Hanks Welt

Subjektive Reflexionen, freche Interventionen, persönliche Spekulationen: »Hanks Welt« wirft einen subjektiven Blick auf das Geschehen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Meine Kolumne erscheint Sonntag für Sonntag im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS).

Aktuelle Einträge

  • 08. Juli 2023
    Ab nach Liechtenstein

    Vaduz Foto bodensee.eu

    Dieser Artikel in der FAZ

    Liberaler Feudalismus: weltweit einmalig

    In Honduras hat die Regierung schon vor geraumer Zeit einen Verfassungsartikel verabschiedet, der die Schaffung von Kleinstaaten nach eigenem Recht auf seinem Staatsgebiet zulässt. Für den Anfang dachte Honduras an ein Stück unbewohntes Land an der Karibikküste.

    Der Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Romer hat dazu einen genialen Vorschlag eingereicht. Eine Staatsgründung aus dem Nichts, deren Verfassung alle bislang bekannten Nachteile historisch existierender Staaten vermeiden würde. Die Idee geht ungefähr so: Eine Regierung kluger Leute (Romer dachte an gestandene Demokraten aus der Schweiz) schreibt die neue Stadt an Unternehmer und Privatpersonen aus. Um Bürger zu werden, müssen sie einen Eintrittspreis bezahlen. In dem Maße, in dem es attraktiv wird, in die Stadt zu ziehen, steigen auch die Pachtpreise, die die Regierung in die Lage versetzt, Sicherheit (Polizei, Gerichte) oder Bildung zu finanzieren. Für Privatunternehmen könnten zum Beispiel große Infrastrukturprojekte attraktiv werden: Zunächst war an einen See- und einen Flughafen gedacht. Wer in diese Projekte investiert, wird, geht die Rechnung auf, fünfzig Jahre lang Gebühren für die Entladung von Schiffen oder für Start- und Landegebühren der Flugzeuge kassieren können. So ähnlich hatte man es auch beim Suezkanal oder bei der Gründung von Hongkong gemacht.

    Der neue Stadtstaat sollte schlank sein: Polizei, eine Basis-Gesundheitsversorgung und die Bereitstellung von Schulen und Universitäten kann er, wenn er will, an private Betreiber vergeben. Auch die Wasser- und Energieversorgung kann der Staat privaten Firmen übertragen, die dafür Geld einnehmen. Der Staat garantiert Gleichheit für alle – vor dem Gesetz (also keine Gleichstellung). Rechtsstaatlichkeit hat Vorrang, die Frage der Demokratie ist zweitrangig. Damit hat sich Romer viele Feinde gemacht. Zur Freiheit in einer Stadt müsse nicht notwendigerweise Demokratie gehören, kontert er. Eine effiziente Verwaltung und gute Regeln reichen aus. Gerade bei einer Neugründung sei in einer Demokratie die Gefahr groß, dass sich einflussreiche Lobby- und Politikergruppen gegenseitig behinderten. Mittel- bis langfristig solle sich der Stadtstaat jedoch als eine Demokratie konstituieren.

    Diese so genannte »Charter City« ist ein experimenteller Staat, der zugleich Ähnlichkeit mit einem Unternehmen, einem Startup, aufweist. »Wir befinden uns in einer Übergangsphase«, sagt Paul Romer: »Die überschuldeten westlichen Staaten werden nicht umhinkönnen, ihre Rolle zu überdenken. Sie sind überdimensioniert, kosten zu viel und arbeiten nicht besonders gut. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Leute dieses Missverhältnis nicht mehr hinnehmen.«

    Bis aus dem Stadtstaat in Honduras etwas wird, kann es noch dauern. Also alles nur Flausen libertärer Utopisten? Falsch. Zum Beweis empfehle ich einen Blick auf das kleine Fürstentum Liechtenstein, ein Bergrücken samt schmaler Rheinebene auf 161 Quadratkilometern, eingerahmt zwischen dem österreichischen Vorarlberg und der Schweiz. Das entspricht etwa der Fläche der Insel Sylt oder dem Stadtgebiet Brooklyns. Liechtenstein ist sozusagen eine Art Karibikinsel der Alpen mit 38 000 Einwohnern. Ich gestehe, dass mir das erst jetzt während der Vorbereitung einer Wanderung durch das Land klar wurde. Einen Einführungskurs gab mir Michael Wohlgemuth, Forschungsbeauftragter der Stiftung für Staatsrecht und Ordnungspolitik in Liechtenstein.

