Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 14. Juli 2022
    Zeitenwende 1972

    Abitur72 Dillmann-Gymnasium Stuttgart Foto privat

    Dieser Artikel in der FAZ

    Sind die guten Jahre jetzt vorbei?

    Im Frühjahr 1972, also vor genau 50 Jahren, hielt ich mein Abiturzeugnis in der Hand. An diesem Juli-Wochenende 2022 trifft sich unsere Klasse in Stuttgart. Auftakt ist in der alten Schule (inzwischen viel schicker geworden mit Aula, Schwimmbad und Spanisch im Angebot), anschließend Führung durch die Stadt (die ist auch schicker geworden, zum Glück hat man den scheußlichen Kleinen Schloßplatz weggesprengt) und anschließender Feier im Gasthaus (mit Maultaschen und so). Wie man das halt macht, mit ein bisschen Bangnis im Voraus, ob man noch alle kennt und sich noch etwas zu sagen hat.

    Unsere Gefühle waren damals nicht viel anders als die der Abiturienten von heute: Die Welt steht offen, das Leben darf in vollen Zügen gelebt werden. Was wir nicht gemerkt haben: Das Jahr 1972 markiert eine, wenn nicht die entscheidende Zäsur der Nachkriegsgeschichte. Die »goldenen Jahre« gingen zu Ende; das Wirtschaftswunder verabschiedete sich – nicht nur hierzulande, sondern in der gesamten westlichen Welt. Hätten wir es bemerkt, wir hätten uns in unseren Zukunftsoptimismus kaum irritieren lassen. Aber als Zeitgenosse ist man ohnehin ein schlechter Deuter seiner Gegenwart. Das können die Historiker hinterher besser. Die Eule der Minerva beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug, wie man zu sagen pflegt.

    Der amerikanische Ökonom Paul Krugman (er ist mein Jahrgang, einen Monat jünger) kommt regelmäßig ins Schwärmen, wenn er von den »glorreichen Jahren« nach dem Zeiten Weltkrieg erzählt. Vergangene Woche tat er es in seiner New-York-Times-Kolumne mal wieder besonders überschwänglich: dem Kapitalismus waren seine schroffen Ecken und Kanten von starken Gewerkschaften abgeschliffen worden, die Regierungen bekannten sich zu ihrer Verantwortung als Wohlfahrtsstaaten, die Inflation war niedrig, das Wachstum hoch, die Ungleichheit gering. Hierzulande nannte man dieses Arrangement »soziale Marktwirtschaft«. Krugman spricht von den »anständigsten Gesellschaften, welche die Menschheit je gesehen hat«. Nun ja, im Älterwerden neigt man dazu, seine Jugend zu verklären. Bei uns in Deutschland firmierten die Fünfziger- und Sechzigerjahre ja lange eher unter dem Label »spießige Adenauerzeit«.

    Die goldenen Nachkriegsjahre

    Tatsächlich, so Krugman unter Verweis auf seinen Kollegen Brad DeLong, gab es nur zwei Phasen in der Geschichte (sieht man einmal von einer kurzen Phase im alten Rom ab), in denen sich wirtschaftliches Wachstum mit einer Steigerung von Glück und Zufriedenheit bei den Menschen paarte. Es waren die vier Jahrzehnte nach 1870, als der Fortschritt der industriellen Revolution in der der westlichen Welt angekommen und nicht gleich wieder vom Bevölkerungswachstum aufgefressen wurde. Diese Phase endete abrupt im Jahr 1914 mit dem – damals so genannten – Großen Krieg.

    Die zweite Phase des Glücks begann nach dem Zweiten Weltkrieg und endete, nicht ganz so abrupt, in den auf 1972 folgenden Jahren. Was war passiert? Im Frühjahr 1972 warnte der »Club of Rome«, dass das Wachstum nicht grenzenlos sein würde und das Öl nicht ewig zum Heizen reichen würde. Das hörte sich gefährlich an. Seit den fünfziger Jahren war Deutschland von heimischer Steinkohle mehr und mehr auf Öl aus Nordamerika, Russland und dem Nahen Osten umgestiegen: schon einmal hatte man sich also von ausländischem Öl und der Macht des Opec-Kartells abhängig gemacht. Zugleich kam die bis dahin gefeierte Atomenergie (Walt Disney: »Unser Freund – das Atom«) in die Fundamentalkritik. 1972 wurden der deutsche »Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU)«, 1973 Greenpeace gegründet. In Whyl am Kaiserstuhl hatten sich die Weinbauern mit der neuen grünen AKW-Bewegung verbündet, um den Bau eines Atomkraftwerks zu verhindern.

    Als dann 1973 ägyptische Flugzeuge israelische Stellungen auf dem Sinai angriffen (»Yom-Kippur-Krieg«), drosselte die Opec die Öl-Fördermenge, um die westlichen Staaten zu schwächen. Deutschland sprach vom »Ölpreisschock« – und legte hektisch ein Energiesparprogramm auf, um die Abhängigkeit vom Öl zu reduzieren: Ausbau des Braunkohlebergbaus, ein erster Großversuch mit Sonnenenergie und vielfältige Appelle zum Energiesparen, die ihren Höhepunkt in den sogenannten autofreien Sonntagen fanden, als wir uns zu Spaziergängen auf den Autobahnen trafen. Komisch, dass sich das heute ganz vertraut anhört.

