Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 09. August 2025
    Demokratie-Industrie

    Hier kann man Geld abholen Foto Bundesministerium für Familie und Bildung

    Dieser Artikel in der FAZ

    Der soziale Zusammenhalt verschlingt viel Geld

    Der Deutsche Dom am Berliner Gendarmenmarkt heißt nur Dom, ist aber keiner. Das Anfang des 18. Jahrhunderts errichtete Gebäude fungiert als Museum. Seit 2002 beherbergt es die Ausstellung des Deutschen Bundestages »Wege, Irrwege, Umwege. Die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland«. Auf fünf Etagen und knapp 2000 Quadratmetern sollen alle wichtigen Etappen zur Entstehung, Entwicklung und Festigung des demokratischen Systems in der Bundesrepublik beleuchtet werden, so der Anspruch.

    Auf die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie können wir Deutschen stolz sein. Schön, dass sie mitten in Berlin so anschaulich erzählt wird. Freilich nicht nur da. Demokratieprojekte vermehren sich hierzulande inflationär. In Frankfurt zum Beispiel, wo ich normalerweise lebe, wird gerade so etwas Ähnliches wie in Berlin ausgedacht: In unmittelbarer Nähe der Paulskirche (Achtung: Wiege der Demokratie!) soll ein »Haus der Demokratie« entstehen, das zu einem »lebendigen Ort des Miteinanders« werden soll. Das geht alles seinen sozialistischen, pardon: demokratischen Gang. Erst gibt es eine hochkarätige und vielköpfige Bund-, Länder-, Kommunen-Expertinnenkommission, die einen Enquetebericht verfasst, selbstverständlich mit interdisziplinärer wissenschaftlicher Begleitung. Es folgt der Ideenwettbewerb, abermals mit interdisziplinärem Planungsteam (Budget: 855.000 Euro). Dann kommt ein Wettbewerb und – wenn alles gut geht – der erste Spatenstich im Jahr 2028. Wir werden darauf zurückkommen.
    Mein Versuch, einen Überblick über die Anzahl der Demokratieförderprojekte, das Gesamtbudget und die Evaluierungsergebnisse zu gewinnen, führt ins Dickicht der Unübersichtlichkeit. Zum Glück gibt es ChatGPT, mein KI-Freund und Helfer. Doch auch er hisst bald die weiße Fahne. Es existiere »eine Vielzahl von Initiativen, die von öffentlichen Stellen, privaten Organisationen und wissenschaftlichen Institutionen getragen werden«, schreibt die Maschine. Das Spektrum, so weiter, reiche von »bundesweiten Programmen über Landesinitiativen bis hin zu lokalen Projekten und zivilgesellschaftlichem Engagement«. Die Krönung ist das »Gesetz zur Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielgestaltigkeit, Extremismusprävention und politischer Bildung«. Das hat es immerhin bis zu einer ersten Lesung im Deutschen Bundestag geschafft. Dann folgte das etwas abrupte Ende der Ampel.

    Hier Beispiele aus der Demokratieföderlandschaft in Bayern: »Für alle mit Herz und Verstand« möchte Menschen dazu bewegen, wählen zu gehen. Die freikirchliche Initiative »Kreuz setzen« (man achte auf die Doppeldeutigkeit) dekretiert, Christen hätten eine besondere Verantwortung, für eine starke Demokratie einzustehen. Und zur Wahl zu gehen. Ob es im Sinne der Initiatoren war, dass die bayerischen Wähler bei der vergangenen Bundestagswahl die AfD zu zweitstärkste Kraft krönten, bezweifle ich. Wir hätten noch (immer noch Bayern) das »Bündnis für Toleranz«, das »Landesdemokratiezentrum Bayern«, den »e.V. Mehr Demokratie« und den Bayerischen Forschungsverbund »Zukunft der Demokratie« im Angebot.

    »Demokratie leben« ist teuer

    Viele Initiativen kosten viel Geld. Der Versuch, ein Gesamtbudget der Demokratieprojekte zu beziffern, scheitert ebenfalls. Klar ist nur eines: Es wird Jahr für Jahr mehr Geld ausgegeben. Das Bundesfamilienministerium (inzwischen mit dem Bildungsministerium fusioniert) verteilte unter dem Titel »Demokratie leben« im vergangenen Jahr 182 Millionen Euro. Zehn Jahre zuvor waren es lediglich 40 Millionen, 2020 dann schon 115 Millionen. Im Abgreifen dieses Geldes besonders erfolgreich ist die Amadeu Antonio Stiftung (»Demokratie braucht Rückenwind«): 2018 stammten 2,7 Millionen der insgesamt ausgegebenen 4,3 Millionen Euro aus öffentlichen Mitteln. Inzwischen hat sich das Budget der Stiftung auf 12,3 Millionen Euro verdreifacht (davon stolze 9,1 Millionen aus dem staatlichen Haushalt). Auch andere große Stiftungen, allen voran Bosch und Hertie, lassen sich nicht lumpen: Das Projekt »Mitmachen. Demokratie stärken« der Hertie-Leute verzeichnet im Jahr 2023 verausgabte Projektmittel von 858.000 Euro; 2019 nannte der Geschäftsbericht zum selben Posten lediglich 117.000 Euro. Zumindest also ein Ausgabenerfolg.

