Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
25. Juni 2025Vom New Deal zum Real Deal
08. Juni 2025Geld her!
27. Mai 2025Wer stoppt Trump?
10. Mai 2025Ein Herz aus Stammzellen
14. April 2025Lauter Opportunisten
07. April 2025Die Ordnung der Liebe
29. März 2025Streicht das Elterngeld
17. März 2025Der Kündigungsagent
17. März 2025Hart arbeiten, früh aufstehen
04. März 2025Kriegswirtschaft
17. Januar 2023
Von wegen freie FahrtDas Maut-System in Europa ist eine Katastrophe
Sie wolle einen »Turbo zünden« bei der Infrastruktur, hat die SPD-Vorsitzende Saskia Esken zum Auftakt einer Klausurtagung ihrer Partei verkündet. Die Digitalisierung hierzulande werde einen »Boost« erleben, trompetet Frau Esken in das neue Jahr hinein.
Donnerwetter, so viel sprachliche Power hätten wir unserer Landsmännin (sagt man das noch?) aus dem verschlafenen Pforzheim gar nicht zugetraut. Zumeist sind es die sprachlich schiefen Bilder, die hängen bleiben. Die korrekten gehen glatt runter. Beim Turbo, so habe ich nachgelesen, handelt es sich um eine Abgasturbine zur Leistungssteigerung von Kolbenmotoren, also etwas, was spätestens nach dem Ende des Verbrenners im Jahr 2035 auf die Müllhalde des Fortschritts kommt. Ein E-Motor braucht keinen Kolben, was, nebenbei, ein Problem für den Autozulieferer Mahle ist.
Aber immerhin zum Digitalisierungs-Boostern eignet sich der Turbo auch künftig noch. Verheerende Netzqualität, Defizite beim schnellen Glasfaserkabel: Es ist seit Jahren beschämend, was sich hierzulande abspielt. Auf dem gerade wieder aktualisierten EU-Digitalisierungsranking DESI (»Digital Economy and Society Index«) rangiert unser Industrieland abgeschlagen auf Platz 13. Die führenden Ränge werden von Finnland, Dänemark, den Niederlanden und Schweden belegt.
Italien steht bei DESI auf Platz 18. Was das Internet betrifft, können wir die schlechte Einordnung aufgrund gerade aufgefrischter subjektiver Eindrücke nicht nachvollziehen. Die Bergwelt oberhalb Bozens, wo wir die Jahreswende verbrachten, erschien uns im Vergleich mit dem Westerwald ein wahres WLAN-Paradies. Die örtliche Tageszeitung »Dolomiten« wusste zu berichten, der Ausbau des Glasfasernetzes auf dem Ritten, einem bis zu 2300 Meter hohen Bergrücken, sei nahezu abgeschlossen. Da schau her, Frau Esken.
Im Dickicht der Maut-Automaten
Im Verlauf der Rückfahrt von unseren Winterferien erhielt unsere Begeisterung dann einen Dämpfer. Da tingelt man von Mauthäuschen zu Mauthäuschen, ungefähr so wie das bei den Alpenüberquerungen zu Zeiten von Johann Wolfgang von Goethe oder Johann Gottfried Seume im 18. Jahrhundert in der Postkutsche auch schon üblich gewesen sein muss. Reisen für Leute mit viel Zeit eben oder solchen, denen der Therapeut ein Entschleunigungsprogramm verordnet hat. Bei mir hat das Maut-Chaos den Kreislauf in gefährliche Wallung und die Nerven der Beifahrerin unter Strom gesetzt. Der Ärger bezieht sich nicht nur auf die italienischen, sondern auch auf die österreichischen Autobahnen.
Das muss ich jetzt etwas detaillierter erzählen.
Das Elend nahm seinen Lauf bei Sterzing auf der Brennerautobahn vor der Mautstation. Es geht um circa zehn Euro, die zwischen Bozen und der Staatsgrenze fällig werden. Warum man dafür – und es war nicht der Hauptrückreisetag – gut dreißig Minuten anstehen muss, verstehen die Götter. Wir Menschen verstehen es erst, wenn wir unser Münzgeld klick für klack dem Automaten in den ausgefahrenen Schlund stecken, weil der die Annahme unserer Visa-Card ohne Angabe von Gründen verweigert hatte. Die Apparate sehen so aus, als stünden sie seit den Zeiten unsere Adria-Fahrten in der Kindheit dort. Falsch, damals musste man noch in Lire zahlen mit metergroßen Geldscheinen. Und es saßen echte Menschen in den Häuschen.