    Im Jahr 1699 erwarb Hans Adam von Liechtenstein, ein Vorfahre der heutigen Regenten, das Land von den Fürsten von Hohenems, die, weil pleite, zum Verkauf genötigt waren. Seit 300 Jahren ist das Fürstentum ein souveräner Staat, ihre Eigentümer leben erst seit dem frühen 20. Jahrhundert selbst dort. Der heutige Chef des Hauses heißt Fürst Hans-Adam II, der amtsführende Staatschef (»der CEO«) ist sein Sohn Erbprinz Alois von Liechtenstein. Die Erbfolge sieht ausschließend männliche Regenten vor.
    Gemäß seiner Verfassung ist Liechtenstein eine »konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage«. Nicht alle Staatsleistungen muss man selbst vorhalten. Beim Geld hat man sich dem Schweizer Franken angeschlossen. Das Militär wurde aus Mangel an kriegerischen Auseinandersetzungen schon im 19. Jahrhundert abgeschafft. Die Verfassung sieht vor, dass die Bürger die Erbmonarchie mit Mehrheit abschaffen können. Im Jahr 2003 machte man den Test: Die meisten stimmten für die Beibehaltung der Monarchie. Der Fürst hat bei Gesetzen ein Veto-Recht und untersteht nicht der Gerichtsbarkeit. Andererseits haben auch die Bürger qua Direktdemokratie ein Veto-Recht. Zum Schwur kam es noch nie; man regelt so etwas konsensual im Vorfeld. Liechtenstein sei in mancherlei Hinsicht »mehr Demokratie« als manche Republiken, sagen die Liechtensteiner stolz.

    Liechtensteins »demokratischer Feudalismus« ist weltweit einzigartig. Die Bürger verstehen sich als »Shareholder«, als Aktionäre ihres Staates. Die Monarchie gleicht einem Wirtschaftsunternehmen, das die Aufgabe hat, den Nutzen seiner Bürger zu mehren. Lange war das Geschäftsmodell simpel: Ein Steuerparadies für die Reichen dieser Welt. Angesichts internationalen Drucks ist das inzwischen schwieriger geworden. Heute hat die Industrie mit 37 Prozent Anteil am Bruttosozialprodukt den Finanzsektor (25 Prozent) überflügelt. Die Staatsfinanzen sind gesund: Weil das Land keine Schulden hat, sondern in Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen jeweils Rücklagen in Höhe des dreifachen der Jahresausgaben, braucht es auch keine Schuldenbremse.

    Für Quinn Slobodian, einen amerikanischen Ideenhistoriker, der sich seit Jahren am Liberalismus abarbeitet, ist Liechtenstein Inbegriff dessen, was er »Crack-up Kapitalismus« nennt: eine Verschwörung der Feinde demokratischer Staaten, die mit Stadtstaaten und Sonderwirtschaftszonen die Demokratie aushebeln, damit die Reichen keine Steuern mehr zahlen und ungestört ihrem Luxus frönen können. Damit, so Slobodian, wollen die Libertären »Löcher schlagen« in das System der Nationalstaaten.

    So schießt man mit Kanonen auf Spatzen. Für mich sieht es derzeit nicht danach aus, als würde demnächst Liechtenstein (nehmen wir noch Singapur oder Dubai dazu) die USA oder die EU in die Knie zwingen. Eher ist das Fürstentum ein Erinnerungsposten dafür, dass die repräsentative Demokratie bundesrepublikanischen Musters kein alleinseligmachendes Monopol zur Wahrung der Freiheit seiner Bürger hat. Reiner Eichenberger, ein Schweizer Professor für Finanzwissenschaft, hat kürzlich allen Ernstes vorgeschlagen, die Krim in einen unabhängigen Kleinstaat umzuwandeln – Liechtenstein am Schwarzen Meer, sozusagen.

    Rainer Hank

  • 27. Juni 2023
    Ein altmodischer Liberaler

    Moritz Julius Bonn (1873 bis 1965) Foto Bundesarchiv

    Dieser Artikel in der FAZ

    Was der Ökonom Moritz Julius Bonn uns zu sagen hat

    Wie wird man ein Liberaler, ein Sozialist oder ein Konservativer? Bei den wenigsten passiert so etwas anlässlich der vergleichenden Lektüre von – sagen wir – Adam Smith, Karl Marx oder Edmund Burke. In der Regel sind es zufällige biographische Erfahrungen, die lebenslang die eigenen Werte prägen.

