Hanks Welt
Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).
Aktuelle Einträge
19. August 2025Nahbarkeit
19. August 2025Schuld und Schulden
15. August 2025Unser Freund, das Aton
15. August 2025Ein Sparkommisar?
12. August 2025Wohltemperiert
09. August 2025Demokratie-Industrie
09. August 2025Schlank werden
05. August 2025Booster-Boomer
05. August 2025Ein Lob des Stammtischs
02. August 2025Lokomotive des Fortschritts
16. Juni 2023
Steinmeiers PflichtjahrSolidarität, zwangsverordnet
Ein Bundespräsident braucht ein Projekt. An irgendetwas soll man sich später schließlich erinnern können. Besonders gut haben das Walter Scheel und Roman Herzog hinbekommen. Der eine ist als Volksliedsänger in die Geschichte eingegangen (»Hoch auf dem gelben Wagen«), der andere als Volksschüttler (»Durch Deutschland muss ein Ruck gehen«). Weniger einprägsam blieben Joachim Gauck und Christian Wulff: Der eine gab sich als Prophet der Freiheit, die leider etwas blass blieb, der andere als ein Verteidiger der Integration (»Der Islam gehört zu Deutschland«), was dann vom turbulenten Ende seiner Präsidentschaft überwölkt wurde. Schlimmer erging es nur noch Heinrich Lübke. Vieles, was von ihm überliefert ist, darf inzwischen noch nicht einmal mehr wörtlich zitiert werden (»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe [N-Wort]«).
Frank-Walter Steinmeier ist inzwischen in seiner zweiten Amtszeit angelangt und muss sich ein wenig sputen. Sein Vermächtnis heißt »Soziale Pflichtzeit«. Er wiederholt es bei jeder Gelegenheit, zuletzt in einem Gastbeitrag in der FAZ am 25. Mai. Dabei handelt es sich um ein Plagiat, was aber nicht so schlimm ist: Ursprünglich stammt die Idee von Annegret Kramp-Karrenbauer, die – für alle, die sich nicht mehr erinnern – eine kleine Weile lang CDU-Vorsitzende war.
Im Vergleich zu der Ideenerfinderin aus dem Saarland ist Steinmeier wesentlich hartnäckiger. Für all jene, an denen der Vorschlag bislang vorbeigegangen ist, hier die Zusammenfassung: Sozialer Pflichtdienst soll ein Dienst genannt werden, bei dem Menschen aus verschiedenen Milieus und Schichten zusammenarbeiten müssen. Damit könne der Zusammenhalt in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft gestärkt werden. Die Pflichtzeit soll mindestens sechs Monate, maximal ein Jahr dauern und kann in unterschiedlichen Phasen des Lebens absolviert werden. Es braucht dazu eine Verfassungsänderung, für die der Bundespräsident gute Chancen sieht. Die Zustimmung zu seiner Idee erreiche in der ganzen Gesellschaft 65 Prozent, bei den Jüngeren liege sich bei knapp über 50 Prozent.
Viele Menschen seien »regelrecht elektrisiert« von seiner Vision, berichtet Steinmeier. Ich gestehe, dass ich nicht zur Gruppe der Elektrisierten zähle, und konzentriere mich auf zwei Einwände: Die Freiheitsberaubung. Und die ungeklärte Nachfrage.
Wie wird der Mensch tugendhaft?
Zunächst zur naheliegenden Frage, ob sich die gespaltene Gesellschaft – falls es sie wirklich gibt – mit Zwang kitten lässt. Nüchtern ökonomisch betrachtet wäre die Einführung einer Pflichtzeit nichts anderes als eine Steuererhöhung. Denn bei einem Zwang zu Sozial- oder Militärdienst wird dem Dienstleistenden eine Naturalsteuer auferlegt, indem er dem Staat ohne marktgerechte Gegenleistung seine Zeit zur Verfügung stellt – was im strikten Sinn die Definition einer Steuer erfüllt. Jede Steuer ist ein Eingriff in die Freiheit der Bürger: Die Einkommensteuer konfisziert (legal) Teile des Eigentums, die Naturalsteuer würde mindestens ein halbes Jahr lang den Menschen die Freiheit nehmen, selbst über ihr Leben zu entscheiden. Zum Beispiel sich ehrenamtlich zu betätigen, ein Engagement, das hierzulande kontinuierlich zunimmt (jedenfalls bis zur Pandemie). Dabei ist die Naturalsteuer eine deutlich größere Freiheitsberaubung als Mehrwert- oder Einkommensteuer, vergleichbar dem Verhältnis von Geld- und Gefängnisstrafe.
Kann man Solidarität zwangsverordnen? Der Präsident kenn diesen Einwand natürlich. Er kontert ihn mit der steilen Behauptung: »Eine Pflicht ist nicht einfach nur Zwang.« Als Pflicht spreche der demokratische Staat alle Bürger als gleiche an und versichere ihnen, gebraucht zu werden für »eine gerechtere, eine menschliche und nachhaltige Gesellschaft«. Damit zitiert Steinmeier (womöglich unbewusst) eine zutiefst deutsche Tradition des Gegensatzes von Pflicht und Neigung, die auf Immanuel Kant und Friedrich Schiller zurückgeht. In dieser Tradition verfällt die Neigung dem Verdacht moralischer Berechnung, – als ethisch wertvoll gilt ausschließlich die Pflicht.