    Aber ist es auch ein Erfolg für die Demokratie? Das bleibt im Dunkeln. Erfolgskontrolle gibt es wenig. Noch nicht einmal Klärung darüber, was ein Erfolg wäre. Das Millionenprojekt des Bundes nennt es einen Erfolg, dass »Demokratie leben« verstetigt wird. Ewigkeitskosten für den Steuerzahler. Dass der Erfolg nicht messbar ist, liegt auch daran, dass man sich meist nicht damit aufhält zu definieren, was unter Demokratie verstanden werden soll. Stattdessen begnügt man sich mit der in fast allen Projekten identischen Prosa des »Miteinanders«, des »sozialen Zusammenhalts« oder der »demokratischen Zivilgesellschaft«. Der Philosoph Theodor W. Adorno hätte so etwas den »Jargon der Eigentlichkeit« genannt. Der Jargon suggeriert Bedeutung, ohne wirklich inhaltlich klar zu sein. Man könnte auch von einer MeToo-Bewegung sprechen: Alle machen irgendwie das Gleiche.

    Design for Schwachsinn

    Eigentlich müsste man im Sinne der Demokratie-Aktivisten annehmen, der Erfolg müsse sich daran messen, dass die Stimmen für die (mutmaßlich) antidemokratische AfD schrumpfen. Doch das ist bekanntlich nicht der Fall. Bei der letzten Bundestagswahl stimmten knapp 21 Prozent aller Wahlberechtigten für die blaue Partei. 2013 waren es 4,7 Prozent. Wachsende Wählerstimmen für die AfD und wachsende Geldmittel für die Demokratiefreunde korrelieren. Letztere finden das kein Scheitern. Im Gegenteil: Sie leiten aus der wachsenden Zustimmung für die AfD den Anspruch auf noch mehr Geld zum Kampf für das Miteinander ab. Das nenne ich das Erfolgsparadox des Kampagnenmisserfolgs. Würden die Demokratiefeinde weniger werden, wäre das Geschäftsmodell der Demokratie-Aktivisten gefährdet.

    Solange immer noch mehr Geld für den »sozialen Zusammenhalt« ausgelobt wird, wird es auch abgerufen, selbst dann, wenn mit Biegen und Brechen ein Zusammenhang zum sozialen Zusammenhalt konstruiert werden muss. Frankfurt zum Beispiel wird 2026 »World Design Capital«. Und wie heißt das Motto? Richtig: »Design for Democracy«. 21 Millionen Euro sind geplant; der Rest ist Schwafeln und Raunen. Da kennen die Kreativen nichts, planen einen »Kiosk of Solidarity«, gestaltet von der »Lustaufbesserleben GmbH«.
    Von den Designern ließe sich lernen: Warum sollte DHL, vormals Deutsche Post, ihre vielen Packstationen nicht als »Stätten des demokratischen Miteinander« vermarkten? Die »sozialen Netzwerke« (X, Facebook & Co.) täten gut daran, sich zeitgeschmacksgerecht als »sozial-demokratische Netzwerke« zu präsentieren. Und das Fitness-Studio könnte nicht mit »Blut, Schweiß und Tränen«, sondern »Gemeinschaft, Kraft und Freude« werben. Weitere Vorschläge nimmt das Bundesfamilienministerium entgegen. Geld ist da.

    Rainer Hank

  • 09. August 2025
    Schlank werden

    Gewichtskontrolle Foto unsplashed

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum sich Kosten-Nutzen-Erwägungen lohnen

    Es ist schon eine Weile her, dass mir eine Bekannte beim Lunch stolz vorrechnete, wie wenig Weight Watcher-Points sie dieses Mittagessen koste. Das mache sie glücklich, weil sie schon eine große Punkte-Portion ihres Budgets an diesem Tag verbraucht habe. Und es war erst Mittagszeit.

    Ich hatte damals nur Bahnhof verstanden, aber auch keine Lust, mir diesen Punkte-Kauderwelsch erklären zu lassen. Nachdem es in den vergangenen Wochen immer wieder Meldungen gab, Weight Watcher müssten Insolvenz anmelden, fing ich an, mich für die Gründe zu interessieren. Und dazu könnte es hilfreich sein, das Point-System zu verstehen.

    Für Leser, die – wie man früher sagte – kein Figur-Problem haben, hier eine kurze Nachhilfe: Die Weight Watchers (deutsch vielleicht: Gewichtskontrolleure) wurden 1963 im amerikanischen Bundesstaat New York von der Hausfrau Jean Nidetch gegründet und sind mittlerweile in rund 30 Ländern vertreten. 1970 führten Irmgard und Walter Mayer das erste deutsche Weight Watchers-Treffen in ihrer Düsseldorfer Wohnung durch. 2012 waren es über 300.000 Teilnehmer deutschlandweit. Großes Glück hatte die Gemeinde, als im Jahr 2015 die Star-Moderatorin Oprah Winfrey über 40 Millionen in das Unternehmen investiert hatte, was den Aktienkurs in ungeahnte Höhen trieb. Zumindest eine Zeitlang.