Dann galt es eine Vignette für Österreich zu kaufen. Das sollte man ernst nehmen: Zuwiderhandlungen werden mit 120 Euro geahndet; ich habe das selbst einmal erlitten. Unser Rückfahrtag war der elfte Ferientag, die Österreich-Vignette hat eine Willkür-Laufzeit von zehn Tagen, weswegen ein abermaliger Zehnerblock vom Brenner bis kurz hinter Innsbruck zu erstehen war. Üblicherweise gibt es diese im Volksmund »Pickerl« genannten roten Dinger an den italienischen Tankstellen. Doch dieses Mal Fehlanzeige – ohne Angabe von Gründen. Eine Kassiererin klärt uns auf: »Die Italiener« hätten verbotenerweise die Vignetten mit einem Aufschlag auf den amtlichen Preis verkauft, weshalb ihnen die österreichischen Stellen die Lizenz entzogen hätten. Ich kann »die Italiener« verstehen. Warum sollen sie kostenlos Amtshilfe für die österreichischen Staatssautobahnen leisten, lediglich gekoppelt an die vage Aussicht, dass die Kunden vielleicht noch einen Espresso nebst Baccio konsumieren. Das Nachsehen hat der deutsche Transittourist.
Stau nervt
Ich erspare Ihnen die weiteren Ärger-Geschichten: wie ich auf dem Weg Richtung Innsbruck die Autobahn vor einem Unfall verlassen musste und bei der Ausfahrt und späteren Auffahrt abermals die Bekanntschaft mit zwei maroden, dieses Mal österreichischen Maut-Automaten machte (es ging um Kleinbeträge für die Brennermaut, die zusätzlich zur Vignette abgezockt wird). Allein die steinzeitliche Infrastruktur der Straßengebührenerhebung in Italien und Österreich hat unsere Rückreise um 90 Minuten verlängert – gemessen an den von Google-Maps errechneten sieben Stunden zwischen Bozen und Frankfurt.
Jedenfalls fiel mit jetzt wieder eine zentrale Erkenntnis der ökonomischen Glücksforschung (oder besser Unglücksforschung) ein: Warten nervt! Nichts macht Menschen so unzufrieden wie ein ausgewachsener Stau.
Selbst schuld, werden die neunmal Klugen sagen. Geht doch alles im Internet. Stichwort »Videomaut«. Das gibt es in der Tat, wie wir schon unterwegs recherchiert haben, ist aber nicht nur ziemlich unübersichtlich für die unterschiedlich anfallenden Gebühren, sondern auch unverschämt teurer: Statt 9 Euro 90 für zehn Tage Österreich muss man im Netz wahlweise 18 Euro 90 oder 19 Euro 80 (»easymaut.at«) bezahlen. Die Extra-Brennermaut hätte digital obendrein einen Last-Minute-Aufschlag gekostet. Von wegen im Netz ist alles einfacher und günstiger!
Wozu haben wir eigentlich die EU? Im Harmonisieren sind sie in Brüssel doch sonst Weltmeister. Ich bin ein großer Freund streckenabhängiger Maut. Ein mobiles Europa stelle ich mir ungefähr so vor: Eine Kamera auf den gebührenpflichtigen Autobahnen Europas erfasst mein Nummernschild. Zu meinem Kennzeichen habe ich meine Kontonummer hinterlegt. Das Mautsystem registriert, wann ich auf die Autobahn auffahre und wann ich sie wieder verlasse, es kennt die unterschiedlichen Tarife in Italien, Österreich, Frankreich und gerne auch Deutschland (gell, Herr Scheuer). Alle Mauthäuschen werden abgebaut. Freie Fahrt für freie Europäer. Die Rechnung sehe ich anschließend auf meiner Maut-App; der Preis wird von meinem Bankkonto abgebucht. Das Bahnfahren in Europa könnte man bei dieser Gelegenheit auf dieselbe Weise europaweit vereinfachen. Die Datenschutzprobleme überlasse ich den Datenschützern.
Sind das jetzt alles nur naive Fantasien eines IT-Laien?
Rainer Hank
10. Januar 2023
Habecks LieblingMariana Mazzucato oder: Warum ein unternehmerischer Staat scheitern muss
Der Staat muss der Wirtschaft die Richtung weisen. Das ist die zentrale Botschaft der italoamerikanischen Ökonomin Mariana Mazzucato: Im Kampf gegen die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, vor allem gegen den Klimawandel, sei der Markt überfordert, sagt sie. Den Unternehmen fehle der gute Wille, die richtigen Anreize und die Übersicht, das dringend Gebotene zu unternehmen. Deshalb müsse der Staat ran. Er soll sich vom Nachtwächterstaat, der lediglich den Rahmen setzt, zum »unternehmerischen Staat« häuten, der gesellschaftliche Werte generiert, aktiv in Märkte eingreift und privatwirtschaftliche Entscheidungen lenkt.