Im bei J.G. Cotta erscheinenden Musenalmanach für das Jahr 1797 unterstellt Schiller einem fiktiven Zeitgenossen, er diene zwar seinen Freunden, »doch thu ich es leider mit Neigung: Und so wurmt es mir (sic!) oft, dass ich nicht tugendhaft bin«. Es genügt also nicht, gelegentlich moralisch zu handeln oder ausschließlich dort, wo es aus Berechnung oder angesichts von Freunden leichtfällt, wie der Tübinger Philosoph Ottfried Höffe seinen Schiller paraphrasiert. Tugendhaft, also moralisch gut, darf sich erst nennen, wer auch in schwieriger Lage den moralischen Geboten folgt. Und das geht nur mit Pflicht: »Da ist kein anderer Rath, du musst suchen, sie (sc. die Neigung) zu verachten,/ Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut.«
Der Unterschied zwischen Steinmeier und Schiller liegt nicht nur in der schöneren Sprache des Dichters, sondern auch darin, dass Schiller die Pflicht als rein moralisches Gebot versteht. Dem scheint Steinmeier nicht zu trauen, weshalb er aus der moralischen Pflicht eine staatliche Zwangsverpflichtung machen will, deren Redlichkeit nun wiederum Schiller nicht trauen würde, weil der äußere Zwang die innere Motivation verschmutzt. Wer weiß dann noch, ob der Bürger sich wirklich für eine gerechtere, menschliche und nachhaltige Gesellschaft verpflichtet, oder lediglich tut, was das Machtmonopol des Staates gebeut.
Doch wozu gebeut nun eigentlich Steinmeiers Pflicht? Oder ökonomisch gewendet: Auf welche Nachfrage soll das soziale Angebot treffen? Da wird unser Philosophenpräsident merkwürdig schmallippig. Gated Communities sollen überwunden werden, Brücken gebaut, getrennte Lebenswelten verbunden werden. Was heißt das konkret? Schickt das Präsidialamt einen Pflichttrupp nach Dresden in eine AfD-Mitgliederversammlung? Oder zu den linksextremen Terroristen. Wird eine Abordnung nach Oberbayern zum ortsnahen Aufstellen von Windrädern verdonnert? Oder zu einer Diskussionsveranstaltung mit Islamisten oder Klimaklebern? Oder sollen Rechts-Identitäre mit Links-Nonbinären gemeinsam zur Altenbetreuung geschickt werden? Ich karikiere, ich weiß. Aber man hätte es eben schon gerne konkret gewusst, wo die Nachfrage nach Brückenbauern herkommt.
Integration durch Konflikt, nicht durch Abschmelzung von Konflikten, das war laut Ralf Dahrendorf das liberale Erfolgsgeheimnis der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dieser Prozess läuft über die wechselseitige Anerkennung von Haltungen, Argumente oder Prägungen von Andersdenkenden und Anderslebenden. Eine Einübung darin vermittelt, wenn es gut geht, Bildung (Eltern, Schule, Vorbilder, Mentoren) – jedenfalls besser und nachhaltiger als eine soziale Zwangsverpflichtung.
Rainer Hank
06. Juni 2023
Nützliche IllegalitätWarum sagt der Ex-Audi-Chef so komische Sachen
Er hat es getan. Zweieinhalb Jahre, 167 Verhandlungstage lang, hat der Ex-Audi-Chef Rupert Stadler standhaft geleugnet, dass er davon gewusst habe, dass in seinen Autos eine Motorensteuerungssoftware eingebaut wurde, um die Abgaswerte zu türken.
Nun also, am 16. Mai 2023, gesteht Stadler. Doch was hat er eigentlich gestanden? Dazu muss man sich die Formulierung anschauen, die Stadlers Verteidigerin an diesem Vormittag im Gerichtssaal abgab. »Dass möglicherweise die Beschaffenheit von Dieselmotoren nicht rechtlichen Zulassungsbedingungen entspricht«, habe er, Stadler, »nicht gewusst, aber als möglich erkannt und es billigend in Kauf genommen«.
Dieses wunderbare Zitat, ein Kleinod der Gerichtssprache, ist im wahrsten Sinn des Wortes toll. Es hst eine juristische, eine sprachphilosophische und eine organisationssoziologische Komponente. Analysiert wurde bislang immer nur der strafrechtliche Aspekt. Demnach ist die Verklausulierung das Eingeständnis von »Betrug durch Unterlassen« und zugleich Ergebnis eines Deals mit dem Gericht, der den Angeklagten Rupert Stadler davor verschont, ins Gefängnis zu müssen und ihm zusichert, mit einer Bewährungsstrafe und einer Geldzahlung von 1,1 Millionen Euro davonzukommen. Solche Deals sind nicht unüblich. Mein von den »Zwölf Geschworenen« im Kino geprägter Laienverstand sträubt sich da. Ich denke, vor Gericht geht es um die Frage »schuldig« oder »nicht schuldig« – tertium non datur. Und ich denke, dass es da um Wahrheit und nicht um einen ökonomischen Kosten-Nutzen-Deal geht. Doch dies scheint ein naives Bild vom Strafprozess zu sein. Im Endeffekt kommt Stadler mit 1,1, Millionen billig davon; seine Jahresvergütung als CEO bei Audi betrug im Schnitt fünf Millionen Euro.