    Das Konzept basiert auf zwei Prinzipien. Es gibt wöchentliche Gruppentreffen der Abnehmwilligen, eine Art Tupper-Party, bei denen Erfahrungen ausgetauscht, über gesunde Ernährung informiert und die jeweiligen Erfolge auf der Waage (!) überprüft werden. Die Gruppenleiterinnen haben ebenfalls mit Weight Watchers abgenommen und ihr Wunschgewicht erreicht. Die Hoffnung ist, dass der Gruppendruck disziplinierend wirkt und die Leiterinnen eine Vorbildfunktion haben mit entsprechender Glaubwürdigkeit: Man sieht ihnen sozusagen die Wirksamkeit der Methode an. Jedenfalls in der Theorie.

    Ökonomisierung des Essverhaltens

    Jetzt kommen die WW-Points ins Spiel. Die funktionieren so: Jedes Lebensmittel hat eine Punktzahl. WW-Mitglieder bekommen täglich ein persönliches Punktebudget zugewiesen – abhängig von Gewicht, Größe, Alter, Geschlecht, Aktivität und Abnehmziel. Zusätzlich gibt’s ein Wochenextra für kleine Lustevents (Restaurantbesuche, besondere Anlässe). Gesättigte Fette oder Zucker erhöhen die Points; Ballaststoffe und Eiweiß senken sie. Gemüse und Obst haben 0 Points. Das signalisiert: Du kannst Dich satt essen, ohne Dein Budget zu belasten. Hört sich alles ziemlich kompliziert an, ist es auch, wird aber im Zeitalter der Digitalisierung durch eine App überwacht.

    Man kann WW als die perfekte Ökonomisierung des Essverhaltens beschreiben. Ökonomisierung ist für mich, anders als für viele Zeitgenossen, nichts Negatives. Es beschreibt die utilitaristische Basisfrage, die wir Menschen an alles, was wir so treiben, anlegen: »Was kostet’s, was bringt’s?« Es gibt nie einen absoluten Nutzen, stets ist der Nutzen abhängig von den Kosten, die uns die Wahl abverlangt, also dem Preis. Kosten-Nutzenabwägungen treffen wir nicht nur beim Kauf von Kartoffeln oder einer neuen Immobilie, sondern auch bei der Partnerwahl oder eine Spende für die Caritas. All jene, die sagen, bei der Liebe oder der Barmherzigkeit dürfe die schnöde Ökonomie keine Rolle spielen, wollen meist nur nicht wahrhaben, dass sie unbewusst den subjektiven Wert einer Lebensentscheidung wägen und fragen, welchen Preis sie dafür entrichten müssen. Kosten rechnen sich nicht nur monetär in Geld, können auch in Zeit oder emotionaler Energie entrichtet werden.

    Zurück zu unseren Weight Watchern. Das Point-System rationalisiert und quantifiziert unser Essverhalten. Es verhindert, dass wir uns durch den Tag futtern und beim Mittagessen schon verdrängt haben, dass es zum Frühstück zwei Spiegeleier mit Speck gab. Natürlich darf jeder Eier mit Speck frühstücken – bloß nicht, wenn er abnehmen will.
    Wenn das alles so genial ist, warum stehen die Weight Watcher dann heute am Abgrund? Das Insolvenzverfahren läuft, die Aktie ist auf Pennystock-Niveau, Oprah Winfrey ist längst ausgestiegen. Die Antwort heißt: Abnehmen geht neuerdings zu (vermeintlich) geringeren Kosten, nämlich mit der Abnehmspritze. Während die Weight Watcher bei konsequenter (!) Nutzung und Einhaltung des WW-Budgets nach einigen Monaten einen Gewichtsverlust von fünf bis zehn Prozent zuwege bringen, leisten die neuen Wunderspritzen im selben Zeitraum Abnehmerfolge von 15 Prozent (Ozempic) bis sogar 20 Prozent (Tirzepatid). Freilich ist die Angelegenheit auch erheblich teurer: Die Spritze kostet 300 Euro im Monat, als Premium-Mitglied bei den Weight Watcher werden monatlich knapp 35 Euro fällig. Warum steigen dann so viele adipöse Menschen auf die Spritze um? Vermutlich deshalb, weil das Medikament scheinbar von alleine wirkt, keine Verhaltensänderung und kompliziertes oder frustrierendes Punkte-Zählen kostet. Ozempic verlangt im wahrsten Sinne weniger. Ob später Kosten für Nebenwirkungen dazu kommen, wissen wir noch nicht. Dazu sind die Medikamente zu neu und nicht langfristig erprobt. Rückfällig werden kann man jedenfalls bei beiden Methoden, wenn man das Verfahren absetzt.

    Ozempic oder Weight Watcher?

    In der britischen »Time« berichtet eine Betroffene von ihrer Zeit bei Weight Watchers vor 18 Jahren, als sie nach der Geburt ihres Kindes Gewicht verlieren wollte. Sie beschreibt die wöchentlichen Treffen als erfolgreiche Erfahrung. Nach einem Jahr hatte sie knapp 20 Kilo abgenommen, doch im Laufe der Zeit nahm sie wieder zu. Im vergangenen Jahr wechselte sie zur Abnehmspritze und verlor in nur acht Monaten 22 Kilo. Sie schreibt, dass diese Methode einfacher sei als Punktezählung und wöchentliche Treffen. Die Spritze nehme einfach das Hungergefühl, was deutlich bequemer sei, als ständig die Ernährung zu kontrollieren. Ganz abgesehen von der Demütigung, im Kreis der Weight Watcher sich wiegen zu lassen – und womöglich versagt zu haben. Es könnte sein, dass die Weight Watcher sich überlebt haben.