    Eine schöne Geschichte erzählt Moritz Julius Bonn. Geboren 1873 in Frankfurt in einer vermögenden jüdischen Bankiersfamilie berichtet er in seiner Autobiografie von einer sorgenfreien und an intellektuellen Anregungen reichen Kindheit und Jugend. Die Familie der Mutter stammte aus Hohenems in Vorarlberg, einer alten jüdischen Gemeinde. In St. Gallen unterhielt das Bankhaus der Großeltern eine Filiale. Die Reisen dorthin, so erinnert sich der Enkel, waren ziemlich unbequem. Sie führten über Stuttgart, Ulm und den Bodensee und dauerten fast einen Tag oder eine volle Nacht. Von Friedrichshafen ging es nach Bregenz, wo man den österreichischen Zoll passieren musste. In Österreich standen damals die Zölle auf Zucker, Kaffee und ähnliche Dinge sehr hoch. Es sei aber gang und gäbe gewesen, ein bisschen Zucker, Kaffee oder Stickereien aus der Schweiz zu schmuggeln, so erzählt Bonn: »Bei den vielen Unterröcken, die die Damenwelt trug, war es immer möglich, eine Extragarnitur einzuschalten, ohne dadurch aufzufallen.« Das hört sich für einen kleinen Jungen nach aufregender Schmugglerromantik an, zugleich habe man in seiner Familie immer eine »zollfeindliche Luft« geatmet, so Bonn, weshalb er sich nie ganz klar darüber geworden sei, »ob meine Einstellung zum Freihandel von dorther rührte oder aus den Lehrbüchern der klassischen Nationalökonomie«.

    Moritz Julius Bonn wurde ein großer liberalen Liberaler und kosmopolitischer Intellektueller, der sich als Wanderer zwischen den Welten stets auch in die Politik eingemischt hat – vor allem während der Jahre von Weimar. Allzu viele Lichtgestalten dieses Typs gibt es in Deutschland nicht. Umso erstaunlicher, dass er heute nahezu unbekannt ist. Im Rhein-Main-Gebiet kennt man die Villa Bonn in Kronberg, die auf den Großvater zurückgeht. In Frankfurt gibt es in der Siesmayerstraße am Palmengarten ebenfalls eine Villa Bonn, die dem hiesigen Bürgertum natürlich gut vertraut ist, das beim Namen Bonn aber an die ehemalige Bundeshauptstadt und nicht an die jüdische Familie denkt, die seit dem Stammvater Aaron Jacob Bonn vierhundert Jahre in Frankfurt zuhause war – und deren letzter Nachkomme 1939 gezwungen war, die Stadt zu verlassen. Der 150. Geburtstag Moritz Julius Bonns am 26. Juni mag mir Anlass sein, heute an diesen großen Liberalen zu erinnern.

    Ein Liberaler ist kein Lobbyist

    Bonn studierte Wirtschaftswissenschaften – Nationalökonomie, wie das damals hieß – bei Lujo Brentano in München, der dort ein Star war; auch Theodor Heuss hatte bei Brentano studiert. Max Weber hielt Bonn für den »weitaus geistvollsten« und »entschieden intelligentesten« unter den Schülern Brentanos. Brentano war es auch, der Bonn ein Jahr nach Wien zu Carl Menger schickte, dem Kopf der sogenannten Grenznutzenschule der Ökonomie. Gewappnet mit diesem intellektuellen Rüstzeug ließ sich Bonn zeitlebens weder von den Sozialisten und erst recht nicht von den Kapitalisten etwas vormachen: Er stritt für Freihandel, attackierte die Kartelle, geißelte jedweden wirtschaftspolitischen Interventionismus und Subventionismus und warnte vor den Schäden korporatistischer Macht. So gesehen taugt Moritz Julius Bonn als Widerlegung des bis heute gängigen Vorwurfs, der Wirtschaftsliberalismus sei eine Art intellektueller Lobbyorganisation für die Unternehmer. Nein, der Liberaler streitet »pro Markt« nicht »pro Business«. Über die hierzulande im Unterschied zu den USA gängige Missachtung des Kunden »als beinahe unwillkommenen Störer« der Wirtschaft, konnte Bonn sich gewaltig ärgern.

    Einen »ordentlichen« ökonomischen Lehrstuhl war dem Juden Bonn verwehrt, als außerordentlicher Professor wurde er Direktor der Handelshochschule in München, später dann Rektor an der Berliner Handelshochschule, die er 1933 verlassen musste, um während der Nazijahre in England und USA zu leben und zu lehren. Carl Schmitt, der schillernde Kronjurist Hitlers, war in Berlin Bonns Kollege. Wenige Wochen vor der Machtergreifung hatte Schmitt einen Ruf nach Köln angenommen, wegen unterschiedlicher politischer Ansichten mit Moritz Julius Bonn, wie er sagte. Das sei doch kein Grund, erwiderte Bonn: »Sie wissen, ich bin ein altmodischer Liberaler. Ich verbrenne keine Ketzer, ich überlasse sie den Qualen ihres schlechten Gewissens.« Ähnlich subtil vernichtend äußerte sich Bonn in seinen Memoiren über den berühmten Kollegen Werner Sombart, der sich ebenfalls den Nazis angebiedert hatte: »Gleich Schmitt war Sombart bereit, seine jüdischen Freunde mit Haut und Haaren aufzufressen, obgleich er ihnen sehr zu Dank verpflichtet war; er wollte aber unter allen Umständen eine Primadonna bleiben.«