Es regnet. Aber ich weiß es nicht
Nun zur Sprachphilosophie. Wie kann jemand etwas nicht wissen und, was er nicht weiß, zugleich billigend in Kauf nehmen? Wissen, definiert das Lexikon, als Kenntnis haben von Fakten, Theorien oder Regeln. Stadlers Aussage vor Gericht muss man dann als Mooresches Paradox verstehen: Etwas behaupten und im gleichen Atemzug sagen, dass man es nicht glaubt (»Es regnet, aber ich glaub es nicht.«). Stadler sagt, er habe nichts gewusst, aber dann kam ihm der hypothetische Gedanke, so etwas könnte womöglich doch der Fall sein. Und für diesen hypothetischen Fall hat er sich dann in Verdacht, es billigend in Kauf nehmen. Man kann das Paradoxon also auch umgekehrt formulieren: Zweifelhaftes kann man nicht wissen. Wir befinden uns hier in einem sehr weit fortgeschrittenen Konjunktiv, der weitere Fragen provoziert. Warum sollte Stadler auf eine derart verrückte Idee kommen (Einbau von widerrechtlicher Software), wo er doch gar kein Wissen darüber hat, dass es so etwas gibt? Und warum sollte er diese Möglichkeit auch noch billigend in Kauf nehmen? Warum sollte er etwas vertuschen, von dem er gar nicht weiß, dass er es vertuschen könnte? Aus der Paradoxie gibt es kein Entrinnen.
Gehen wir weiter zur Organisationssoziologie. Dort ist seit langem das Konzept »nützlicher Illegalität« bekannt. Der Einbau der betrügerischen Motorensteuerungssoftware war ja keine Tat böswilliger Ingenieure, die sich gegen das Unternehmen richtete, wie etwa, wenn Werkzeug oder Patente geklaut werden. Ganz im Gegenteil diente der Gesetzesbruch dazu, VW, Audi & Co. Vorteile am Markt zu verschaffen. Man täuschte vor, Abgasnormen einzuhalten, die man weder einhalten konnte noch einhalten wollte. Solche Verstöße sind nützlich und funktional im Sinne des Unternehmenszwecks: Man handelt gesetzeswidrig, aber für einen guten Zweck im Sinne der Firma (jedenfalls so lange, wie die die Sache nicht auffliegt).»Das will ich gar nicht wissen«
Wie werden ganz praktisch solche kriminellen Handlungen angeordnet? Sicher nicht derart, dass es einen Ukas, mündlich oder schriftlich, des obersten Chefs gibt, von der nächsten Modellreihe an Schummelsoftware in die Autos einzubauen. Eher doch wohl so, dass da plötzlich der ein oder andere Vorschlag des ein oder anderen Technikers im Raum steht, wie man die gesetzlichen Abgasanforderungen mit dem ein oder anderen Trick erfüllen könne (niemand würde das eine »illegale Handlung« nennen), ohne sich daran halten zu müssen. Der Chef steht mit dabei, hört zu und sagt dann Sätze wie: »Das will ich alles gar nicht wissen.« Oder: »Das will ich jetzt gar nicht gehört haben.« Die Botschaft des Chefs an die Mitarbeiter ist klar: Macht mal, aber lasst mich da raus. Er kann dann später »guten Gewissens« immer sagen, er habe von nichts gewusst.
Ich weiß natürlich nicht, wie es wirklich war. Doch jeder, der schon einmal in einem Unternehmen gearbeitet hat, kennt solche Chef-Sätze. Genau diese Art des Nichtwissens scheint mir, soziologisch gesehen, im Fall des Stadler-Geständnisses vorzulegen. Er hat sich gehütet, etwas zu wissen (könnte ja sein, man steht später einmal vor Gericht und braucht einen Deal). Aber das, was er zu wissen sich gehütet hat, hat er »als möglich erkannt und billigend in Kauf genommen«. Die Botschaft wurde verstanden. Immer wieder wird gesagt und geschrieben, bei VW und Audi habe es ein autoritäres System von Befehl und Gehorsam der Herren Winterkorn und Stadler gegeben. Eher ist das Gegenteil der Fall, vermute ich: Es brauchte gerade keine autoritären Befehle. Eine auf Vertrauen und Loyalität aufgebaute Unternehmenskultur ist wie gemacht für nützliche Illegalität.