    Werden die Dicken demnächst von der Bildfläche verschwinden, weil alle sich die Spritze geben? Wohl kaum. Schon deshalb nicht, weil nicht jedermann sich die 300 Euro monatlich für Ocempic & Co. leisten kann und die Kassen nur die Kosten der wirklich Schwerkranken übernehmen. Aber noch genereller: Allem Körperkult und allem Schlankheitsideal zum Trotz nimmt die Zahl der Dicken weiter zu. Schätzungen der World Obesity Federation zufolge wächst der Anteil der Übergewichtigen an der Weltbevölkerung im Jahr 2030 auf über fünfzig Prozent; bei den Kindern werden es mehr als 30 Prozent sein. Heute sind es 46 Prozent der Erwachsenen und 28 Prozent der Kinder. So viel Ernüchterung zum Kostennutzenkalkül der Fastengemeinde muss sein.

    Rainer Hank

  • 05. August 2025
    Booster-Boomer

    Wohnen im Alter Foto Firmengruppe Weiß

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wie die Reichen Wohnraum für andere schaffen

    In Hofheim am Taunus werden schicke Mehrfamilienhäuser gebaut. Der Quadratmeter einer solchen Wohnung kostet um die 8500 Euro.
    Trägt das zur Linderung unserer Wohnungsnot bei? Und entsteht hier »bezahlbarer Wohnraum«? Viele Zeitgenossen würden das als blanken Hohn bezeichnen. Eher wäre es der Beweis des Gegenteils: Im Umkreis großer Städte können nur noch die Reichen sich Wohnraum leisten.

    Alles hängt von der Definition von »bezahlbarem Wohnraum« ab, einem Kampfbegriff im politischen Streit um die Wohnungsnot in Deutschland. Die schlichte – vermutlich vielen abermals zynisch erscheinende – Definition wäre: Bezahlbarer Wohnraum zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen da sind, die bezahlen. Es hängt von der Zahlungsbereitschaft der Käufer ab, ob ihnen der Preis die gebotene Leistung wert ist.

    Die Projektentwickler, die die Wohnungen in Hofheim an neue Eigentümer bringen wollen, vermelden eine hohe Nachfrage. Okay, es wäre ziemlich unklug, sie würden ihre Objekte schlechtreden. Hofheim ist ein Satellitenstädtchen von Frankfurt, gut mit Autobahn und Öffentlichen an die Mainmetropole angebunden, indes weniger nobel als Königstein oder Bad Homburg. Die Durchschnittspreise für Neubauten liegen laut »Immoportal« in Hofheim bei 5000 bis 7000 Euro. 8500 Euro sind absolutes Luxussegment.
    Wer hat so viel Geld, wer kauft solche Wohnungen? Ich treffe Karl Greiner, einen Bekannten. Er ist Geschäftsführer und Miteigentümer der Firmengruppe Weiß, einer Immobilienfirma, und engagiert sich im Verband Freier Immobilienunternehmen. Greiner nennt seine Zielgruppe »Empty Nester«. Das sind Paare, deren Kinder aus dem Haus sind. Meine Annahme, dass es sich um Fünfzigjährige handele, ist falsch. Eher seien es 60– bis 80–jährige – also eine Kohorte der Babyboomer, geboren zwischen 1945 und 1965, die im Frieden gelebt haben und vom Wirtschaftswunder profitieren. Keine Multimillionäre, lediglich erfolgreiche Bürger, die ordentlich verdient und häufig noch geerbt haben. Man leistete sich ein großzügiges Haus mit Garten, sagen wir so um die 400 Quadratmeter.

    Das Haus wird zum Klotz

    Gewiss, die »Kinder« sind schon länger aus dem Haus. Doch der Veränderungsprozess braucht Zeit. Lange soll alles aussehen wie früher: Jederzeit dürfen die erwachsenen Kinder nachhause kommen, das Jugendzimmer soll keinesfalls angetastet werden. So wollen es die Kinder, aber auch die Mütter. Das kann gut und gerne zehn Jahre dauern. Doch langsam wird den von den Kindern verlassenen Eltern das Haus zum Klotz, der Garten zur Plage – Freunde und Verwandte kriegen Unmengen an Obst oder Eingemachtem geschenkt. Nicht zu übersehen ist der Renovierungsbedarf, Stichwort »energetische Sanierung«. Irgendwann, meist an Weihnachten im Gespräch mit den Kindern, fällt dann die Entscheidung: »Wir wollen das Haus verkaufen.« Es ergeht ein Ultimatum an die Kinder, nun endlich das Jugendzimmer zu räumen. Vielleicht darf die erste Gitarre des Sohnes bleiben – im Keller der neuen Wohnung.