    Ob man uns damals auch schon aufgefordert hat, die Duschzeit zu reduzieren, erinnere ich nicht mehr. Was danach kam weiß ich allerding schon noch: Die Inflation stieg 1972 auf sechs Prozent, zwei Jahre später dann auf 13 Prozent. Die Gewerkschaften suchten die Reallohnverluste wettzumachen. In der sogenannten Klucker-Runde setzte der öffentliche Dienst elf Prozent mehr Lohn durch, ein Datum, dass zumindest mit zum Sturz von Kanzler Willy Brandt beitrug.

    Alles klingt erschreckend aktuell

    Von »Zeitenwende« war damals nicht die Rede. Die Schlagworte hießen »Kulturwende« (Robert Held in der FAZ) oder »Tendenzwende« (Hermann Lübbe). Anfangs war damit lediglich der ökonomische Schock gemeint, später mündete dies in den moralischen Apell, unser Leben zu ändern. Die Tendenzwende verlangte eine konservative Genügsamkeit.

    Energiekrise, Inflation, Stagnation, Rezession, Lohn-Preis-Spirale, ein Krieg, an dem die ganze Welt indirekt beteiligt ist und Appelle, Verzicht im Großen wie im Kleinen zu üben: Die Stichworte muten in der Tat gespenstisch aktuell an. Auch wir haben seit der Jahrtausendwende zwanzig gute Jahre hinter uns. Man durfte hoffen, Corona werde Episode bleiben und danach brächen die »goldenen Zwanziger« an, Zeiten des ausgelassenen Konsums nach Wochen des häuslichen Gefängnisses, genannt Lockdown. Stattdessen finden wir jetzt vor in einer »Ära der Unsicherheit« (Jens Weidmann).

    Deutschland ist nach Auskunft der Wirtschaftshistoriker übrigens in den Siebzigern mit einem blauen Auge davongekommen, weil die Bundesbank relativ schnell durch eine restriktive Geldpolitik, also höheren Zinsen und einer Verknappung der Geldmenge, die Inflation stoppen konnte. Dieser Ausweg ist heute verstopft, weil es keine nationale Geldpolitik mehr gibt und die Europäische Zentralbank ihr Stabilitätsziel aus dem Auge verloren hat, weil die Sorge größer ist, mit höheren Zinsen die Südländer im Euroraum fiskalpolitisch zu strangulieren.

    Ob die »Konzertierte Aktion« uns Rettung bringt, die der Kanzler ins Leben gerufen hat? Das glaube ich nicht. »Unterhaken« (Olaf Scholz) ist SPD-Romantik. Lieber halte ich mich an den »realistischen Optimismus«, den ich dieser Tage im Blick einer jungen Frankfurter Abiturientin des Jahres 2022 zu erkennen glaubte.

    Rainer Hank

  • 05. Juli 2022
    Antikapitalismus aus Kassel

    Documenta Fifteen Was wurde hier abgehängt? Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Die Documenta ist ein Dokument des Antiliberalismus

    Was hat die Documenta 2022 mit der Finanzkrise von 2008 zu tun? »Nichts«, würden die meisten Menschen sagen. Weil mir seit Eröffnung der Kunstschau in Kassel ständig Déjà-vu- Erinnerungen an die Weltfinanzkrise durch den Kopf gehen, mache ich heute den Versuch, eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Ereignissen zu behaupten: Denn Finanzkrise und Documenta sind zwei Anschauungsbeispiele für das »Prinzip Verantwortungslosigkeit«.

    Die Documenta gilt zwar als Schau der künstlerischer Avantgarde. In diesem Jahr versteht sie sich aber als Zurschaustellung einer alternativen Ökonomie, so dass selbst die Kunstkritiker fragen, ob es überhaupt noch um Kunst gehe, oder nicht vielmehr um eine »polit-ökonomische Kundgebung«.

    Den polit-ökonomischen Anspruch leugnen die Akteure in Kassel keineswegs. Ich fasse die Ideen zusammen: Statt einzelnen Künstlern gibt es auf der aktuellen Documenta ausschließlich Kollektive. Diese propagieren eine ökonomische Alternative des »globalen Südens« gegen den Individualismus, Elitismus und entfesselten Kapitalismus des »globalen Nordens«. Individualismus und Kapitalismus gelten ihnen als die Ursachen für alles Böse in der Welt: Geldgier, Patriarchat, Kolonialismus. Die Opfer dieser Unterdrückung begehren nicht nur auf, sie bringen auch ein alternatives Konzept zur Darstellung, wie wir künftig besser leben und wirtschaften können.