Mit dieser Mission im Gepäck tourt Mariana Mazzucato seit geraumer Zeit um die Welt, berät Regierungen und kann sich vor Anfragen und Aufträgen nicht mehr retten. Ihre Interviews gibt sie im Stakkato-Tempo, schließlich wartet der nächste Kunde schon. Eine erfolgreiche Privatunternehmerin ist Frau Mazzucato auf jeden Fall. Ihre Ressourcen-Basis erhält sie vom staatlichen University College in London. Wenn man so will, ist sie selbst das beste Beispiel des unternehmerischen Staates. Als Wissenschaftskommunikatorin neuen Typs gleicht sie den umtriebigen deutschen Popularisierern Maja Göpel (»Wir können auch anders«) oder Richard David Precht (»Die Kunst, kein Egoist zu sein«). Sie alle wollen sich nicht damit begnügen, die Welt zu erkennen und zu beschreiben, sondern leben von der Überzeugung, sie verändern zu müssen, selbstredend zum Besseren. Deren Lebensraum ist nicht der Elfenbeinturm, sondern der TED-Talk.
Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck wurde mit einer Liebeserklärung an Mariana Mazzucato berühmt: Im Interview mit der Frauenzeitschrift »Myself« nannte er sie eine von sieben Frauen, die sein Leben verändert hätten. Ein bisschen spät, wie immer, hat nun auch der »Spiegel« zum Auftakt des neuen Jahres die Dame entdeckt. Und sie zur wahren Erbin von Karl Marx gekürt (klar, Männer sind heutzutage für solche welthistorischen Revolutionen nicht mehr zu gebrauchen).
Schumpeter und Polanyei, nicht Marx
Die Krönung als Marx-Epigonin ist doppelt daneben: Denn mit Marx hat Frau Mazzucato nichts am Hut. Das Reich der Freiheit sieht sie nicht im Kommunismus oder Sozialismus, sondern in einer vom Staat gelenkten Marktwirtschaft, in welcher die großen industriepolitischen Projekte von den Regierungen vorgegeben werden, der Turbo-Kapitalismus gesellschaftlich gezähmt und »eingebettet« wird und die privaten Unternehmen in ihren Zielen und ihrem Engagement vom »fortschrittlichen Engagement« der Bürger getragen und angeleitet werden. Die Helden von Marina Mazzucato heißen nicht Marx und Lenin, sondern Karl Polanyi und Joseph A. Schumpeter, zwei berühmte österreichische Ökonomen des 20. Jahrhunderts, die in England und in den USA lehrten und wirkten. Von Polanyi hat Mazzucato die Idee einer gesellschaftlichen Einbettung wirtschaftlicher Prozesse in die Lebenswelt der Menschen. Von Schumpeter übernimmt sie den emphatischen Begriff des Unternehmers als Treiber von Fortschritt und Wachstum, den sie analog auf die neue Rolle des Staates überträgt. Ihr Musterstaat ist nicht die Sowjetunion, sondern das Schweden Olof Palmes oder der New Deal Franklin D. Roosevelts. Der Preis dafür, Mazzucato in Deutschland bekannt gemacht zu haben gebührt, nebenbei bemerkt, der Münchner Verlegerin Antje Kunstmann (eine wahre Schumpeterianische Unternehmerin), die das hohe Risiko einging, Mazzucatos »The Enterpreneurial State«, 2013 in England erschienen, ein Jahr später auf Deutsch herauszubringen, als sie noch kein Mensch kannte, leider unter dem völlig nichtssagenden Titel »Das Kapital des Staates«.
Doch was ist dran an der These, dass in Zeiten von Klimawandel, Pandemie und Ukrainekrieg der Staat die »Kommandohügel« (Lenin) besetzen und den kurzschlüssig profitorientiert agierenden Markt entmachten müsse? Beginnen wir mit dem Klima: Anreize wie der Emissionshandel und eine CO2–Steuer seien ja ganz hübsch, sagt Frau Mazzucato. Wirkungsvoller sei es, wenn der Industrie vorgeschrieben werde, zum Beispiel nur noch »grünen« Zement zu verwenden und der Staat dies dann finanziell aus Steuermitteln honoriere. Aber Hallo! – hat nicht gerade der deutsche Staat seit Jahren Wind- und Sonnenenergie mit Milliarden Steuergeld gefördert, welches die Unternehmen dankbar einstrichen. Und trotzdem werden immer noch 80 Prozent unseres Bedarfs mit fossilen Energien gedeckt. Die Klimapolitik unterliege einem »großen Designfehler«, sagt Frau Mazzucato, und meint damit, es brauche halt noch mehr Zwang. In Wirklichkeit besteht der größte Designfehler darin, dass es bis heute keinen Klimaclub der willigen Staaten gibt, der den Marktmechanismus des Emissionshandels für alle Mitglieder verpflichtend macht und Nichtmitglieder mit Importzöllen bestraft.
Es braucht mutige Investoren
Auch Corona ist kein gutes Beispiel. Der phänomenale Erfolg von BionTech beruht auf den Ideen des Gründerpaares und den Millioneninvestitionen der Strüngmann-Milliardäre, die ins Risiko gingen als noch kein Profit winkte. Als der deutsche Staat nach Ausbruch der Pandemie es den Privatinvestoren gleichtun wollte, hat er mit Curevac prompt auf das falsche Pferd gesetzt und Steuergeld verbrannt ohne epidemiologischen Nutzen. Wer schließlich wissen will, wie erfolgreich staatliches Unternehmerhandeln in der Kriegswirtschaft ist, soll sich die Bilanz der Kriegsministerin Christine Lambrecht anschauen. Die deutsche Rüstungsindustrie macht dabei freilich auch nicht Bella Figura.