    Bonn statt Naumann

    Moritz Julius Bonn gehörte wie Friedrich Naumann zu den Mitgründern der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei nach dem ersten Weltkrieg. Die FDP hätte nach dem Zweiten Weltkrieg besser daran getan, sich Bonn statt Naumann zum Ahnherrn und Vorbild zu nehmen (etwa für ihre Stiftung). Naumann, »die Leiche im Keller der FDP« (Götz Aly), propagierte einen »liberalen Imperialismus«, denn es sei »der Trieb des deutschen Volkes, seinen Einfluss auf die Erdkugel auszudehnen«. Solche Sätze wären Bonn nie in den Sinn und in die Feder gekommen. 1906 verbrachte er zusammen mit seiner englischen Frau eine Art Sabbatical-Jahr in Britisch-Südafrika und Deutsch-Südwestafrika. Bonn war entsetzt über die Massaker der Deutschen an den Hereros, schüttelte sich angesichts des Herrenmenschentums der dort siedelnden Junker aus dem hintersten Pommern (»kleinbürgerliche Spießer der Barmer Mission«) und schloss fast schon im Duktus des heutigen Postkolonialismus: »Ich war mit der festen Überzeugung zurückgekommen, dass Afrika das Land des schwarzen Mannes sei«. Später prägte Bonn den Begriff der »Dekolonisierung«.

    Moritz Julius Bonn hätte zum 150. Geburtstag eine breite Rezeption nicht nur unter Liberalen verdient. Der Ideenhistoriker Jens Hacke hat in den vergangenen Jahren mit viel Elan dafür gesorgt, dass wichtige Schriften Bonns wieder leicht greifbar sind. Bonns Vorstellung eines »Demokratischen Kapitalismus«, sein Einsatz für die zwar fragile, aber notwendige Zusammengehörigkeit von Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft taugt auch heute als liberale Leitidee in Zeiten populistischer gesellschaftlicher Zerrissenheit. Bonns Autobiografie, die Hacke jetzt zum Geburtstag bei der Europäischen Verlagsanstalt mit einem Nachwort versehen wieder zugänglich gemacht hat, ist als Vermächtnis eines jüdischen Intellektuellen zudem ein großes Lesevergnügen.

    Rainer Hank

  • 24. Juni 2023
    Der ungeliebte CO2–Preis

    Was macht der Eisbär, wenn der Eisberg schmilzt? Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Warum es gute Ideen so schwer haben

    Die meisten Ökonomen stimmen darin überein, dass ein Preis auf CO2–Emissionen der beste Weg wäre, den Klimawandel zu bekämpfen. Ein Preis – wie alle Preise – ist effizient und fair, weil derjenige, der das Klima belastet, dafür auch bezahlt. Wem das zu teuer ist, die oder der kann nachdenken, wie sie oder er klimafreundlicher und kostengünstiger leben und wirtschaften mag. Eine Transformation der fossilen Welt über den Preis lässt sich mit einer CO2–Steuer oder mit dem Emissionshandel regeln.
    Doch der CO2–Preis hat es schwer. Er ist kontraintuitiv und kompliziert. Bloß die Ökonomen halten ihn für einfach und elegant. Die Menschen können keinen Zusammenhang erkennen zwischen einem höheren Spritpreis und dem Erreichen der Klimaziele. Politiker, die in der Pandemie mit dem Grundsatz »Follow the Science« ins Feld gezogen waren, hören in der Klimapolitik den Ökonomen zwar zu, halten sich aber nicht an ihren Rat. Lieber hantieren sie mit Verboten, Standards oder Subventionen. Deshalb gibt es das Verbrennerverbot, das Wärmepumpengesetz (offiziell »Gebäudeenergiegesetz«) oder den verordneten Ausstieg aus der Atomenergie – alles mit fixem Termin. Die politische Interventionsstrategie ging lange (scheinbar) gut, ist erst jetzt im Streit um die Wärmepumpen in die Krise gekommen, als jedem deutlich wurde, dass Klimaneutralität etwas kostet und jeden betrifft.

    Ich will wissen, woran es liegt, dass die schöne Idee des CO2–Preises außerhalb der Zunft der Ökonomen so wenig Zustimmung findet. Und wie man der guten Idee zu mehr Akzeptanz verhelfen könnte. Unterstützung hole ich mit bei Ottmar Edenhofer, dem Direktor des Potsdam-Instituts für Klimaforschung. Edenhofer ist kein Marktradikaler. Er ist lediglich ein guter Ökonom, der niemand nach dem Munde redet. Seit langem gehört er zu den schärfsten Kritikern der Klimapolitik der Ampel.