    Der Kern dieser alternativen Documenta-Ökonomie heißt »Lumbung«. In Indonesien bezeichnet der Begriff die in eine Reisscheune eingebrachten Überschüsse der Ernte, die untereinander verteilt und an die Bedürftigen weitergegeben werden. Die Früchte der Erde sollen allen nach Maßgabe ihrer Bedürftigkeit und in gerechter Verteilung zur Verfügung stehen. Und eben nicht dem Knappheits-Prinzip von Angebot und Nachfrage unterliegen und sich dem Preisdiktat des Geldes unterwerfen. Konsequenterweise negiert dieser Kollektivismus auch das Privateigentum und die Idee des individuellen Besitzes. Statt Kapitalismus propagiert die Documenta 2022 die Idee eines nachhaltigen Kreislaufs von Waren und Werten (genannt Ekosistem), welcher sich der mörderischen Ausbeutung der Ressourcen durch den Kapitalismus widersetzt.

    Diese alternative Idee des Wirtschaftens ist tatsächlich radikal. Ich finde, sie ist sogar einigermaßen konsequent gedacht, also nicht irrational. Mehr noch: Die Documenta propagiert ja nicht nur eine Idee, sondern sie bringt sie zugleich zur Darstellung. Das geht so: Das indonesische Kollektiv Ruangrupa, dem die künstlerische Leitung der Documenta übertragen wurde, hat weitere Kollektive ausgewählt, die ihrerseits weitere Kollektive ermächtigten, in Kassel ihre Kunst zu vertreten. Wir kennen welche, die welche kennen und denen wir vertrauen – und denen wir vielleicht auch was Gutes tun wollen. Rechenschaft über die Auswahl muss niemand geben. Externe Qualitätssicherung oder Kontrolle finden nicht statt; das wäre ja eine Behinderung der Freiheit der Kunst. Dieses Schneeballsystem hat dazu geführt, dass bis heute niemand genau sagen kann, wie viele Künstler wirklich auf der Documenta ausstellen.

    »Teilen statt Haben«

    Vermutlich wäre dies alles von der Öffentlichkeit mit antikolonialistischer Sympathie zur Kenntnis genommen worden, wäre es in der vergangenen Woche nicht zum Eklat gekommen. Sharing-Ökonomie, »Teilen statt Haben«, ist ja auch hierzulande ein Lieblingskind der Kritiker des Raubtierkapitalismus. Erst die wüst antisemitischen Fratzen auf dem monumentalen Wimmelbild »People’s Justice« des Kollektivs »Taring Padi«, von dem merkwürdigerweise vorher niemand gewusst hatte, führte zum Skandal und zur Wende. Darauf sieht man unter anderem Bankiers mit Zigarre und SS-Runen auf den Hüten und Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad.

    (Linker) Antisemitismus und (linker) Antikapitalismus sind seit dem 19. Jahrhundert Geschwister. Verbinden sie sich mit dem Kollektivismus, dann kann am Ende niemand für den Schaden der Volks- und Kapitalistenverhetzung zur Verantwortung gezogen werden. Die Künstler geben sich arglos (»wir meinen es nur gut«), die Generaldirektorin der Documenta gibt sich machtlos, die zuständige hessische Ministerin nennt sich unzuständig und die Kulturstaatsministerin nennt sich vertrauensselig. Der deutsche Steuerzahler erfährt am Ende, dass er, ohne gefragt worden zu sein, 42 Millionen Euro zahlen muss für eine Kampagne zur Abschaffung des Kapitalismus. Einzig bei den Honoraren und den üppigen Gehältern für das Documenta-Management scheint der Kapitalismus noch zugelassen zu sein. Aufsicht und Kontrolle (»compliance und corporate governance«) haben versagt.

    Nun aber endlich zur Finanzkrise 2008. Damals hatten viele behauptet, der Zusammenbruch der Banken und des Weltfinanzsystems sei eine Folge des Turbo-Kapitalismus. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Ordnungsregeln der Marktwirtschaft wurden missachtet. Dass die Preisblase am Immobilienmarkt in den USA platzte und dass am Ende große Banken (Lehman & Co.) zusammenbrachen und Kleinsparer ihr Geld verloren, lag daran, dass die Finanzindustrie Kredite großzügig nach dem Lumbung-Prinzip ausreichte. Banken machten jahrelang dicke Gewinne, weigerten sich aber, für die Risiken zu haften, weil sie ihre Kreditforderungen weiter verkaufen konnten an anonyme Kollektive des Kapitalmarktes.

    »Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen«, lesen wir bei Walter Eucken, dem Vater der Marktwirtschaft. Das Prinzip Haftung wirkt prophylaktisch gegen die Verschleuderung von Kapital und zwingt zu Sorgfalt und Kontrolle. Haftung setzt aber genau jenen Individualismus voraus, den die Documenta-Macher Lehman-Banker abschaffen wollten. Im Kollektiv übernimmt keiner Verantwortung.