    Aber was ist die Alternative? Das Schreckenswort für diese agile Generation 60plus heißt »betreutes Wohnen«. Viel zu früh! Das ist die Stunde von Karl Greiner und seinen Leuten. Sie bauen diese luxuriösen Mehrfamilienhäuser in Hofheim. Nachverdichtung in bereits als Bauland ausgewiesenen Gebieten der Stadt. Neues Bauland werde praktisch kaum mehr ausgewiesen: versiegelte Böden sind der Schrecken aller Klima- und Umweltschützer.

    Die älter gewordenen Gutverdiener setzen sich jetzt kleiner, sagen wir von den bisherigen 400 auf 200 Quadratmetern. Das Heim spielt nicht mehr die ganz große Rolle; man ist ja viel unterwegs (Freunde besuchen, Reisen buchen). Auf der neuen Fläche gibt es feste und flexible Module, die viel über die Soziologie und Psychologie dieser Generation verraten. Pflicht sind zwei getrennte Schlafzimmer mit je eigenem, direkt zugänglichem Bad. Dazwischen das Ankleidezimmer. Pflicht ist ein weiteres Schlafzimmer, abermals mit Bad. Man kann es Kinder- oder Gästezimmer nennen. Es wird aber auch die polnische Pflegerin aufnehmen, sollte das später (oder früher) erforderlich werden. Natürlich gibt es einen offenen Wohn- und Essraum; geschlossene Küchen gelten als altmodisch.

    Sauna oder Bibliothek

    Kür sind weitere Räume: Die Körperbetonten kriegen ihren Fitnessraum mit angeschlossener Sauna. Die eher intellektuellen Käufer leisten sich eine Bibliothek oder ein Musikzimmer; irgendwo muss der Flügel ja hin. Ist das Budget groß genug, gibt es ein Penthouse mit Dachgarten. Für die Erdgeschosswohnungen bietet sich ein kleiner Kräutergarten an, Erinnerungsposten an das Grundstück von früher. Aufzug versteht sich von selbst – man wird ja nicht jünger.

    Das alles, wie gesagt, kostet rund 1,6 Millionen Euro. Die finanzieren sich durch den Verkauf des doppelt so großen Anwesens. Hohe Zinsen und Tilgung, Grund für den derzeitigen Rückgang der Bautätigkeit, sind für diese Generation kein Thema. Sie zahlen den vollen Kaufpreis sozusagen aus der Westentasche. Mit etwas Glück wirft der Verkauf einen Schnaps mehr ab als die 1,6 Millionen Neukosten.

    Doch hilft diese das zur Linderung des Wohnungsproblems in Deutschland? Hier kommt der sogenannte Sickereffekt ins Spiel (anderswo auch »Trickle down« genannt). Der geht so: Haushalte, die durch Kauf eine neu gebaute Eigentumswohnung beziehen, machen anderswo ein Haus frei. Dorthin rücken Familien ein, denen mit größeren Kindern und wachsendem Haushalteeinkommen die bisherigen Wohnungen zu klein geworden sind. Sie verbessern ihren »Wohnwert«, ihren sozialen Status und machen ihrerseits Wohnungen frei, in die junge ManagerInnen am Anfang ihres Berufslebens mit ihren kleinen Kindern ziehen. Am Ende der Sickerkette – den Begriff finde ich nicht wirklich glücklich – ziehen ehemalige Studenten in der ersten Berufsphase ein.

    So leisten die Reichen etwas, das die Wohnungsbau-Turbos und Booster heutiger und früherer Regierungen nicht vollbracht haben: Eine Ausweitung des Wohnangebots, ohne dass das dafür neues Bauland ausgewiesen und das Bürokratie-Monster gefüttert werden muss.

    Bin ich der eigennützigen Ideologie meines Bekannten aufgesessen? Die gesammelte Linke hierzulande würde mir das vorwerfen; die Trickle-Down-Theorie ist seit ihrer Erfindung unter Beschuss. Zu meiner Verteidigung verschanze ich mich hinter einer Studie des ideologisch unverdächtigen wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags über »Sickereffekte im Wohnungsmarkt« aus dem Jahr 2022. Dort wird unter Bezug auf Metastudien zumindest die empirische Plausibilität des Sickereffekts nachgezeichnet. Ob das Wohnen dadurch erschwinglicher wird, bleibt fraglich. Aber niemand würde den Sickereffekt als einzigen oder gar Königsweg der Wohnungsmisere vermarkten wollen.

    Rainer Hank

  • 05. August 2025
    Ein Lob des Stammtischs

    Nicht nur Skat wurde früher gespielt, es wurde auch gegaigelt. Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum Trinken einen sozialen und ökonomischen Nutzen hat

    Als Student habe ich in einem Stuttgarter Weinlokal gearbeitet, anfangs für fünf Mark die Stunde. Beim »Stetter« – es gibt ihn heute noch – konnte man vespern und ein Viertele für 1 Mark 70 trinken. Mittags kamen auch gerne die Angestellten und Beamten aus der Nachbarschaft vorbei. Zum Beispiel die Richter des nahegelegenen Amtsgerichts. Die tranken ihre drei Viertele Trollinger – jeder drei, wohlgemerkt -, um anschließend wieder Recht zu sprechen.