Der Staat ist eben nicht der bessere Unternehmer. Mazzucatos »Unternehmerstaat« ist ein Mythos, wie die Ökonomin Deidre McCloskey zeigt. Es ist und bleibt eine Anmaßung zu sagen, der Staat habe ein überlegenes Wissen und ein ökonomisches Monopol auf den gesellschaftlichen Fortschritt. Im Gegenteil: Der demokratische Staat übernimmt sich, wird autoritär und illiberal. Ein Ministerium für Innovationspolitik sei ein ähnlicher Unfug wie ein Ministerium für Sprache oder Rock Musik, lästert McCloskey. Innnovationen sind unvorhersehbar. Deshalb sind sie, logisch zwingend, auch nicht planbar. Dass Politiker dies gerne hätten, überrascht nicht. Kein Wunder, dass sie alle und von jeglicher Couleur auf Mariana Mazzucato abfahren.Quatsch ist auch, wenn es jetzt als Lob einer »weiblichen Ökonomie« allenthalben heißt, die Arbeit von Wissenschaftlerinnen sei an den Bedürfnissen des Menschen orientiert und nicht an den Bedürfnissen des Marktes. Es ist doch gerade der Markt, der die Bedürfnisse der Menschen erfüllt. Kluge Frauen wie die Ökonomin Deirdre McCloskey wissen das.
Rainer Hank
06. Januar 2023
Ampel-UnfugRoll Back in der Sozialpolitik
Der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner hat zum Jahreswechsel eine positive Bilanz der bisherigen Arbeit der Ampel-Koalition gezogen. Deutschland sei »vergleichsweise gut durch dieses Jahr der verschachtelten Krisen gekommen«, sagte Lindner:
Wer wollte bestreiten, dass die anhaltende »Stapelkrise« (Krieg, Corona, Inflation) das Regieren nicht einfach macht, wenngleich die geopolitische Weltlage sich auch als willkommene Entschuldigung dafür anbietet, dass zu »trial« stets auch »error« gehöre. Geschenkt!
Ich erlaube mir, dem mitregierenden FDP-Vorsitzenden zu widersprechen. Im Windschatten der großen Weltkrisen hat die deutsche Ampel eine Kehrtwende in der Sozial- und Wirtschaftspolitik vollzogen, die nur deswegen nicht zu größeren öffentlichen Diskursunruhen führte, weil sie eben von anderen Themen überlagert wurde. Es ist eine zweite, eine leise Zeitenwende, hauptsächlich betrieben von der SPD. Es ist nichts weniger als eine komplette Abkehr von jenen Reformen, die in den Jahren nach 2000 unter der Überschrift »Agenda 2010« von einer rot-grünen Koalition betrieben wurde und Deutschland zu einem vergleichsweise stabilen Wirtschaftswachstum verholfen hat und nicht zuletzt zu einer nachhaltigen Erholung des Arbeitsmarktes geführt ht: Jeder, der hierzulande arbeiten will (und kann), findet einen Job, der mehr oder weniger ordentlich bezahlt wird. Dies ist (auch) Erfolg jener Reformen des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder, die dem ordnungspolitischen Grundsatz folgte: Jeder Bürger hat selbst die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Wer – verschuldet oder unverschuldet – in Not gerät, der hat Anspruch auf Hilfe durch den (Sozial)staat. »Fördern und fordern«, so lautet der Grundsatz der Solidarität.
Beispiel Bürgergeld
Was die Ampel unter dem verführerischen Label »Bürgergeld« durchgedrückt hat, ist die fast komplette Abkehr von dem erfolgreichen Zusammenspiel aus Selbstverantwortung und Solidarität. Die seit den Hartz-Reformen geübte Balance zwischen Großzügigkeit staatlicher Leistungen und Forderungen an die Transferempfänger kommt ins Wanken. Das »Fördern« wird ausgebaut, das »Fordern« tritt zurück. Mit dem Bürgergeld entsteht ein »bedingungsarmes« Grundeinkommen (Holger Schäfer); der Weg zum »bedingungslosen Grundeinkommen« ist vorgezeichnet. Die Philosophie, dass der Sozialstaat bedingungslos sei, niste sich immer mehr in unsere Gesellschaft ein, schreibt der Würzburger Ökonom Norbert Berthold auf seinem Blog. Das hat einen hohen Preis: Umverteilung wird immer effizienzverschlingender, mithin teuer und infeffizient. Norbert Berthold attestiert der Ampel, sie betreibe »ordnungspolitischen Unfug«.