    Wir sollten uns nicht weismachen lassen, der liberale Individualismus der europäischen Aufklärung habe ausgedient, weil er angeblich Schuld trage am Kolonialismus und Imperialismus. Im Gegenteil: Der Kollektivismus, den diese selbsternannten Vertreter des »globalen Südens« als Überwindung des Kapitalismus propagieren, führt geradewegs in den Populismus autokratischer Systeme. Wer »westliche Werte« vertreten will, wie es jetzt immer heißt, muss auch für den Individualismus des Westens kämpfen: Da kann jeder Gewinne machen, wenn er eine gute Geschäftsidee hat und muss nicht warten, bis ihm aus Barmherzigkeit etwas aus der Reisküche geschenkt wird. Er muss aber auch bereit sein, die Verluste zu tragen, wenn seine Idee nicht trägt oder das Schicksal ungnädig mit ihm ist. Die Documenta zeigt ex Negativo, was wir an diesem Erbe haben und warum wir es nicht verspielen dürfen. Verteidigen wir also das trotzig-stolze Ich.

    Rainer Hank

  • 05. Juli 2022
    Pack die Badehose ein

    Schwimmbadidylle Foto tripadvisor

    Dieser Artikel in der FAZ

    Über das Schwimmbad als klassenlose Gesellschaft

    In seinem legendären »Fragebogen« von 1966 stellt der Schriftsteller Max Frisch diese Frage: »Wenn Sie einen Menschen in der Badehose treffen und nichts von seinen Lebensverhältnissen wissen: Woran erkennen Sie den Reichen?«

    Ein beliebtes Gesellschaftsspiel – bis heute auch in vielen Blogs – ist es, auf Frischs Frage Antworten zu sammeln. Es fällt auf, dass der eigentlich naheliegende Einfall, man könne einem nackten Körper nicht ansehen, ob der Mensch arm oder reich sei, von kaum jemandem in Betracht gezogen wird. Stattdessen gibt es an vorderster Stelle Mutmaßungen über einen »gepflegten und gelifteten Körper«, der Rückschlüsse auf das Vermögen von Frauen und Männern zulasse. Andere wollen den »Yachtschlüssel am Handgelenk« als Reichtumsindikator bemerkt haben. Wieder andere meinen, der Badehosen-Mensch müsse misanthropisch sein, übellaunig, weil »Leute, die Kohle haben, immer meckern«.
    Vergangene Woche waren wir seit ewigen Zeiten mal wieder in einem Freibad. Was soll man bei so einer Hitze sonst machen? Das Bad heißt »Rheinuferpark« und liegt in Gailingen am Hochrhein, grob gesagt auf halber Strecke zwischen Bodensee und Schaffhausen. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite in Diessenhofen ist Schweiz; da gibt es auch ein Freibad, das »Rhybadi« heißt. In den beiden Strandbädern, die zusammengehören, ist alles vom Feinsten: Saubere Umkleidekabinen und sanitäre Anlagen, Spielplätze und Planschbecken für die Kleinen, dazu ein schattiger Biergarten. Weil der Hochrhein ordentlich Strömung hat, braucht man sich mit leichten Schwimmbewegungen einfach nur flussabwärts treiben lassen, ein Mordsvergnügen, nahezu anstrengungslos. Eintrittsgebühren werden im Rheinuferpark nicht verlangt: wir waren sozusagen Gäste der Kommune – sehr großzügig, wie ich fand. Vielen Dank an dieser Stelle.

    So ein Badenachmittag weckt Jugenderinnerungen ans Stuttgarter Inselbad. Bilder, Geräusche, Gerüche: Das ausgelassene Kreischen der Kinder oder das Platschen beim Aufprall des Körpers vom Fünferturm. Das chlorige Wasser, die Pommes, das »Fürst Pückler-Eis« (Erdbeere, Vanille, Schokolade) – und die neugierigen Blicke der Mädchen, die sich mit meinen Blicken nicht kreuzen wollten. Die Schönheit der jungen Körpers brauchte man damals noch nicht mit Tattoos bedecken.

    Immer schon war das Schwimmbad ein Sehnsuchtsort. Dort mischen sich Klassen und Berufsschichten, kreuzen sich kulturelle Milieus und soziale Kreise, notierte der philosophische Flaneur Siegfried Kracauer im Oktober 1932. Die »ähnliche Kleidung« verstärke den Eindruck der »Homogenität«. In der Badeanstalt vermöge niemand »sofort zu erraten, dass die Gäste allen möglichen Schichten und Parteien entstammen, niemand kann auf den ersten und auch zweiten Blick hin den Studenten vom Arbeiter unterscheiden«. Eine intime Anonymität erlaube es, »einander ausgiebig beobachten zu können«.

    Wer einen Pool hat, braucht kein Schwimmbad, oder?

    Max Frisch übrigens kannte sich mit Badeanstalten aus. In seinem Erstberuf als Architekt hatte er in den Jahren 1947 bis 1949 das Züricher Freibad »Letzigraben« erbaut. Ob ihn Kracauers Utopie – besser sollte man sagen »Idylle« – der »klassenlosen Badegesellschaft« überzeugt hätte, glaube ich nicht. Dabei kannte der Schweizer Dichter noch gar nicht die Berichte von den gewaltsamen Übergriffen in den deutschen Multikulti-Bädern: Nachrichten von Schlägereien und Attacken gegen Bademeister rufen inzwischen private Sicherheitsdienste (»Schwimmbadpolizei«) auf den Plan. Klassenlosen Kommunismus stelle ich mir anders vor.