Der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl erforscht seit langem das System nützlichen Regelbruchs in Organisationen. Sein 2020 im Campus-Verlag erschienenes Buch »Brauchbare Illegalität« macht plausibel, dass Regelverstöße nicht die Ausnahme (Skandal, Skandal!), sondern die Regel sind. Regelbruch als Regel – getreu dem Diktum von Wilhelm Busch: »Tugend war zu jeder Zeit/nur Mangel an Gelegenheit.«Kühl macht sich Gedanken, wie man solche nützlichen Regelverstöße eindämmen kann. Keinesfalls durch Skandalisierung oder Moralisierung, findet der Soziologe. Ethikrichtlinien und dergleichen dienen den Chefs nur umso mehr als Rechtfertigung dafür, dass man alles unternommen habe, um einer Organisationskultur entgegenzuwirken, durch die Mitarbeiter zu Gesetzesverstößen ermutigt werden. Die Führung ist dann fein raus und kann schweigend billigend in Kauf nehmen. Die einzige Möglichkeit, Regelabweichungen in Unternehmen zu thematisieren, bestünde in einer konsequenten Entmoralisierung, findet Kühl. Er setzt auf »kommunikative Nischen«, in denen über spezifische Regelabweichung gesprochen wird. Das klingt vernünftig. Aber ist es auch realistisch? Kaum. Eher bleibt es auch künftig bei der Paradoxie von Nichtwissen und stillschweigender Billigung dessen, was man nicht weiß.
Rainer Hank
31. Mai 2023
Heils RhetorikWie man Freiheitsberaubung gut verkaufen kann
Was macht eigentlich Hubertus Heil? Der Mann ist Arbeitsminister in der Ampelregierung, fällt nicht besonders auf und ist doch beliebt. Allzu viel Auffälligkeit schadet auf Dauer ohnehin, wie Heils Kollege Robert Habeck derzeit erfahren muss und seither wie eine beleidigte Leberwurst agiert. Habeck ist im Beliebtheitsranking der Deutschen gerade dramatisch abgestürzt, während Hubertus Heil sich stabil auf Platz 2 hält, gleich hinter dem Shooting-Star Boris Pistorius.
Grund also nachzusehen, worauf die Beliebtheit von Hubertus Heil (SPD) beruht. Meine Vermutung: Auf Rhetorik. Das ist aus der Perspektive eines Politikers ein Lob.
Mein Beispiel für Heils Kommunikation ist das sogenannte Tariftreuegesetz. Das ist nun nicht gerade ein Brüller, mit dem man Gemeindesäle in Wallung bringt, eignet sich aber bestens dazu, rhetorische Pluspunkte zu sammeln. Die Gesetzesabsicht, nicht ganz neu und auch schon in Groko-Zeiten beliebt, findet sich im Koalitionsvertrag der Ampel an prominenter Stelle unter der Überschrift »Mehr Fortschritt wagen«. Fortschritt sei dann, wenn die Tarifautonomie gestärkt werde, damit in Deutschland »faire Löhne« gezahlt würden, was gut sei für die Beschäftigten und die nötige Lohnangleichung zwischen Ost und West befördere. Und wie kommt man zu »fairen Löhnen«? Dafür soll es eben jenes Tariftreuegesetz geben. Wörtlich: »Zur Stärkung der Tarifbindung, des fairen Wettbewerbs und der sozialen Nachhaltigkeit soll die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrags der jeweiligen Branche gebunden werden, wobei die Vergabe auf einer einfachen, unbürokratischen Erklärung beruhen soll.«
Ich empfehle diese Sprachbausteine ins Handbuch der politischen Rhetorik aufzunehmen. Die Konstruktionsanleitung verlangt, in auffallender Häufigkeit positiv klingende Reizworte über den Text zu streuen. Also eben »fair«, »sozial«, »nachhaltig«, »treu« oder »unbürokratisch«. Das kommt immer gut und vernebelt die Frage, was damit eigentlich gemeint ist. Hauptsache, es geht um das Gute, Wahre und Schöne. Nicht nur die Bürger sind entzückt, auch die Kommentatoren jubeln. Schließlich gehe es um »sozialen Ausgleich als politische Aufgabe«, findet zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung. So ein Gesetz sei sogar dann gut, wenn es den Bund »zusätzliche Milliarden« kosten werde. Denn, wie gesagt, wenn es um den sozialen Ausgleich geht, wäre es kleinlich, wegen ein paar Milliarden mehr viel Gewese zu machen. Selbst der Branchenverband der Bauindustrie ist von Heils Plänen beglückt, obwohl dessen Betriebe künftig vom Staat das Lohnniveau diktiert bekommen. Kein Problem: Denn die Zusatzbelastung wird ja an Hubertus Heil durchgereicht (präziser: an den Finanzminister, noch präziser: an den Steuerbürger).
Missachtung der negativen Koalitionsfreiheit
Was gut klingt, muss bekanntlich nicht gut sein. Rhetorik kann (auch) zur Verschleierung genutzt werden. Beim Tariftreuegesetz ist das der Fall. Es ist in Tat und Wahrheit ein Gesetz zur Unterdrückung der Freiheit des Bürgers unter Zuhilfenahme von Gewaltandrohung. Es ist zudem verfassungswidrig, falls einem Nichtjuristen so ein Urteil zusteht.