Diese sozialpolitische Zeitenwende hat die Ampel der Gesellschaft ohne Not verordnet. Angesichts der realen beschäftigungspolitischen Not vieler Unternehmen, die händeringend Arbeitskräfte suchen, könnte man eher darüber nachdenken, das »Fordern« zu verstärken. Denn, wie gesagt, zumutbare Arbeit gibt es zuhauf. Die Firmen laufen den Leuten hinterher. Es ist noch nicht einmal nötig, dass die Solidargemeinschaft die Weiterbildung der Arbeitssuchenden übernimmt – eine Neuerung des »Bürgergeldes«, für das die Ampel sich besonders auf die Schulter klopft: Das kann sie getrost den Firmen überlassen, die die Weiterbildung für ihre neuen Mitarbeiter aus purem Eigeninteresse übernehmen und finanzieren werden. Es bleibt wahr, was oft gesagt wurde: Das »Bürgergeld« heilt keine Not des Arbeitsmarktes, sondern das Hartz-Trauma der SPD, zwanzig Jahre danach. Dabei ist die »Linke«, unintendiertes Resultat dieses sozialdemokratischen Traumas, gerade erfolgreich dabei, ohne Nachhilfe der SPD parteipolitisch zu verzwergen.
Beispiel Gesundheitspolitik
Auch in der Gesundheitspolitik unter SPD-Minister Karl Lauterbach vollzieht sich ein Rollback. Seit 2004 unter der damaligen Ägide der SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt rechnen die Kliniken ihre Kosten auf der Basis sogenannter diagnosebezogener Fallpauschalen ab, welche das zuvor übliche System der Tagessätze ablöste. Das zentrale Argument für diese Fallpauschalen ist heute nicht weniger triftig als damals: Verhindert werden soll, dass die Krankenhäuser höhere Einnahmen dadurch generieren, dass sie Patienten ohne medizinische Notwendigkeit länger in ihren Betten behalten.
Inzwischen gelten Fallpauschalen als Inbegriff neoliberaler Gesundheitspolitik, Ausbund böser »Ökonomisierung«. Mit dem populistischen Argument, Geld dürfe keine Rolle spielen, wenn es um Leben und Tod gehe, lässt sich allemal viel Beifall heischen. In Wirklichkeit müsste es darum gehen, die beste Medizin wirtschaftlich so effizient wie möglich bereitzustellen. Andere Länder kriegen das besser hin als wir. Die »Fallpauschale« ist der falsche Gegner. Besser wäre es, Kliniken zu spezialisieren und regional zu konzentrieren. Aber das gilt – Sie ahnen es – natürlich ebenfalls als neoliberale Ökonomisierung.
Nehmen wir als letztes Beispiel die Wohnungspolitik. Auch hier hat sich inzwischen – wiederum besonders militant betrieben von der SPD – die Überzeugung breit gemacht, Markt und Preise hätten nichts verloren, wenn es um das Grundbedürfnis und -recht des Wohnens gehe. Von dem vergleichsweisen milden Eingriff in einer Mietpreisbremse bis zur Enteignung von »Immobilienhaien« ist kein allzu weiter Weg, wie das Beispiel Berlin zeigt. Neue und bezahlbare Wohnungen entstehen dadurch nicht, der Respekt vor dem Privateigentum, Grundpfeiler einer sozialen Marktwirtschaft, verdampft.
Jede einzelne Kritik könnte man unter der Rubrik »Kirche im Dorf lassen« abtun. Es kommt mir auf die Zusammenschau an: Schindluder mit den Preisen, auch wenn die Eingriffe als fiskalpolitische Inflationsbekämpfung verbrämt werden (Energiepauschale, Gas-, Strom- Mietpreisbremse), Abkehr von einer regelgebundenen Sozial-, Gesundheits- und Wohnungspolitik und eine sich breit machende Überzeugung, Geld sei genügend da – nennen wir es verklärend »Sondervermögen« -: für all den ganzem Unfug wird am Ende eine Rechnung fällig. In Form von Staatsschulden, die irgendwann zurückgezahlt werden müssen. Und in Form eines erodierenden Vertrauens in die gerechten und solidarischen Regeln einer Gesellschaft. Womöglich ist letzteres am gefährlichsten.
Wenn Regierungsmitglied Lindner jetzt einen Politikwechsel für mehr Wachstum fordert (F.A.Z. vom 28. Dezember), so sind das nichts anderes als leere Worte. Mit seinen Taten hat der Finanzminister bislang genau jene verheerende Verteilungspolitik unterstützt, deren Ende er jetzt herbeizuführen behauptet.
Rainer Hank
06. Januar 2023
Abschöpfer auf AbwegenWarum Politiker den Strompreis nicht verstehen
Vom 1. Januar an greift in Deutschland die Strompreisbremse. Für private Verbraucher sowie kleine Unternehmen wird die Rechnung bei 40 Cent pro Kilowattstunde gedeckelt. Dies gilt für den Basisbedarf von 80 Prozent des historischen Verbrauchs. Die Bundesregierung will mit dieser Maßnahme die Bürger entlasten, die unter den hohen Energiekosten leiden.