    So etwas mögen die Reichen nicht. Ob sie wirklich in ein öffentliches Freibad kommen? Wofür haben sie sich in ihren Gärten die aufwändigen Infinity-Pools bauen lassen. Wenn mein Blick mich nicht täuscht, befanden sich unter den Sonnenbadenden am Gailinger Rheinufer verschwindend wenige Millionäre. Wir erkennen im Schwimmbad den Reichen in der Badehose deshalb nicht, weil es im Schwimmbad keinen Reichen gibt.

    Deutschland ist im internationalen Vergleich ein Eldorado der öffentlichen Schwimmgelegenheiten: Das ist die Frucht des Wirtschaftswunders. Im Jahr 1961 stellte ein »Verein von Freunden und Förderern des Sports« ein Programm zum Bau von »Stätten der Gesundheit, des Spiels und der Erholung« vor: In nur zehn Jahren wurden fast 3000 neue Frei- und Hallenbäder errichtet. Später kamen die großzügigen Spaßbäder in den neuen Bundesländern hinzu, wo es besonders luftig zugeht: In Brandenburg teilen sich 62 000 Bürger ein Schwimmbad; im Saarland sind es 142 000 auf gleichem Raum. Der Höhepunkt der Schwimmbadkonjunktur war um die Jahrtausendwende erreicht, als man in Deutschland über 6700 öffentliche Badeanstalten zählte.

    Seither macht das Schlagwort vom »Bädersterben« die Runde. Til van Rahden, ein im kanadischen Montréal lehrender deutscher Historiker, dem ich auch den Hinweis auf Siegfried Kracauer verdanke, nahm kürzlich auf einer Konferenz in Mainz den Niedergang der Bäder zum Anlass, den Untergang der Demokratie als Lebensform auszurufen. Wehmütig rekonstruierte der Wissenschaftler den Tod des Offenbacher »Parkbades« – 1962 eröffnet, 1992 musste es wegen hoher städtischer Schulden einem Nobelhotel (was man darunter in Offenbach halt so versteht) weichen. Für Til van Rahden ist die »Offenbacher Bädertragödie« Symbol eines abhanden gekommenen demokratischen Gemeinsinns, was zur Folge habe, dass soziale und kulturelle Bindungen schleichend erodieren. Dies alles, weil die betuchten Bürger sich ihrer Pflicht zur Finanzierung der »demokratischen Allmende« verweigerten.

    Egoistischer Altruismus

    Statt zu klagen, dass die Reichen sich aus dem Staub machen, könnte man auch fragen, warum sie sich (durch die Steuerprogression bedingt) überhaupt an der Schwimmbad-Finanzierung beteiligen sollen, wo sie doch dank eigener Infinity-Pools davon gar keinen Nutzen haben. Dazu gibt es eine gute Begründung: Die von den Reichen überdurchschnittliche frequentierten städtischen Opern werden auch von den ärmeren Bürgern finanziert, die man bekanntlich dort eher selten trifft. Und: Die Reichen müssten ein egoistisches Interesse am Erhalt des sozialen Friedens haben. Wird dieser gestört, wären sie genötigt, wie in Amerika ihre Villen mit hohen Zäumen und privaten Sicherheitsdiensten schützen zu lassen, was mutmaßlich teurer käme als kommunale Schwimmbäder solidarisch mitzufinanzieren.

    Doch keine Sorge. Das sogenannte Bädersterben gibt es zwar, es beläuft sich aber auf noch nicht einmal zehn Prozent binnen zwanzig Jahren. Immer noch gibt es hierzulande über 6000 öffentliche Bäder; und es kommen neue hinzu – siehe Gailingen am Hochrhein. Kein Grund also, das Siechtum der öffentlichen Daseinsvorsorge zu beklagen.

    Rainer Hank

  • 14. Juni 2022
    Wann wirken Sanktionen wirklich?

    Mit Sanktionen den Krieg beenden Foto E.A.Unuabona/unsplash

    Dieser Artikel in der FAZ

    Ein Blick in die Geschichte der Wirtschaftskriege

    Lassen sich Kriege ein für alle Mal aus der Weltgeschichte verbannen? Bislang ist das nicht gelungen. Allemal stehen sich nach großen Kriegen Realisten und Utopisten gegenüber. Die Realisten verhöhnten die Pazifisten als Illusionisten. Die Utopisten beschimpfen die Realisten als Zyniker, die nicht bereit sind, aus der Geschichte zu lernen und die Menschheit vor Leid und Zerstörung zu bewahren.

    Wenn wir Kinder der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit an Pazifisten denken, denken wir an die Friedensbewegung, an Ostermärsche und den Kampf in den achtziger Jahren gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss. Doch es gab schon einmal, vor hundert Jahren, eine ganz andere Welt-Friedensbewegung: Deren Utopie bestand darin, militärische durch wirtschaftliche Waffen zu ersetzen. Diese Bewegung war davon überzeugt, dass es niemals gelingen würde, Konflikte zwischen Staaten gänzlich zu vermeiden. Und sie wusste, dass Verhandlungslösungen ohne Druckmittel wirkungslos blieben. Aber sie war der Ansucht, dass es humaner sei, einander mit wirtschaftlichen Waffen zu bekämpfen anstatt mit Panzern, Raketen und Kanonen. In den Worten eines britischen Bürokraten im Ersten Weltkrieg: »Bleistifte sind sauberere Instrumente als Bajonette«. Händler, Bankiers und Anwälte sollten die archaischen Krieger der Moderne ablösen; die Idee des Handelskriegs fußte auf dem Glauben des Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert.