Beginnen wir mit der Verfassung. Da heißt es in Artikel 114, Absatz 2, Haushaltsmittel des Staates müssten strikt »wirtschaftlich« ausgegeben werden, was in den Vergabeordnungen als »sparsam« interpretiert wird: mit minimalen Mitteln maximale Ergebnisse erreichen. Immerhin geht es um ein staatliches Auftragsvolumen zwischen 300 und 500 Milliarden jährlich. Die Pflicht, Tariflohn zu bezahlen, würde den Preiswettbewerb unterbinden und somit eklatant gegen das Gebot der Sparsamkeit verstoßen.
Wichtiger noch ist Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes, wonach jedermann das Recht hat, zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sich mit anderen zu Vereinen zusammenzuschließen, also sich in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu organisieren und kollektiv Löhne auszuhandeln. Das nennt man Tarifautonomie, die im Umkehrschluss das Grundrecht umfasst, solchen Vereinen fernzubleiben. Dies nennt man negative Koalitionsfreiheit, ein zentrales Freiheitsrecht in einem liberalen Staat. Nun haben sich in den vergangenen Jahren nicht nur immer mehr Firmen, sondern auch immer mehr Arbeitnehmer entschieden, von Recht fernzubleiben Gebrauch zu machen. Der Organisationsgrad von Verbänden und Gewerkschaften schrumpft. Da es keine Anzeichen dafür gibt, dass solche Entscheidungen im Zustand geistiger Umnachtung getroffen wurden, hat der Staat kein Recht, Menschen per Gesetz in die Verbände zu zwingen. Statt gleich »Dumpinglöhne« zu unterstellen, könnte es sein, dass die Menschen angesichts veränderter Knappheiten am Arbeitsmarkt lieber selbst für »faire« und ordentliche Bezahlung streiten wollen (und mit Wechsel des Arbeitgebers drohen, falls ihre Forderungen nicht erfüllt werden). »In einer freien Wirtschaft geht es den Auftraggeber nichts an, wie der Auftraggeber seine Mitarbeiter behandelt«, sagt Volker Rieble, ein Arbeitsrechtsprofessor an der Universität München.
Die Kehrseite der säuselnden Fairnessrhetorik findet sich im Kleingedruckten der Heilschen Treuepläne. Wer sich nicht an die staatlich vorgeschriebenen Tarife hält, dem drohen »abschreckende Sanktionen« mit »konsequenter Kontrolle«. Genannt werden: Bußgelder, Vertragsstrafen und Ausschluss von künftiger Vergabe. Hier zeigt der für seine Bürger angeblich treusorgende Staat seine ganze Härte. Gewalt als Kehrseite des Paternalismus, der Philosoph Michel Foucault, ein Analytiker der Macht, hätte seine helle Freude gehabt.
Ich fasse zusammen: Die Polit-Rhetorik von Fairness, Nachhaltigkeit, Fortschrittlichkeit und Treue verschleiert einen schweren Eingriff in die Freiheit der Bürger (Arbeitnehmer und Unternehmer), verbunden mit der Androhung von Gewalt für all jenee, die sich dem nicht fügen wollen. Das Tariftreuegesetz kommt im Juni in den Bundestag und soll vom 1. Januar 2024 Gesetzeskraft haben.
Wer kann das Gesetz stoppen? Der Bunderechnungshof, der für das Sparsamkeitsgebot öffentlicher Aufträge zuständig ist, kann im Vorfeld maulen. Das Bundesverfassungsgericht kann im Nachhinein prüfen; ein Kläger wird sich finden. Und die Partei der Freiheit, vulgo FDP? Sie müsste aus dem Ampelgeleitzug ausscheren, nähme sie ihren Freiheitsauftrag ernst. Tut sie aber nicht. Als Teil des Koalitionsvertrag stünde das Gesetz auf der Agenda der Bundesregierung, lässt mir die Bundestagsfraktion mitteilen. Im Übrigen hoffe man, die Sache noch irgendwie verzögern zu können (sofern ich die Verklausulierungen des zuständigen Abgeordneten richtig deute). Freiheitspolitik sieht anders aus.
Rainer Hank
12. Mai 2023
Die neue OstalgieGibt es ein richtiges Leben im Unrechtsstaat?
In meiner Familie wird die Geschichte eines Vetters erzählt, der eines Nachmittags, es muss Ende der fünfziger Jahre gewesen sein, aus dem Gasthaus zurückkommt und seinem Vater – meinem Onkel – den Satz entgegenschleudert: »Du bist ein Nazi.« Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Der Junge bekam eine gescheuert, die derart saß, dass er den Vater nie mehr auf das Thema ansprach.
Katja Hoyer, Mitte der 80er Jahre in der DDR geboren, frug eines Tages ihren Politik- und Geschichtslehrer im wiedervereinigten Jena, wie er heute das Gegenteil dessen lehren könne, was er vor dem Mauerfall unterrichtet habe. Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Der Lehrer schmiss Katja aus seiner Klasse.