    Wenn ich die Geschichte von den Amtsrichtern erzähle, ernte ich ungläubige Verwunderung. Aber so war es, kein Jäger-Latein; meine mitbedienenden Kommilitonen können es bezeugen. Zur Verteidigung der Herren muss man erwähnen, dass der einfache Wein in den Vorklimawandelzeiten der 60er und 70er Jahre 9,5 oder maximal 10 Prozent Alkohol enthielt, keine 14 Prozent wie heute üblich.

    Später dann, in meinen journalistischen Anfangsjahren, gehörte Alkohol zum Arbeitsalltag. Irgendjemand hatte immer etwas zu feiern, entweder nach Redaktionsschluss oder schon bei der Konferenz morgens um 11 Uhr 30. Wenn es nichts zu feiern gab, wurde ein Anlass gesucht. Ob der ritualisierte Satz »Früher wurde mehr gesoffen« damals stimmte oder einfach nur die Begründung lieferte, es müsse alsbald eine Flasche geöffnet werden, vermag ich nicht zu sagen. Trinken gehörte zum sozial guten Ton. Sich zu verweigern, verlangte eine große Ich-Stärke.

    Abstinenz der Generation Z

    Heute ist es (fast schon) umgekehrt. Da sitzen sie nun alle vor ihren Wassergläsern. »Still oder Medium?« ist die einzige Alternative. Statistiken gibt es zuhauf. In Deutschland ist der Prokopfverbrauch von reinem Alkohol – also nur statistisch, niemand trinkt reinen Alkohol – von 15,1 Litern im Jahr 1980 auf unter 10 Liter im Jahr 2021 zurückgegangen. Regelmäßiges Trinken (mindestens einmal in der Woche) unter 18– bis 25–jährigen ist stark rückläufig. Im Jahr 2023 gaben 38,8 Prozent der Männer und 18,2 Prozent der Frauen in der Gruppe der Millennials und Generation Z an, regelmäßig Alkohol zu trinken. Immer noch viel, könnte man sagen, aber deutlich weniger verglichen mit vor zwanzig Jahren: 59 beziehungsweise 27,7 Prozent waren es da.

    Selbst in England und in Japan, wo traditionell Saufen nach Dienstschluss zum üblichen Ritual zählt, geht der Alkoholkonsum zurück. Das »Sober Movement« in Großbritannien warnt vor den schädlichen Folgen des Trinkens. Die Pflicht, nach der Arbeit mit den Kollegen zu trinken (»Nomikai«) besteht in Japan schon lang nicht mehr. 2022 hat Japans Regierung sogar eine Kampagne gestartet (»Sake Viva«), um junge Leute dazu zu bringen, mehr Alkohol zu trinken – gesundheitsschädlich, aber fiskalisch nützlich, um rückläufige Steuereinnahmen zu stoppen.

    Trendsetter ist wie häufig Kalifornien. Der Gesundheitskult der Silicon-Valley-Milliardäre ist absolut. Elon Musk hat längst schon einen Bann über Alkohol ausgesandt. Von Sam Altman, Chef und Gründer von Open AI (»ChatGPT«), der auf einer Farm im Napa Valley, einer berühmten Weingegend, wohnt, gibt es zumindest das Gerücht, er gönne sich in Ausnahmesituationen ein Gläschen lokalen Wein; Belege dafür habe ich nicht gefunden.

    Seit Ernährungspapst Bas Kast (»Warum ich keinen Alkohol mehr trinke«) uns die letzten Hoffnungen auf die kardiologisch positive Wirkung eines Gläschens Rotwein am Abend genommen hat – selbstverständlich »auf Basis neuester Studien« – wagt niemand mehr, eine Lanze für das kontrollierte Trinken oder gar die bacchantische Ausschweifung zu brechen.

    Trinker subventionieren die Abstinenzler

    Ich auch nicht. Allenfalls die schüchterne Rückfrage darf erlaubt sein, ob ein 90jähriger Asket wirklich ein besseres Leben hatte als ein 85–jähriger Genusstrinker. Ob also die fünf Jahre zusätzlichen Lebens den Verzicht wert waren.

    Fragen lässt sich indessen mit dem britischen »Economist« nach den volkswirtschaftlichen und sozialen Kosten der kollektiven Abstinenz – gemäß der utilitaristischen Devise »Wo es einen Nutzen gibt, da gibt es auch einen Schaden«. Beginnen wir mit den Restaurants. Sie verdienen am Ausschank von Bier, Wein, Negroni oder Aperol Spritz deutlich mehr als mit Schnitzel oder einer veganen Bowl. Für eine Halbe Bier vom Fass muss der Wirt der Brauerei zwischen 50 und 80 Cent zahlen. Auf seiner Getränkekarte findet sich das Bier zu einem Preis von 3 Euro 50 bis 5 Euro. Das ist eine Marge von 500 bis 800 Prozent. Finanziell noch dankbarer sind die harten Drinks (Vodka, Gin, Rum, Cocktails): da lässt sich rasch ein Multiplikator von 800 bis 1500 erzielen.

    Kurzum: Die Wasser- und Safttrinker in der Bar oder beim Burger-Brater werden von den Bier- und Weintrinkern quersubventioniert; sie sind ökonomisch gesehen Trittbrettfahrer und könnten sich dafür wenigstens bei ihren Süffelfreunden bedanken. Weniger Alkohol ist natürlich auch ein Problem für die Winzer, Brauereien und ihre Beschäftigten, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Gut, die sollen dann halt woanders unterkommen, oder sie bleiben, sofern wie beim Fall Bionade aus einer ehemaligen Brauerei eine Saftbude wird. Konversion ist allenthalben angesagt!