    Das Produkt dieser »Friedensbewegung« war die Gründung des »Völkerbunds« am 10. Januar 1920. Die Gründungsstaaten glaubten, sie hätten ein neues und wirkmächtiges Zwangsmittel an der Hand, um künftige Kriege sogar zu verhindern. Wie nach dem Zweiten Weltkrieg die Strategie nuklearer Abschreckung (»Gleichgewicht des Schreckens«), so hegte der Völkerbund die Erwartung, allein die Androhung wirtschaftlicher Sanktionen würde potenzielle Aggressoren davon abhalten, andere Länder militärisch zu überfallen.
    Das Druckmittel, dass der Völkerbund in das internationale Recht einführte, hieß »Sanktionen«. Nicht zuletzt ging es um Rohstoffe, vor allem Kohle und Öl, aber auch um den Entzug von Finanzmitteln. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson nannte Sanktionen im Jahr 1919 »etwas viel Ungeheuerlicheres als ein Krieg«. Denn die Bedrohung läge in der »absoluten Isolation« der Aggressoren, die dazu führe, dass ihnen recht bald jegliche militärische Kampfeskraft fehlen würde. Wirtschaftssanktionen, richtig angewandt, würden gewaltsame Kriege überflüssig machen, meinte Wilson. Eine Wirtschaftsarmee (»l’armee économique«) könnte eine militärische Armee ersetzen. Der grausame militärische Krieg sollte durch die Verwandlung in den Handelskrieg humanisiert werden.

    Wirtschaftssanktionen kosten viele Menschenleben

    So unschuldig friedlich, wie Wilson meinte, war der Wirtschaftskrieg freilich nicht. Im Gegenteil. Das kann man der kürzlich erschienenen Studie des niederländischen Historikers Nicholas Mulder über Hoffnung und Scheitern der Wirtschaftssanktionen im 20. Jahrhundert entnehmen. Wirtschaftskriege, so der an der amerikanischen Cornell-Universität lehrende Forscher, hatten häufig sogar mehr Tote zur Folge als Militärschläge, weil viele »unschuldige« Menschen jämmerlich verhungern oder lebenslang an den Folgen der Unterernährung und Auszehrung leiden. 300 000 bis 400 000 Menschen hätten im Ersten Weltkrieg in Zentraleuropa ihr Leben verloren als Folge von Boykott und Sanktionen (hinzu kommen 500 000 durch Sanktionen um Leben gekommene Menschen im Osmanischen Reich), insgesamt eine weitaus größere Zahl verglichen mit jenen Toten, die durch Luftangriffe oder den Gaskrieg umkamen, schätzen die Historiker. Ein sauberer Krieg ist auch der Wirtschaftskrieg nicht. Der britische Ökonom John Maynard Keynes hatte früh vor wirtschaftlichen Strafaktionen gewarnt, von denen Freund und Feind betroffen wären und stattdessen dafür plädiert, »positive« Wirtschaftssanktionen, Hilfen zur Unterstützung der Opfer völkerrechtswidriger Aggression in Erwägung zu ziehen.

    Hundert Jahre später sehen wir, dass die Hoffnungen von damals sich nicht erfüllt haben, der Wirtschaftskrieg könne den militärischen Krieg ablösen. Woran das liegt? Mulder bietet ein Bündel von Gründen an. Die bloße Androhung von Wirtschaftssanktionen entfalte einerseits ihre abschreckende Wirkung, führe aber als eine Art »unintendiertem Effekt« dazu, dass aggressive Diktatoren (Hitler oder Mussolini) sich wirtschaftlich autark zu machen suchten. »Blockadefestigkeit«, eine Art Resilienz gegen den Wirtschaftskrieg, so lautete das erklärte Ziel der Nationalsozialisten. Gerade der durchschlagende Erfolg der britischen Finanz- und Handelsblockade gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg führte dazu, dass Hitlerdeutschland sich vorbereiten und mit dem Aufbau einer Autarkiewirtschaft reagieren konnten.

    Hinzu kommt: Die Sanktionen wurden vielfach nicht allumfassend, hart und konsequent genug umgesetzt. Die Sanktionen der Völkergemeinschaft gegen Italien im sogenannten Abessinien Krieg (1935 bis 1941) – ein völkerrechtswidriger und besonders grausamer Krieg gegen Äthiopien und eigentlich einer der Erfolge der Embargopolitik des Völkerbunds – scheiterten daran, dass der Völkerbund sich nicht durchringen wollte, ein Öl-Embargo durchzusetzen. Kommt uns das bekannt vor? »Hätte der Völkerbund ihm das Öl abgestellt, wäre das eine Katastrophe gewesen«, soll Mussolini im Gespräch mit Hitler gesagt haben. Wenn überhaupt, haben Sanktionen gegen kleine Staaten Wirkung gezeigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dann zwar immer mehr Sanktionsresolutionen als vor dem Krieg, freilich mit ständig nachlassender Wirkung.