Von dem Philosophen Hermann Lübbe stammt das Diktum des »kommunikativen Beschweigens«. Nach 1945 hatte man sich im Nachkriegsdeutschland darauf geeinigt, die Jahre zwischen 1933 und 1945 nicht zu thematisieren. Lübbe sprach von »Beschweigen«, nicht von »Verdrängen«, notwendige Vorbedingung für den Neuanfang. Die beiden Beispiele könnte man in Abwandlung des Lübbe-Diktums »aggressives Beschweigen« nennen.
Ein sonderbares, verschwundenes Land
Es kann Jahre dauern, bis aus Beschweigen Verstehen wird. In Westdeutschland hat es bis in die frühen 80er Jahre gedauert, also fast dreißig Jahre, bis ein offenes Gespräch über die Nazizeit möglich wurde. Seit dem Zusammenbruch der DDR sind inzwischen gut 30 Jahre vergangenen. Erst jetzt gibt es in meinem Freundeskreis einigermaßen offen-selbstbewusste Gespräche über biografische Erfahrungen in der DDR, jenem »sonderbaren, verschwundenen Land« (Katja Hoyer). So wundert es nicht, dass sich jetzt Bücher häufen, die antreten, der DDR Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne gleich apologetisch zu werden: »Lütten Klein«, das Buch des Soziologen Steffen Mau beschreibt die Demütigungen, denen die Ostdeutschen in den Jahren der Transformation nach 1989 ausgesetzt waren. »Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung«, der Bestseller des Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann, behauptet wortgewaltig, der Westen brauche den Osten als negative Projektionsfläche, um sich selbst in ein besseres Licht zu setzen.
In diesen Kreis gehört auch Katja Hoyers in diesen Tagen erschienenes, spannend zu lesendes Buch »Diesseits der Mauer«. Die DDR war kein graues Land voller hoffnungsloser Existenzen, so die These. Das andere Deutschland sei mehr als Mauer und Stasi. Auch Hoyer behauptet, die Geschichtsschreibung der DDR werde bis heute vom westlichen Blick dominiert. Mit dem Fokus auf die Verfehlungen der Diktatur werde übersehen, dass die meisten der 16 Millionen Einwohner der DDR ein relativ friedliches und normales Leben mit alltäglichen Problemen, Freuden und Sorgen führten. Die Mauer habe die Freiheit eingeschränkt, aber andere gesellschaftliche Schranken seien gefallen.Katja Hoyer schildert vierzig Jahre deutschen Sozialismus aus der Sicht derer, die ihn selbst erlebt haben. Als »Westdeutscher« bin ich überrascht und beschämt, wie wenig ich weiß. Wir begegnen dem Kommunisten Erwin Jöris 1937 in einer schmutzigen Zelle in Swerdlowsk/Sibierien, wir begegnen Regina Faustmann, die 1951 die Ärmel aufkrempelt, um sich am Wiederaufbau der Wirtschaft zu beteiligen (»Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf!) oder Andreas Weihe, einem 1980 »durch freiwilligen Zwang« bei der NVA gelandeten jungen Wehrpflichtigen, der verzweifelt hofft, nicht schießen zu müssen.
Die Haltung, die sich in all diesen Erinnerungsbüchern trotzig breit macht, heißt: Innensicht. Deshalb der Titel »Diesseits der Mauer« (Original: »Beyond the Wall«). Es fällt auf, dass all die genannten Autoren die DDR als junge Leute erlebt haben und die Entwürdigung und Depravierung ihrer Eltern oder Verwandten mitansehen mussten, denen sie jetzt Gerechtigkeit verschaffen wollen. Katja Hoyers Vater hatte eine vielversprechende Karriere als Luftwaffenoffizier vor sich, Hoffnungen, die von heute auf morgen vereitelt wurden, wie sie in einem Interview erzählt. Es ist aber auch interessant, dass alle Autoren im demokratischen Kapitalismus Karriere gemacht haben, was kaum möglich wäre, hätte die DDR weiter existiert. Katja Hoyer lebt seit über zehn Jahren in England, forscht als Historikerin am King’s College in London, ist Fellow der Royal History Society und hat eine Kolumne in der Washington Post.
Freiheit lässt sich nicht aufteilen
Wir lassen nicht zu, die Geschichte der DDR pauschal als eine Fußnote der deutschen Geschichte abzutun, die man am besten vergisst, so Katja Hoyer. Das hat freilich seinen Preis. Zu Recht sagt Katja Hoyer, BDR und DDR seien wie ein sozialwissenschaftliches Experiment, bei dem zwei Laborgruppen historisch unterschiedliche Wege gegangen sind. Ökonomisch ist der Ausgang des Feldversuchs eindeutig. Das Bruttosozialprodukt der BRD lag 1949 bei 261 Milliarden Euro, das der DDR bei 37 Milliarden. Am Ende, 1989, war der Wohlstand der Westdeutschen auf 1,4 Billionen Euro angewachsen im Vergleich zu 207 Milliarden der DDR. Katja Hoyer leugnet dies nicht. Aber sie stellt die soziale Gleichheit der DDR der westlichen Marktwirtschaft als mindestens ebenbürtig gegenüber: Eine viel größere soziale Durchlässigkeit, eine Gender-Gerechtigkeit (1988 arbeiten 90 Prozent der Frauen) nebst der staatlichen Förderung von Volks- und Spitzensport, dies Sachen nennt sie als Stärken des Ostens; sozialistischer Alltag im Zustand existenzieller Sorglosigkeit.