Subventionierte Preise bringen mit sich, dass irgendjemand die Differenz zwischen Marktpreis und gedeckeltem Preis bezahlen muss. Bei der Gaspreisbremse, die parallel zur Strompreisbremse greift, übernimmt der Staat die Kosten, der sich dafür verschuldet. Letztlich finanzieren die künftigen Steuerbürger unsere heutige Entlastung. Bei der Strompreisbremse will der Staat sich einen Teil der Kosten von den Energieerzeugern zurückholen und sich an deren hohen Gewinnen schadlos halten. Auf diese Weise soll ein zweistelliger Milliardenbetrag zusammenkommen.
»Übergewinne abschöpfen«, das ist in einer Marktwirtschaft eine ziemlich unerhörte Maßnahme, die noch dazu dürftig begründet ist. Natürlich holt sich jeder Staat einen Teil der Gewinne seiner Bürger, um damit öffentliche Aufgaben (von der Bildung über die Infrastruktur bis zur Verteidigung) zu finanzieren. Dafür erlässt er Steuergesetze, die für alle betroffenen Unternehmen gleichermaßen gelten, einerlei, woher die Gewinne stammen und wie hoch sie ausfallen. Die Strompreisbremse hingegen ist ein willkürlicher Eingriff für bestimmte Unternehmen, was nicht zuletzt der aggressive Begriff des »Abschöpfens von Zufallsgewinnen« verrät. Macht dies Schule, können künftig auch Zufallsgewinne zum Beispiel von Börsenspekulanten abgeschöpft werden, die ja ebenfalls nicht durch besondere Leistung oder hohe Kosten gerechtfertigt sind.
Als eifrige Abschöpferin profiliert sich auch die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen. Sie kündigt für das kommende Jahr »tiefgreifende Reformen« der Strommarktordnung an. Das derzeitige Strommarktdesign, das den Erzeugern bei niedrigen Produktionskosten ungerechtfertigt hohe Gewinne beschere, sei nicht mehr zeitgemäß. So weit sind wir also schon, dass in Brüssel darüber befunden wird, welche Gewinne in welchen Branchen zeitgemäß sind und welche nicht.
Ein Video als Nachhilfe
Politiker beweisen mit solchen Äußerungen, dass sie nicht verstanden haben, was sie kritisieren. Allen, die es verstehen wollen, empfehle ich ein kleines Video von Lion Hirth. Der Mann ist Ökonomie-Professor an der Hertie-School in Berlin, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Energiepreisen und ist Mitglied der Gaspreiskommission der Bundesregierung. Ich garantiere jedem, der es sich ansieht, eine steile Lernkurve mit vielen Aha-Effekten. Man kann da zum Beispiel lernen, warum Bier morgens und abends unabhängig von der Nachfrage gleich viel kostet, während der Strompreis im Tagesverlauf extrem schwankt.
Preise am Strommarkt bilden sich in der sogenannten Merit Order. Die besagt: Maßgeblich für den Strompreis sind die Produktionskosten des letzten noch benötigten Kraftwerks. Dieser Preis gilt für alle Erzeuger gleichermaßen. Windräder oder Kernkraftwerke produzieren besonders günstig, Braun- und Steinkohle haben höhere Kosten, besonders teuer wird es bei der Umwandlung von Gas in Strom. Ist die Nachfrage nach Strom besonders hoch, bestimmt die Verstromung von Gas den Preis für alle Erzeuger und Verbraucher.Dieses Prinzip der Merit Order beschert in der Tat den Erneuerbaren und Atomkraftwerken hohe Gewinne, denn sie produzieren zu viel geringeren Kosten als die Gaswerke. Falsch ist indes der Eindruck, Merit Order sei eine Besonderheit des Strommarktes. In Wirklichkeit gilt dieses Prinzip auf allen Märkten oder zumindest auf allen Märkten für gleichförmige Güter (Erdöl, Kupfer, Bananen, Weizen). Dem Strom aus der Steckdose ist es egal, auf welche Weise er produziert wird. Wie im ersten Kapitel eines Lehrbuches für Ökonomie: Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis.
Machen wir es – mit Lion Hirth – am Beispiel der Landwirtschaft konkret. Nehmen wir zwei Bauernhöfe, die Weizen anbauen. Beim ersten von ihnen – traditionelle Produktion, kleine Felder, schlechte Böden, viel Handarbeit – entstehen Kosten von einem Euro je Kilo. Der andere nutzt große Maschinen auf riesigen Feldern in bester Lage: der hat lediglich Kosten von 50 Cent je Kilo. Beide produzieren die gleiche Qualität und die Nachfrage ist so groß, dass beide benötigt werden.
Was passiert nun? Der teure Bauernhof muss seinen Weizen mindestens für einen Euro verkaufen, andernfalls würde er Pleite gehen. Der günstigere wird ebenfalls für einen Euro verkaufen: Warum sollte er weniger nehmen, wo Kunden bereit sind, einen Euro zu zahlen? Es stellt sich ein einheitlicher Preis ein, weil die Güter die gleichen sind. Dieser Preis wird vom teuersten notwendigen Produzenten bestimmt – hier also dem traditionellen Bauernhof.