    Lässt sich aus der Geschichte des Wirtschaftskrieges im 20. Jahrhundert etwas für den Ukrainekrieg im 21. Jahrhundert lernen? In aller Vorsicht vielleicht dies: Vieles hängt am Boykott von russischem Gas und Öl. Der Westen hätte sich früher dazu durchringen sollen. Das scheiterte bekanntlich nicht nur, aber maßgeblich an Deutschland. Ein Erfolg des Energie-Boykotts wäre besonders durchschlagend, würden sich alle, also auch Indien, China und Afrika beteiligen. Das ist illusorisch, darf aber kein Grund dafür sein, dass der Westen sich rausmogelt oder wochenlang weiterdiskutiert. Dass die EU jetzt ein Öl-Embargo beschlossen hat, ist gut. Dass es erst in sechs Monaten greift, ist weniger gut.
    Niemand sollte sich einreden, Wirtschaftssanktionen seien »milde« Waffen. Sie treffen vor allem die Zivilbevölkerung im Land des Aggressors – aber um deren Leid scheint Putin sich wenig zu scheren. Wirtschaftssanktionen treffen auch die Menschen im Land der Boykotteure. Wer den Wirtschaftskrieg will, muss wissen, dass er Wohlstandsverluste, Hunger und Tod vieler Menschen in Kauf nimmt. Anders als Woodrow Wilson hoffte, lässt sich der militärische Krieg nicht komplett durch den Wirtschaftskrieg substituieren. Russlands Krieg zeigt eben auch die Grenzen von Sanktionen.

    Rainer Hank

  • 14. Juni 2022
    Wer hat noch Burnout?

    Depression Foto Gerd Altmann/pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Vom Kommen und Gehen einer Volkskrankheit

    »Leidet eigentlich noch jemand an Burnout?«, frug mich kürzlich ein Freund: »Man hört gar nichts mehr.« Ich versprach ihm zu recherchieren.

    Die kurze Antwort: Der Eindruck ist richtig. Burnout scheint auf dem Rückzug zu sein. Damit ist indes noch nicht viel gewonnen. Denn, was heißt das? Es könnte tatsächlich bedeuten, dass weniger Menschen an Burnout erkranken, weil wir insgesamt »resilienter« geworden sind. Es könnte auch sein, dass immer noch viele oder sogar mehr Menschen an Burnout leiden, aber die Ärzte die Diagnose Burnout weniger häufig stellen oder einen anderen, modischeren Begriff gefunden haben. Schließlich könnte es sein, dass die öffentliche Aufmerksamkeit, die bekanntlich sehr volatil ist, keine Lust mehr hat, sich um Burnout zu kümmern.

    Also der Reihe nach. Erst einmal eine Definition und ein bisschen Statistik. »Burnout« (»Ausgebrannt«) wird von der Weltgesundheitsorganisation definiert als »Stress am Arbeitsplatz, den die Beschäftigten nicht erfolgreich verarbeiten können«. Symptome sind Energielosigkeit und Erschöpfung, eine zunehmende geistige Distanz, negative Haltung oder Zynismus zum eigenen Job sowie ein verringertes berufliches Leistungsvermögen. Offiziell gibt es die Diagnose im medizinischen Klassifikationssystem erst seit kurzem. Das Leiden selbst, so dünkt es mich, ist dagegen uralt.

    Google-nGram-Viewer, eine Suchmaschine, die Unmengen von Daten digitalisierten Bücher durchkämmt und die ich gerne nutze, stellt für deutsche Texte einen Burnout-Höhepunkt im Jahr 2011 fest. Vor 1980 kommt der Begriff praktisch nicht vor; da sprach man wohl eher von Depression. Den steilsten Burnout-Anstieg sehen wir in den Jahren 2000 bis 2011, seither zeigt die Kurve wieder nach unten. Das Ergebnis deckt sich mit Daten der deutschen Betriebskrankenkassen, die ebenfalls einen Höchststand für das Jahr 2011 melden. Seit zehn Jahren nehmen die Fallzahlen ab.