    Auch das Mitleid mit dem Fiskus hält sich in Grenzen, dem gut zwei Milliarden Alkohol- und Steuereinnahmen entgehen, wenn nur noch Wasser und Sirup getrunken würde. Die Sektsteuer (gut einen Euro pro Flasche Schaumwein) war ohnehin nie als Buße für Trinker gedacht, sondern zur Finanzierung der Kriegsflotte im Ersten Weltkrieg erfunden. Das könnte bald wieder relevant werden.

    Gravierender als die fiskalischen und ökonomischen sind die sozialen Kosten der Abstinenz. Alkohol fördert nachweislich den sozialen Zusammenhalt – darin bestand über Jahrhunderte der Nutzen des Stammtisches in der Eckkneipe. Einschlägig ist eine Studie der Universität Oxford (Robert Dunbar & Kollegen) von 2024, wonach zwei »Boys Nächte« pro Woche der sozialen und individuellen Gesundheit der jungen Männer förderlich sind: Sozialer Zusammenhalt entstehe durch sportliche Aktivitäten, das Geplänkel unter Männern – »oder schlicht durch das ein oder andere Bierchen mit Freunden am Freitagabend«. Am Stammtisch würden glücksbringende Endorphine ausgeschüttet, die Resilienz fördern und Stress abbauen. Gut, bei notorischen Trinkern kam es am späteren Abend regelmäßig zu Schlägereien, was bestenfalls zu Aggressionsabbau beitrug, auf lange Sicht aber den sozialen Nutzen in gesellschaftlichen und gesundheitlichen Schaden wendete.

    Ich weiß schon: Das harte Kartell der Abstinenzler wird sich durch mein Verhältnismäßigkeitskalkül nicht drausbringen lassen. Güterabwägung ist nicht ihr Ding. Mir geht es lediglich darum, an Harald Juhnkes leichtsinnige Definition des vollkommenen irdischen Glücks zu erinnern: »Keine Termine und leicht einen sitzen.« Nun ja, er ist dann nur 75 Jahre alt geworden, genießt aber seither hoffentlich das vollkommene himmlische Glück.

    Rainer Hank

  • 02. August 2025
    Lokomotive des Fortschritts

    Locomotion No, 1 Modell. Foto Hornby

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was wären aus uns geworden ohne die Eisenbahn!

    Welches ist die bedeutendste Erfindung der Menschheit? Viele würden sagen: Das Rad. Andere könnten auf die Erfindung des Feuers oder der Schrift verweisen. Da gibt es wohl kein objektives Kriterium. Ich will heute die Eisenbahn als Kandidatin ins Gespräch bringen, die natürlich das Rad voraussetzt. Das hängt damit zusammen, dass es für mich als Kind nichts Tolleres gab als meine Märklin-Eisenbahn, viel toller als die Matchbox-Autos.

    Mein Vorschlag hängt damit zusammen, dass demnächst ein Jubiläum ansteht: Am 27. September 1825 fuhr die erste Dampflokomotive samt 36 angehängten Waggons die 40 Kilometer lange Schienenstrecke von Stockton in Nordostengland nach Port Darlington. Die Lok trug den sinnigen Namen »Locomotion No.1«; ihr Erfinder war der britische Ingenieur George Stephenson (1781 bis 1848). Es sollte zehn Jahre dauern, bis in Deutschland am 7. Dezember 1835 die »Adler« von Nürnberg nach Fürth fuhr.

    Genial war die Erfindung der Eisenbahn in mehrfacher Hinsicht. Es war eine technische Innovation, die weitreichende wirtschaftliche Auswirkungen zur Beschleunigung der industriellen Revolution und also auf den heutigen Wohlstand der Menschheit hatte. Die Schiene war zugleich der erste Großversuch einer sogenannten Netzökonomie; so funktioniert unter anderem auch unser heutiges Internet. Schließlich ist die Erfindung der Eisenbahn ein gutes Beispiel dafür, dass der Fortschritt (genauso wie der Rückschritt) von den Zeitgenossen in aller Regel nicht erkannt oder gar ablehnend aufgenommen wird – seine segensreiche Wirkung erst den Nachkommen klar wird. Darum vor allem soll es hier gehen.

    Dampfloks waren nicht neu

    Schienen, auf denen Wägen von Menschen oder Pferden gezogen wurden, gab es schon vor 1825. Dampfloks gab es ebenfalls vorher schon: doch waren die Schienen noch aus Holz oder aus Gusseisen; beides taugte wenig. Erst die Verwendung von Schmiedeeisen und später dann von gewalztem Stahl machte den Schienenverkehr nachhaltig und dauerhaft erschwinglich. Das Pferd – über Jahrhunderte das natürliche Transportmittel – war langsamer als die Lokomotive und zu teuer. Erfunden wurde die Eisenbahn als Transportmittel für Güter; doch als unbeabsichtigte Nebenwirkung kamen auch die Menschen auf den Geschmack am Reisen. Für die 400 Kilometer lange Strecke von London nach Newcastle brauchte das Pferd damals drei Tage, der Zug einen Tag, konnte aber vielfach größere Lasten nebst Personen befördern. Heute nimmt der Zug diese Stecke in zweieinhalb Stunden.