    Beginnen wir mit der Frage, warum Politiker nicht auf die Wirkung von Preisen vertrauen. Antwort: Sie wollen als wirkmächtige Entscheider wahrgenommen werden. Dies steht im Widerspruch zu wirkmächtigen Preisen, mit denen Kohlekraftwerke oder Dieselmotoren von allein verschwänden, wäre nur der CO2–Preis hoch genug. Der Markt würde dann auch dafür sorgen, dass alternative nicht-fossile Technologien zu attraktiven Kosten zur Verfügung stünden – im Vergleich mit den immer teuer werdenden fossilen Energieträgern.

    Die FDP verschweigt den Preis

    Ist nicht wenigstens die FDP ein Bundesgenosse bei der Vermarktung des Preismechanismus? Rhetorisch schon. So haben die Freidemokraten in den vergangenen Wochen stets ihren Widerstand gegen das Gebäudeenergiegesetz motiviert und sich als aufrechte Marktwirtschaftler dargestellt. Doch auch die FDP ist nicht aufrichtig, wenn sie zwar abstrakt über den Marktmechanismus spricht, aber die konkreten Auswirkungen auf den Geldbeute der Bürger verschweigt. Wenn es konkret wird, winken die Liberalen lieber mit klimaschädlichen Spritprämien oder Steuergeschenken für die Pendler.

    Ehrlich wäre es zu sagen: Will Deutschland bis 2050 tatsächlich klimaneutral werden, müsste der CO2–Preis deutlich schneller steigen und bis 2030 auf 200 bis 300 Euro pro Tonne ansteigen. Dieser Preis ist weit höher als die 55 Euro, die nach jetzigen Vorgaben die Tonne CO2 im Jahr 2025 kosten soll.

    Das führt zu einem rationalen Grund, warum Politiker lieber auf Vorschriften, Verbote und Subventionen setzen. Sie wollen den Preis der Transformation verschleiern. Im besten Fall soll es so aussehen, als könnte der klimafreundliche Umbau unserer Welt mit staatlichen Geldgeschenken beim Kauf von E-Autos oder der Wärmedämmung erreicht werden. Verschleierung ist eine rationale politische Strategie. Nichts fürchten Politiker so sehr wie die Transparenz von Kosten, denn das könnte zu Stimmverlusten bei der nächsten Wahl oder unmittelbar zu Protesten der Bürger führen. Dass auch Vorschriften und Verbote mit Kosten verbunden sind, wurde jetzt zum ersten Mal im Streit um die Wärmepumpe sichtbar. Dass die Angst der Ampel vor dem Stimmbürger rational ist, zeigen die gestiegenen Umfragewerte für die AfD.

    Verbote und Subventionen kommen beim Bürger gut an, Preise hält er für unnötig und unfair. Der Begriff »Steuer« ist für den CO2–Preis ein Problem. Es sieht nämlich so aus, als könne der Staat den Hals nicht vollkriegen und habe sich nur einfach eine neue Einnahmequelle ausgedacht, die er klimapolitisch camoufliere. In Wirklichkeit ist der CO2–Preis gar keine Steuer, sondern eine Art Ausgleichszahlung für die Kosten, die die Klimaschädigung verursacht (sogenannte externe Effekte) und ein Anreiz für Bürger und Unternehmer, sich vom fossilen Leben zu verabschieden.

    Klimageld zur Umverteilung

    Will der Staat beweisen, dass er die CO2–Einnahmen nicht verprassen will, könnte er das Geld gleich wieder an die Bürger in Form eines »Klimageldes« ausschütten. Das würde dem Marktmodell nicht nur zu Akzeptanz verhelfen, sondern auch Verteilungsgerechtigkeit herstellen und zugleich Anreize für den Umstieg setzen (ganz ohne ein Wärmepumpengesetz). Eine Beispielrechnung des »Mercator Instituts für Klimaforschung« geht so: Einer vierköpfigen Familie mit Einfamilienhaus auf dem Land würde in den ersten Jahren Klimageld in Höhe von rund 3000 Euro zufließen – während sich der Betrieb ihrer Ölheizung aufgrund der CO2–Abgabe lediglich um1500 Euro verteuert. Allerdings sinkt das Klimageld Jahr für Jahr – weil immer weniger fossile Brennstoffe verkauft werden, wenn sich Wärmepumpen und Elektroautos durchsetzen. Entsprechend weniger CO2–Abgaben landen im Klimafonds. Im Jahr 2040 etwa könnte die Musterfamilie wohl nur noch mit 1200 Euro Klimageld im Jahr rechnen – während ihre Heizölkosten mit 2200 Euro dann deutlich darüber liegen. Hierin liegt der Anreiz, früh auf eine klimafreundliche Heizung umzusteigen.