Spätestens hier sind Rückfragen nötig. Was heißt soziale Mobilität im Arbeiter- und Bauernstaat, wenn Akademikerkindern das Studium verwehrt wird und Christen das Nachsehen haben, wenn sie nicht in der FDJ waren? Wo steckt der Denkfehler in der »Vision einer klassenlosen Gesellschaft, in der man am oberen Ende des wirtschaftlichen Spektrums freiwillig auf Luxus verzichtete, um am unteren Rand große Armut zu verhindern«? Was heißt Gendergerechtigkeit, wenn Kinder – natürlich nicht alle – in sogenannten Wochenkrippen untergebracht wurden, wo sie bleibenden psychischen und sozialen Schaden nahmen? Und was ist einer egalitären Gesellschaft wert, die nicht auf freier Wahl der Menschen beruht, sondern autoritär und undemokratisch von einer Elite oktroyiert wurde. Die Freiheit ist nicht einfach eine Schranke von vielen, die ein Staat verweigern oder gewähren kann: Ohne Freiheit ist alles andere nichts.
Die Siegerpose der Westler, die den »Beitritt« der fünf neuen Bundesländer 1990 als »alternativlos« durchgezogen haben, hat die Würde der Menschen aus der DDR beschädigt. Diese »Schuld«, die mehr ist als Unsensibilität, wird nicht dadurch ausgeglichen, dass nun die DDR in Nachhinein als das bessere Sozialmodell idealisiert wird. Auch im falschen Leben ist normales Leben in Würde möglich. Doch Unrechtsstaat bleibt Unrechtsstaat.
Rainer Hank
05. Mai 2023
Rock your LifeWie sich Chancengleichheit verbessern lässt
Der »Zufall der Geburt« ist das Ungerechteste, was einem im Leben zustoßen kann. Seine Eltern kann sich bekanntlich keiner aussuchen. In welchem Land ich geboren wurde, in welcher Zeit, in welcher Schicht, in welchen familiären Verhältnissen – nichts davon hängt von mir ab. Fast könnte man meinen, der Zufall der Geburt sei noch unberechenbarer als der des Todes. Zwar kennt auch niemand den Zeitpunkt seines Todes: Albert Camus nannte den tödlichen Autounfall das Absurdeste, was einem im Leben stoßen könnte, und kam selbst im Alter von nur 46 Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Ob ich mich allerdings gesund ernähre, mich bewege, geistig rege bleibe, auf all das kann ich Einfluss nehmen, was wiederum Einfluss hat auf die Chance eines langen Lebens. Demgegenüber ist die Geburt pures Schicksal – jenseits jeglicher Einflussmöglichkeiten dessen, der gerade auf die Welt kommt.
Wären die Startchancen für alle gleich, wäre das kein Problem. Jeder wäre frei, das Beste aus seinem Leben zu machen. Doch so ist es bekanntlich nicht. Lebenschancen und Lebenserfolg hängen in hohem Maße von zufälligen Faktoren ab. Etwa dem Einkommen der Eltern, ihrem Bildungsgrad, ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft und der Frage, wie intakt die Familie ist. Ludger Wößmann, einer der führenden Bildungsökonomen in Deutschland, hat dazu gerade schockierende Forschungsergebnisse präsentiert. So liegt die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, bei 21,5 Prozent, wenn ein Kind mit einem alleinerziehenden Elternteil ohne Abitur aus dem untersten Einkommensviertel (unter 2600 Euro) und mit Migrationshintergrund aufwächst. Im Gegensatz dazu liegt diese Wahrscheinlichkeit bei 80,3 Prozent, wenn das Kind mit zwei Elternteilen mit Abitur aus dem obersten Einkommensviertel und ohne Migrationshintergrund aufwächst.
Nicht jeder muss aufs Gymnasium
Ich höre die Einwände: Muss doch nicht jeder und jede auf das Gymnasium! Man kann auch glücklich und reich werden ohne höhere Schul- oder Universitätsbildung! Besser ein erfolgreicher Handwerker als ein verarmter Soziologe! Das ist natürlich alles richtig. Doch darum geht es nicht. Zutiefst ungerecht ist, dass der Besuch des Gymnasiums leider nicht Ergebnis freier Wahl ist, sondern abhängt vom sozialen und familiären Umfeld. Es ist dann zumindest statistisch »vorbestimmt«, ob ein Kind eine höhere Schule besuchen wird oder nicht. Interessanterweise ist der Bildungsstand der Eltern wichtiger als die Frage, ob es einen Migrationshintergrund gibt. Das ärmste Migrantenkind mit zwei Abiturienten als Eltern hat bessere Chancen (47,2 Prozent) als ein Kind reicher Eltern (über 5500 Euro) ohne Abi (39,7 Prozent). Das zumindest ist ein positives Resultat für die Frage der Integrations- und Assimilationsfähigkeit einer Gesellschaft und die Chancen auf Bildungsaufstieg für Einwanderer.