Planwirtschaft aus Brüssel
Nehmen wir nun an, Frau von der Leyen und ihre planwirtschaftliche Truppe wollte dem modernen Bauernhof seine »Übergewinne« verbieten und droht ihm an, diese »abzuschöpfen«, sollte er nicht bereit sein, seinen Weizen zu 50 Cent an die Bäckereien und Müsli-Kunden abzugeben. Das würde nicht funktionieren: Denn der moderne Bauer hätte nicht genügend Weizen für alle im Angebot. Schlau wie die Kunden sind, wären sie bereit, mehr zu bezahlen, um bevorzugt bedient zu werden. Sie würden sich mutmaßlich bis zum Preis von einem Euro hochschaukeln, dem sogenannten markträumenden Preis, zu dem dann auch der traditionelle Landwirt liefern würde, um die hohe Nachfrage zu bedienen.
Wie gesagt: Merit Order ist kein Spezifikum beim Strom, erst recht keine »Regel«, die von Politikern »reformiert« werden müsste – sondern die Beschreibung eines fundamentalen Prinzips, wie Preise sich auf einem freien Markt bilden. Und noch ein Missverständnis gilt es bei dieser Gelegenheit auszuräumen: Die »Marge« zwischen Preis und Produktionskosten ist nicht der Gewinn, den man einfach abschöpfen kann, sondern der »Deckungsbeitrag«, von dem die Investitionskosten der Kraftwerke bezahlt werden müssen.
Daraus folgt der Rat an Politiker: Hände weg vom Willküreingriff in Preise und Gewinne. Dieser ist durch nichts gerechtfertigt, auch nicht vom Krieg in der Ukraine und dem Preisdiktator Wladimir Putin. Wer den Preismechanismus nicht respektiert, riskiert das Ende der Marktwirtschaft. Am Ende gibt es weder ausreichend Strom noch ausreichend Weizenbrot. Denn das Angebot verbessert sich nicht durch eine wie auch immer geartete »Preispolitik«.
Rainer Hank
21. Dezember 2022
Der liberale KosmopolitF.A. von Hayek: Ein exemplarisches Intellektuellenleben
Wie erzählt man ein Leben? Man kann mit der Geburt beginnen. Oder besser noch mit der Zeugung. So macht es Laurence Sterne in seiner Erzählung von Leben und Ansichten des Tristram Shandy: »Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, hätten bedacht, was sie taten, als sie mich zeugten.« Und so nimmt das Leben Tristram Shandys leider »unbedacht« seinen Lauf, besser gesagt, der Roman kommt nie wirklich über den Zeugungsakt und seine Vorgeschichte hinaus.
Ein Beginn mit der Zeugung, das geht nur in der Literatur. Bei Berühmtheiten aus dem wirklichen Leben müssen die Biografen sich etwas anderes einfallen lassen. Sie können zum Beispiel mit dem Ende beginnen. So macht es Friedrich Wilhelm Graf in seiner kürzlich erschienen Biografie des großen Gelehrten Ernst Troeltsch: Wir Leser versammeln uns am 3. Februar 1923 mittags um 12 Uhr in der Haupthalle des Krematoriums von Berlin-Wilmersdorf, lassen den Trauerzug der Gebildeten der Weimarer Republik und die Nachrufe an uns vorbeiziehen und wissen sogleich: Hier wird ein bedeutender Mann zu Grabe getragen, auf dessen Leben wir neugierig gemacht werden sollen.
Im Vergleich mit Zeugung oder Begräbnis startet die neue Biografie des großen Ökonomen Friedrich August von Hayek, um den es in dieser Kolumne gehen soll, vergleichsweise konventionell: Die beiden Autoren Bruce Caldwell und Hansjoerg Klausinger setzen ein mit der Hochzeit von Hayeks Eltern August und Felicitas am 24. Mai 1898 in Wien. Knapp ein Jahr später, wie es sich im Bürgertum ziemt, kommt der Erstgeborne, Friedrich August von Hayek, zur Welt. Seine Mutter schreibt »Fritzerls Tagebuch« aus der Perspektive des Babys, Aufzeichnungen, die zur ersten Quelle der Biografen werden. Das Kind wächst im Fin-de-siècle-Wien auf, der letzten Phase eines Goldenen Zeitalters der Stabilität. Es folgt das »kurze 20. Jahrhundert« (Eric Hobsbawm): Unruhige Jahrzehnte mit Kriegen und Katastrophen – humanitär, politisch, ökonomisch. Und anmaßende Großversuche kollektiven Größenwahns (Nationalsozialismus und Kommunismus), die allesamt gescheitert sind.