    Warum setzt das Gute sich nicht einfach durch? Weil Politiker lieber über hehre Ziele sprechen, hingegen die Strafe der Bürger fürchten, würden sie über die Kosten reden, die anfallen zum Erreichen dieser Ziele. Wie könnte man dem Guten zu seinem Recht verhelfen, ohne für ein autoritär-platonisches Staatsmodell der Weisen zu plädieren? Indem man zeigt, dass gerade die Ärmeren von einem Marktmodell am meisten profitieren. Verbote und Standards generieren keine Einnahmen, mit denen man Verlierer kompensieren kann, sie würden die Armen sogar überproportional belasten. Subventionen oder keynesianische Transformationsprogramme (USA) sehen wie ein Staatsgeschenk aus, sind am Ende aber viel teurer als ein effizienter CO2–Preis. Mithin liegt die Lösung in der kommunikativen Aufgabe für Politiker darin zu zeigen, dass der Markt fair ist. Und nicht nur dem Klima, sondern auch den Armen helfen kann.

    Rainer Hank

  • 16. Juni 2023
    Guter Butter

    Alles in Butter Foto pixabay

    Dieser Artikel in der FAZ

    Wohlstand, Inflation und die Erfahrungen eines Boomers

    Wenn Journalisten ihr Vorurteil pflegen wollen, dass Politiker weltfremd seien, dann fragen sie nach dem aktuellen Preis für ein halbes Pfund Butter. Bundesbankpräsident Joachim Nagel, im April von der FAZ befragt, lief nicht in die Falle. Er übernehme häufig den Wochenendeinkauf und verfolge die Preise sehr genau. Vor allem bei der Butter sei ihm aufgefallen, dass sie nach dem Anstieg der Preise vor einem Jahr nun wieder etwas billiger geworden sei. »Insgesamt liegt der Höhepunkt der Teuerung hinter uns«, so Nagel.

    Nicht schlecht, finde ich, wenn sich die Notenbanker nicht nur um aggregierte Ziffern und Figuren kümmern, sondern um konkrete Supermarktpreise. Tatsächlich ist der Durchschnittspreis für Butter im Jahresvergleich im April 2023 um 3,6 Prozent gefallen, ein gutes Zeichen nach einer abenteuerlichen Teuerungsbewegung im vergangenen Jahr. Im Dezember 2021, als namhafte Ökonomen noch meinten, Inflation sei ein vorübergehendes Phänomen, kostete das 250–Gramm-Päckchen im Schnitt 1,66 Euro. In den zwölf Monaten danach ging es in mehreren Schritten nach oben. Höhepunkt war der September 2022 mit 2,39 Euro. Wohlgemerkt, das war der Durchschnittspreis. Sogenannte Markenware lag bei 3,50 und höher. Den gruseligen Satz »Bei drei Euro beginnt für uns die Todeszone« verdanken wir dem Chef der Molkerei Berchtesgadener Land.
    Nun ist es einerseits lebensnah, wenn Notenbanker sich um Preise von Lebensmitteln kümmern. Andererseits auch wieder bedenklich. Denn eine klassische Ökonomen-Antwort auf die Frage, wann die Inflation bezähmt sei, lautet: Wenn die Leute nicht mehr über Inflation reden. Hinzu kommt, dass der Rückgang des Butterpreises kein zweifelsfreies Indiz für rückläufige Inflation ist. Denn der folgt einem ganz eigenen sogenannten »Schweinezyklus« von Teuerung und Preisverfall, der nur locker an die allgemeine Inflation gekoppelt ist.

    Butter ist eben ein ganz eigenes Lebensmittel. Als Boomer weiß ich, wovon die Rede ist. Butter, bei uns in Stuttgart sagte man übrigens »der Butter«, also Butter gab es damals nur zu besonderen Gelegenheiten. Bei Familienfesten, an Weihnachten, Ostern und manchmal am Sonntag. Im Alltag aßen wir Margarine. Die war billiger. Beim Backen vermerkte meine Mutter eigens, wenn der Teig mit »gutem Butter« zubereitet wurde. Das mussten wir beim Sonntagnachmittagskaffee eigens mit entsprechenden Geräuschen des Wohlgeschmacks würdigen.