    Gleichwohl gab es größte Widerstände gegen die Dampflokomotive. Auf der Strecke Liverpool-Manchester wollte man zunächst ganz auf Lokomotiven verzichten, weil diese nicht in der Lage seien, Steigungen zu überwinden. Stattdessen sollte die Strecke mit ortsfesten Dampfmaschinen und mit Pferden betrieben werden. George Stephenson hatte die kühne Idee, einen Wettbewerb zu veranstalten, um die Überlegenheit der Dampflok zu beweisen. Stephenson setzte zugleich selbst die Spielregeln etwa hinsichtlich der Mindestgeschwindigkeit (16 km/h) fest, was seiner eigenen zusammen mit seinem Sohn Robert entwickelten Lok mit Namen »The Rocket« (Rakete) einen Vorteil im Wettbewerb verschaffte.

    Dieses berühmte »Rennen von Rainhill« (»Rainhill Trials«) zog sich vom 6. bis zum 14. Oktober 1829. Die »Rocket« konnte als einzige der Kandidaten die Teststrecke bewältigen und die Stephensons erhielten den Zuschlag, für die Linie Liverpool-Manchester acht Lokomotiven zu bauen. Aufgrund dieses Erfolgs bauten sie sechs Jahre später auch den »Adler« für Deutschland. Erfinder- und Unternehmergeist des Familienunternehmens zahlten sich für die Pioniere aus: Vater und Sohn Stephenson wurden die ersten Millionäre des industriellen Zeitalters, arme Leute indes im Vergleich mit späteren Eisenbahn-Tycoons wie George Hudson (»The Railway King«) in England oder Cornelius Vanderbilt in USA.
    Dass sich die Verlierer des technischen Fortschritts mit Händen und Füßen gegen die Eisenbahn wehrten, ist verständlich. Zu ihnen zählten neben den Kanalschiffern oder den Fuhrleuten die Betreiber der sogenannten Turnpikes. Das waren privat finanzierte und gegen Gebühren zu nutzende Straßen. Zu ihnen zählten auch Grundbesitzer, deren Begüterungen von den Schienen durchschnitten wurden. Letztere ließen sich mit guten Verkaufspreisen überzeugen, erstere konnten im Wettbewerb nicht mithalten, weil die Schiene der Straße zur Bewegung schwerer Lasten überlegen war.

    Geschwindigkeitsschock

    In Wolfgangs Schivelbuschs »Geschichte der Eisenbahnreise« von 1977 kann man nachlesen, wie die Eisenbahn nicht nur einen technischen Fortschritt, sondern zugleich einen kulturellen Bruch bedeutete. Die Geschwindigkeit – lächerlich im Vergleich mit einem heutigen ICE oder TGV – bereite Schwindel und verursache unkontrollierbare sexuelle, hieß es: Schäden für das menschliche Nervensystem wurden befürchtet. Sozial bedrohlich und moralisch bedenklich sei auch, dass Menschen unterschiedlicher Klassen und unterschiedlichen Geschlechts in ein und demselben Abteil beisammensäßen. Anfangs freilich mussten die Passagiere der dritten Klasse in England mit Plätzen auf dem Dach der Waggons Wind und Wetter in Kauf nehmen.

    Zu allem Überfluss kam dann noch eine Spekulationskrise in den vierziger Jahren. Wie anderswo, war auch in Großbritannien die öffentliche Hand bis zum späten 19. Jahrhundert viel zu finanzschwach, um teure Infrastrukturprojekte voranzutreiben. Die frühen Eisenbahnen wurden privat finanziert und privat betrieben. Teilweise waren parallele Strecken miteinander im Wettbewerb, was sich auf Dauer als keine so gute Idee erwies. Viele Kleinanleger hatten erstmals an der Börse investiert, häufig ihr ganzes Erspartes, womöglich Aktien auch noch auf Kredit gekauft. Als sich dann viele Strecken als unrentabel erwiesen oder gar nicht gebaut wurden, platzte die Blase. Erst nach 1870 wurden Eisenbahnstrecken verstaatlicht, getragen von der Einsicht, dass Schienennetze »natürliche Monopole« sind, die reguliert gehörten. Der Regulierer darf dann Slots für miteinander im Wettbewerbs stehende Betreiber vergeben.

    Lässt man diese lange Geschichte kurz Revue passieren, so erscheint es am Ende als ein Wunder, dass sich die Eisenbahn überhaupt gegen all diese massiven Widerstände durchgesetzt hat. Als Zeitgenosse hätte man vermutlich nicht darauf gewettet. Als Nachgeborener ist man froh, dass Unternehmer und Ingenieure wie die Stephensons für den Fortschritt gekämpft haben. Wer den Beginn dieser Revolution in Großbritannien mitfeiern will, kann sich auf »sdr200.co.uk« über die Fülle der geplanten Veranstaltungen informieren. Zur Einstimmung empfiehlt sich die Folge über George und Robert Stephenson der berühmten Podcastserie »In our time« auf BBCRadio4.

    Rainer Hank