücker ihre Loyalität und Zusammenarbeit aufkündigen: Kassiert eure Einwilligung, Sklaven der Volkstribunen zu sein! »Stillschweigende Verweigerung« nennt La Boétie das. Tiefreligiös, wie er war, hoffte er auf Gottes Hilfe, dem nichts mehr zuwider sei als die Tyrannei. Und er tröstete sich damit, dass Gott den Tyrannen und ihren Mitschuldigen besondere Qualen aufspare.
Wenn ein paar Einzelne das Joch abschütteln, meint La Boétie, dann nur deshalb, weil ihnen der Blick auf die Geschichte die Augen geöffnet hat. Statt die Verhältnisse hinzunehmen, in die sie hineingeboren wurden, erlernen sie die Kunst, zur Seite zu treten und die Dinge aus einer distanzierten Perspektive zu betrachten.
Wo ist die Instanz, die zum Widerstand legitimiert? Die religiöse Legitimation, die für den Autor des 16. Jahrhunderts noch ganz selbstverständlich war, steht uns heute nicht mehr zur Verfügung. Worauf können wir uns berufen, wenn wir zur »stillschweigenden Verweigerung« ermuntern? Menschlichkeit, Würde, Selbstachtung, Wahrheitsliebe kommen einem in den Sinn. Und wie verhindern wir, dass die Befreiung von der einen Abhängigkeit mit dem Preis einer neuen Loyalität erkauft wird – das Schicksal vieler Illoyaler, die als Renegaten enden und sich dem Druck einer neuen Gruppe genauso unterwerfen wie früher der alten? Der Unheilszusammenhang von Loyalität und Exklusion wäre dann zurück, nur die Kulisse hätte gewechselt.Rainer Hank