    Zu Röllchen geformt und dann kanneliert

    Der Höhepunkt damals in den späten fünfziger Jahren waren die Geburtstage in der Familie, wenn Tante und Onkel eingeladen waren. Da gab es zum Abendessen eine Wurst- und Käseplatte, sozusagen der Höhepunkt der Gefühle. Diese Platten wurden gekrönt mit Butterröllchen, für welche die Hausfrauen eigene Butterroller hatten, die es übrigens heute noch im Handel gibt. Mit diesen Butterrollern ließen sich die Flöckchen nicht nur zu Röllchen formen, sondern auch noch kannelieren. Solche Röllchen drapierte man hübsch artig neben Scheiben von Zervelatwurst, die eingeschnitten zu einer Art Trichter geformt und zur Krönung mit jeweils einer Salzstange gespickt wurden.
    Wenn ich mir konkret vorstellen will, wie »Wohlstand für alle« (Ludwig Erhard) und »Wirtschaftswunder« aussieht, dann sehe ich immer diese Butterröllchen auf den Geburtstagen der fünfziger Jahre vor mir. Das Gefühl damals war zweigeteilt: Es geht uns wieder gut – aber eben nur an besonderen Tagen. Im Alltag gab es keinen Bohnen-, sondern Zichorienkaffee, hergestellt aus den Wurzeln der Gemeinen Wegwarte, wie ich gerade nachgegoogelt habe. Und aufs Brot gab es normalerweise eben Margarine, die man dafür immerhin dicker streichen durfte als die kostbare Butter.

    Seither hat die Butter eine sehr wechselvolle Geschichte durchgemacht. Was als Wohlstandserfolg genossen wurde, galt plötzlich als Ursache von allerlei Herz- und Kreislauferkrankungen. Denn das darin in Mengen enthaltene Cholesterin (eine fettähnliche Substanz namens Lipid) könne schwere gesundheitliche Folgen nach sich ziehen, sagten die Hausärzte. Heutzutage kommt unweigerlich und erwartbar hinzu, dass Butter als »ziemliche Klimasau« gilt, wie die Klimapolizei der ZEIT zu vermelden wusste: 20 Liter Milch braucht man für ein Kilo Butter. Für so viel Milch bläst die Kuh ordentlich Methan in die frische Weideluft, was wir uns hier jetzt gar nicht konkret vorstellen mögen.
    Nachdem die Ernährungswissenschaftler cholesterinmäßig inzwischen Entwarnung gaben und die Methangegner noch nicht als Untersektion bei den Klimaklebern zugelassen wurden, hat der Butter inzwischen imagemäßig wieder gewonnen. Zumal auf der Liste der Bösewichte der Zucker ihm inzwischen den Rang abgelaufen hat. Und Kuhmilchgegner kriegen inzwischen sogar Butter aus Sojamilch.

    Langfristig gesehen ist die Butter heutzutage phänomenal billig – Inflation hin, Inflation her. Meine Anfrage bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung bringt als Beispiel: 250 Gramm Butter kosteten im Jahr 1959 im Schnitt 5 Mark 50. Heute, genauer gesagt 2021, kostet das Stück Butter 1 Euro 49. Der jährliche Prokopfverbrauch stieg in derselben Zeit von 3,6 auf 5 Kilo. Man kann es noch eindrucksvoller beschreiben: Für ein halbes Pfund Butter musste ein Arbeitnehmer mit Durchschnittseinkommen 1970 noch 22 Minuten arbeiten. Inzwischen reichen ungefähr drei Arbeitsminuten, um sich ein Stück guter Butter leisten zu können. Das nennen wir Fortschritt.

    Bei uns zuhause gibt es inzwischen Kerrygold«. Kennen Sie die? Mit ihrem Rewe-Preis von 2,99 Euro rangiert sie gerade knapp unter der »Todeszone«. »Lescure Beurre-Charentes-Poitou«, der vornehme Name deutet es an, liegt mit 4,90 deutlich darüber. »Kerrygold« scheint die Butter der heutigen Mittelschicht zu sein. Nicht nur bei mir ist die Marketingstrategie des irischen Molkereikonzerns voll aufgegangen. »Pure Irish Butter« steht auf dem Papier, das so goldgelb daherkommt wie die streichzarte (welche zärtliches Wort) Butter, die sich darunter verbirgt. Auch in USA ist Kerrygold Marktführer unter den importierten Buttermarken. Dort hat man die Besten der Besten für das Marketing eingesapnnt: Sarah Jessica Parker, Oprah Winfrey (sie hat 21 Millionen Follower, das hilft) und Model Chrissy Teigen lassen sich die irische Butter auf ihren Zungen zergehen. Min Jin Lee, ein koreanisch-amerikanischer Autor bekennt, er habe immer mehrere Kilos davon in seinem Kühlschrank, wie ich der Wochenendbeilage »How to spend it« der Financial Times entnehme. Sagen wir es so: Wer solche Influencer beschäftigt, braucht sich um den Umsatz keine Sorgen mehr zu machen. Wie hieß es schon in einem Zeichentrickfilm der 50er Jahre für »Deutsche Markenbutter«, zugegeben etwas simpler als bei Oprah Winfrey: »Ja, Leute, mit Butter ist alles in Butter!«