    Neben den statistischen gibt es literarische Indizien. Die Selbsterfahrungsliteratur, wo mehr oder minder Prominente ihr Burnout wahlweise pädagogisch oder exhibitionistisch beschreiben, scheint ebenfalls abzunehmen. Entweder schwindet der Mitteilungsdrang der von Burnout Betroffenen oder die Verlage sehen für das Thema keinen Markt mehr. Der Höhepunkt lag auch hier vor gut zehn Jahren. Damals, 2010, erschien zum Beispiel das Buch »Brief an mein Leben« der Publizistin (Uni-Professorin, Staatssekretärin, Wirtschaftswoche-Herausgeberin) Miriam Meckel. Meckels Bekenntnisschrift ist typisch für das Genre. Eine bekannte Frau, ehrgeizig, erfolgreich in jungen Jahren, spricht darüber, wie sie an ihrem eigenen und dem ihr von »der Gesellschaft« vorgegebenen Perfektionismus zerbricht: »Ich war fünfzehn Jahre um die Welt gereist, hatte gearbeitet, geredet, geschrieben, akquiriert, repräsentiert, bis der Arzt kam. Ich habe keine Grenzen gesetzt, mir selbst nicht und auch nicht meiner Umwelt, die zuweilen viel verlangt, mich ausgesaugt hat wie ein Blutegel seinen Wirt. Und das meiste von dem, was ich gemacht habe, hat mir tatsächlich Freude gemacht. Aber ich habe in alldem nicht die aristotelische Mitte finden können zwischen dem ‚Zuviel› und dem ‚Zuwenig›. Nun war ich plötzlich stillgelegt.« Es folgt ein Bekehrungserlebnis im Stil von Rilkes »Du musst Dein Leben ändern« und die Beteuerung, jetzt viel näher bei sich selbst zu sein. Dass alles sogleich wieder in einen Bestseller münden musste, spricht dafür, das Leistungsanspruch und Erfolgsdruck nicht gänzlich gewichen sein können.

    Macht der Kapitalismus krank?

    Wie also kam es zur rasanten Karriere des Burnouts und ihrem abruptem Ende? Eine beliebte Erklärung stammt von dem Soziologen Hartmut Rosa. Sie geht so: Der Kapitalismus befördert Verhältnisse, unter denen Burnout oder Depressionen zunehmen. Der Kapitalismus mache krank. »Wir haben es mit einer Form von Entfremdung zu tun; ein gutes Leben gelingt nur schwerlich unter diesen Bedingungen.« Burnout sei die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnormen nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründen, sondern auf Verantwortung und Initiative – und daraus resultiere die krank machende Überforderung.

    Die These, wonach der Kapitalismus an Burnout schuld sei, weil die äußeren Lebens- und Arbeitsbedingungen auch das Innere der Menschen zersetzen, hat für viele eine Plausibilität. Nimmt man sie beim Wort, müsste der Kapitalismus in Deutschland in den Neunziger- und Nullerjahren besonders schlimm gewütet haben, während wir in der letzten Dekade eine gewisse Entspannung und Abkehr vom Turbokapitalismus sehen müssten. Davon kann keine Rede sein. Im Gegenteil: In den Nullerjahren hatten wir dank der Agenda-Reformen der rot-grünen Schröder-Regierung weniger Arbeitslose. Das Wirtschaftswachstum war trotz Finanzkriseneinbruch 2009 insgesamt robuster als im folgenden Jahrzehnt und die Ungleichheit der Einkommen (»die Schere«), die vielen Kritikern als Beweis für den schlimmer werdenden Kapitalismus gilt, weitet sich seit 2005 nicht mehr. Zugenommen haben stattdessen die Realeinkommen der Arbeitnehmer, nicht zuletzt, weil keine Inflation zu verzeichnen war. Es bleibt der paradoxe Befund, dass just zu einer Zeit mit signifikant mehr Burnout-Fällen der Kapitalismus sich relativ von seiner Schokoladenseite zeigte.

    Das bestätigt die These des Frankfurter Soziologen Martin Dornes, wonach die Burnout-Zahlen keine Zunahme der Krankheit, sondern eine Zunahme ihrer Diagnose spiegeln. »In der Wirklichkeit hat sich die Häufigkeit seelischer Erkrankungen kaum geändert«, schreibt Dornes: »Was sich dagegen geändert hat, ist unsere Sensibilität und Aufmerksamkeit dafür, sowie die Bereitschaft, vormals undiagnostiziertes Leid in medizinische Diagnosen zu überführen.«

    Die Behauptung, dass die Zunahme der Burnout-Diagnosen mit der krank machenden Entfremdung und Beschleunigung des Kapitalismus zu tun hat, könnte viel eher eine indirekte Folge des Umstands sein, dass zu Anfang der Nullerjahre Bücher auf den Markt kamen, die dem Kapitalismus die Schuld an Burnout gaben, wenngleich ohne Beleg, quasi ein Nebeneffekt soziologischer Prosa. Neben Hartmut Rosas Beschleunigungsbuch ist vor allem der Bestseller »Das erschöpfte Selbst« (1999) des französischen Soziologen Alain Ehrenberg zu nennen.

    Und heute? Heute stehen ganz offensichtlich andere Sorgen im Vordergrund. In der Pandemie konnte man ohnehin nur an Covid erkranken, oder? Und es war die quälende Erfahrung der Einsamkeit im Homeoffice, die vielen zu schaffen machte – und nicht die Erschöpfung von der Arbeit und ihren unerträglichen Anforderungen. Und jetzt ist es die Angst vor einem Atomkrieg und das Erschrecken über die brutale Aggression Putins, der über Leichen geht, die auf die Seele drückt.

    So war es schon einmal. Um die Jahrhundertwende 1900 sprach man nicht von »Burnout«, sondern von »Neurasthenie«. Nach 1914 war von Neurasthenie nicht mehr die Rede.

    Rainer Hank