Bildung ist der Grundstein dafür, dass Menschen erfolgreich am Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und zum Gemeinwohl beitragen können. Und Bildung bringt ein höheres Einkommen: Nichtakademiker erzielen ein durchschnittliches Lebenseinkommen von 1,8 Millionen Euro. Akademiker mit Master-Abschluss kommen auf 2,9 Millionen Euro, erhalten mithin einen Bildungszuschlag von 1,1 Millionen Euro. Soziale Durchlässigkeit und die Chance auf sozialen Aufstieg unabhängig vom Herkommen sind wichtig für die breite Akzeptanz einer Gesellschaftsordnung. Auch ökonomisch ist es nicht sehr effizient, wenn das Begabungspotential von Bürgern sich nicht entfalten kann: Das entzieht der Gesellschaft nicht nur Wachstum, sondern auch Kreativität und Dynamik.
Was tun, wenn man nicht einfach jammern will über die Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit der Welt? Mehr Geld für Bildung ist die Standardantwort von Bildungspolitikern. Weil Politikern eben immer nur »mehr Geld« einfällt, wenn ihnen nichts einfällt, sie aber den Wahlbürgern ihre eigene Bedeutsamkeit beweisen wollen. Dagegen skeptisch machen sollte einen allein schon die Tatsache, dass die öffentlichen Ausgaben für Bildung seit Jahren kontinuierlich steigen: Im Jahr 2020 haben Bund und Ländern insgesamt 241 Millionen Euro für allgemein- und berufsbildende Schulen ausgeben, eine Steigerung um 40 Prozent. Doch die Ungleichheit der Bildungschancen hält sich seit Jahrzehnten hartnäckig.
Ein überzeugendes Mentoring-Projekt
Es liegt nahe, nach Alternativen zu suchen, die nichts oder wenig kosten, dafür aber mehr taugen. Das Mentoring-Projekt »Rock Your Life« wäre so eine Alternative. Es wurde im Jahr 2008 von drei engagierten Studenten in Friedrichshafen am Bodensee gegründet. Jugendliche aus benachteiligten Familien in problematischen Stadtvierteln sollten ganz praktisch unterstützt werden. Jedem Schüler wird ein Student als Mentor an die Seite gestellt. Die Mentoren machen das unentgeltlich. Den Kern des Projekts bilden individuelle Treffen der Mentoren mit ihren jeweiligen Mentees in einem rund zweiwöchigen Rhythmus. Allein dass sich die Studenten Zeit für sie nehmen, stärkt das Selbstwertgefühl der Jugendlichen. Oft treffen sich die Mentoring-Paare einfach zu gemeinsamen Freizeitaktivitäten, gehen ins Kino oder in den Zoo, sprechen über den Alltag und die Zukunft.
Der Clou von »Rock Your Life« besteht meines Erachtens darin, dass das Projekt schulischen Erfolg verbessern will durch Aktivitäten außerhalb der Schule. Lehrer denken erwartbar immer nur an Schule, wenn sie Schülern helfen wollen. Dass das Leben nach und vor der Schule dafür womöglich wichtiger ist, ist eine naheliegende, gleichwohl relativ neue Einsicht, die sich nicht zuletzt während Corona zeigte: Schulische Leistungen wurden schlechter, weil der Lockdown das außerschulische Leben zum Erliegen brachte.Die Bildungsökonomen haben »Rock Your Life« methodisch anspruchsvoll (und mit Kontrollgruppen ohne Mentoren) evaluiert. Und siehe da: Das Projekt liefert tolle Ergebnisse. Bei den Jugendlichen aus stark benachteiligten Familien sind die Ergebnisse besonders ermutigend. So haben sich die Schulnoten in Mathe durch die Teilnahme am Mentoring im Durchschnitt um 0,4 Notenpunkte verbessert. Zudem steigt das Maß der Geduld dieser Jugendlichen. Geduld ist deshalb sehr wichtig, weil sie Zukunftsorientierung der Menschen misst anhand ihrer Bereitschaft, Belohnungen auf die Zukunft zu verschieben, Eigenschaften, die für den zukünftigen Erfolg und die Einkommenserwartung entscheidend sind.
Ich finde dieses Rock-Your-Life-Projekt wirklich faszinierend. Im Übrigen wurde aus der spontanen Initiative dieser Studenten ein Startup, das sich inzwischen zu einem veritablen internationalen Sozialkonzern gemausert hat. Es ist in über 50 europäischen Städten als Franchise-Unternehmen aktiv; zehntausend Studenten haben sich daran beteiligt. Anschauen kann man sich das alles hier.
Rainer Hank