Vater der liberalen Revolution
Hayek, er starb 1999 in Freiburg im Breisgau, hat dieses Jahrhundert in intellektueller Wachheit durchmessen: ein ökonomischer Denker, dessen Werk weit über das rein Ökonomische hinausragt. Krise und Depression der 20er und 30er Jahre, grauenhafter Krieg und Aufbau der Wohlfahrtsstaaten in den 50er und 60er Jahren und die abermalige Krise der Stagflation (so ähnlich wie heute) nach dem ersten Ölpreisschock in den siebziger Jahren lösten sich ab. Am Ende hat Hayek den Fall der Mauer und den Zerfall der Sowjetunion mit Genugtuung erlebt.
Wenn es stimmt, dass wirtschaftliche und politische Zäsuren ihre intellektuellen Vordenker brauchen, dann kann die Wirkung Hayeks gar nicht überschätzt werden: Als geistiger Vater jener liberalen Revolution, die in den siebziger und achtziger Jahren in England (Margret Thatcher) und den USA (Ronald Reagan) den Staat von den Kommandohügeln stürzte und dem freien Markt seinen segensreichen Lauf ließ. Der Erfolg Hayeks hat seinen Preis: Bis heute gilt er als Gottseibeiuns des »Neoliberalismus«, der für fast alles verantwortlich gemacht wird, was dem Zeitgeist nicht passt. Die Jahre dieser politischen Wirkung, in der zugleich sein wichtiges Spätwerk (»Die Verfassung der Freiheit«, 1960) erschien und die gekrönt wurden vom Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, kommen in dem jetzt erschienenen ersten, 900 Seiten (!) starken Teil der Biografie noch gar nicht vor. Sie endet mit Hayeks populären Hauptwerk, dem »Weg zur Knechtschaft« von 1944 und seinem Wechsel von England in die Vereinigten Staaten 1950.
Hayek, belegen seine Biografen, war stets zur rechten Zeit am rechten Ort. Die sogenannte österreichische Schule der Nationalökonomie, in der er akademisch groß wurde, bewahrte ihn davor, die sozialistischen Utopien seiner Jugend weiterzuverfolgen und bekehrte ihn zum Liberalismus. In den dreißiger Jahren im intellektuell quirligen Milieu an der »London School of Economics« entwickelte er eine Konjunkturtheorie, die den instabilen Zyklus von Auf- und Abschwung der Wirtschaft als Folge inflationärer Kreditausweitung durch die Zentralbanken erklärte. Billiges Geld führe zur Fehlallokation von Kapital und notwendig in die Rezession. Damit hatte Hayek sich frontal mit John Maynard Keynes angelegt, der Wirtschaftskrisen als Folge mangelnder Nachfrage erklärte. Die wirtschaftspolitischen Folgerungen, die Hayek und Keynes ziehen, unterscheidet sich dementsprechend diametral: Soll man die Nachfrage oder die Bedingungen des Angebots stärken? Beides wurde im Lauf des 20. Jahrhundert am lebenden staatlichen Organismus durchexerziert. Der Streit ist bis heute nicht entschieden: am unterhaltsamsten kann man ihn sich vergegenwärtigen in einem in der Finanzkrise 2008 berühmt gewordenen Rap-Song »Fear the Boom and Bust.« Hayek, der Melancholiker, und Keynes, der Sinnenfreund, kamen menschlich gar nicht schlecht miteinander aus. Intellektuell schenkten sie sich nichts: Als »grauenhaftes Käu« schmähte Keynes eines der Bücher Hayeks.
Das Drama des Lebens
Und das Private? Da ist bei Hayek nicht viel zu holen, wenngleich seine Biografen bestreiten, er sei ein zurückgezogener Eigenbrötler gewesen. In Gesellschaft, sofern sie geistiges Niveau hatte, habe er sich durchaus wohl gefühlt. Gleichwohl, enge Freunde hatte der Mann nur sehr wenige. Und ein Ehedrama überschattet alles: Nachdem Hayeks Jugendliebe, Helene Bitterlich, einen anderen Mann geheiratet hatte, entschied Hayek sich für eine andere Helene – Helene (»Helena«) von Fritsch –, die äußerlich der ersten Helene (»Lenerl«) ähnlich war. Innerlich blieb Hayeks Lenerl treu, deretwegen er sich 1949, seinem »annus horribilis«, scheiden ließ. Noch nie habe er einen Mann in solcher Verzweiflung gesehen, kommentierte Hayeks engster Freund Lionel Robbins, der ihm die Scheidung nie verzieh und sich abwandte.
Wäre ich Verleger, ich würde jetzt eine zusammenhängend Monografie über die drei mutmaßlich wichtigsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts in Auftrag geben: Zu Hayek und Keynes träte Joseph A. Schumpeter, der aus demselben Wiener Milieu wie Hayek stammt, ebenfalls in den angelsächsischen Westen zog, sich aber akademisch ganz anders entwickelte. Die drei Herren, deren Bücher man ohne Kenntnis der höheren Mathematik lesen kann, vermessen das Feld der Ökonomie, das bis heute die Landkarte bestimmt. Sie lebten in einer Welt, in der Ökonomen sich zum Vorteil ihrer Leser nicht auf die Ökonomie bescheiden wollten.
Rainer Hank