    Rainer Hank

  • 16. Juni 2023
    Steinmeiers Pflichtjahr

    Frank Walter Steinmeier, Bundespräsident Foto Bundesregierung Steffen Kugler

    Dieser Artikel in der FAZ

    Solidarität, zwangsverordnet

    Ein Bundespräsident braucht ein Projekt. An irgendetwas soll man sich später schließlich erinnern können. Besonders gut haben das Walter Scheel und Roman Herzog hinbekommen. Der eine ist als Volksliedsänger in die Geschichte eingegangen (»Hoch auf dem gelben Wagen«), der andere als Volksschüttler (»Durch Deutschland muss ein Ruck gehen«). Weniger einprägsam blieben Joachim Gauck und Christian Wulff: Der eine gab sich als Prophet der Freiheit, die leider etwas blass blieb, der andere als ein Verteidiger der Integration (»Der Islam gehört zu Deutschland«), was dann vom turbulenten Ende seiner Präsidentschaft überwölkt wurde. Schlimmer erging es nur noch Heinrich Lübke. Vieles, was von ihm überliefert ist, darf inzwischen noch nicht einmal mehr wörtlich zitiert werden (»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe [N-Wort]«).

    Frank-Walter Steinmeier ist inzwischen in seiner zweiten Amtszeit angelangt und muss sich ein wenig sputen. Sein Vermächtnis heißt »Soziale Pflichtzeit«. Er wiederholt es bei jeder Gelegenheit, zuletzt in einem Gastbeitrag in der FAZ am 25. Mai. Dabei handelt es sich um ein Plagiat, was aber nicht so schlimm ist: Ursprünglich stammt die Idee von Annegret Kramp-Karrenbauer, die – für alle, die sich nicht mehr erinnern – eine kleine Weile lang CDU-Vorsitzende war.

    Im Vergleich zu der Ideenerfinderin aus dem Saarland ist Steinmeier wesentlich hartnäckiger. Für all jene, an denen der Vorschlag bislang vorbeigegangen ist, hier die Zusammenfassung: Sozialer Pflichtdienst soll ein Dienst genannt werden, bei dem Menschen aus verschiedenen Milieus und Schichten zusammenarbeiten müssen. Damit könne der Zusammenhalt in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft gestärkt werden. Die Pflichtzeit soll mindestens sechs Monate, maximal ein Jahr dauern und kann in unterschiedlichen Phasen des Lebens absolviert werden. Es braucht dazu eine Verfassungsänderung, für die der Bundespräsident gute Chancen sieht. Die Zustimmung zu seiner Idee erreiche in der ganzen Gesellschaft 65 Prozent, bei den Jüngeren liege sich bei knapp über 50 Prozent.

    Viele Menschen seien »regelrecht elektrisiert« von seiner Vision, berichtet Steinmeier. Ich gestehe, dass ich nicht zur Gruppe der Elektrisierten zähle, und konzentriere mich auf zwei Einwände: Die Freiheitsberaubung. Und die ungeklärte Nachfrage.

    Wie wird der Mensch tugendhaft?

    Zunächst zur naheliegenden Frage, ob sich die gespaltene Gesellschaft – falls es sie wirklich gibt – mit Zwang kitten lässt. Nüchtern ökonomisch betrachtet wäre die Einführung einer Pflichtzeit nichts anderes als eine Steuererhöhung. Denn bei einem Zwang zu Sozial- oder Militärdienst wird dem Dienstleistenden eine Naturalsteuer auferlegt, indem er dem Staat ohne marktgerechte Gegenleistung seine Zeit zur Verfügung stellt – was im strikten Sinn die Definition einer Steuer erfüllt. Jede Steuer ist ein Eingriff in die Freiheit der Bürger: Die Einkommensteuer konfisziert (legal) Teile des Eigentums, die Naturalsteuer würde mindestens ein halbes Jahr lang den Menschen die Freiheit nehmen, selbst über ihr Leben zu entscheiden. Zum Beispiel sich ehrenamtlich zu betätigen, ein Engagement, das hierzulande kontinuierlich zunimmt (jedenfalls bis zur Pandemie). Dabei ist die Naturalsteuer eine deutlich größere Freiheitsberaubung als Mehrwert- oder Einkommensteuer, vergleichbar dem Verhältnis von Geld- und Gefängnisstrafe.

    Kann man Solidarität zwangsverordnen? Der Präsident kenn diesen Einwand natürlich. Er kontert ihn mit der steilen Behauptung: »Eine Pflicht ist nicht einfach nur Zwang.« Als Pflicht spreche der demokratische Staat alle Bürger als gleiche an und versichere ihnen, gebraucht zu werden für »eine gerechtere, eine menschliche und nachhaltige Gesellschaft«. Damit zitiert Steinmeier (womöglich unbewusst) eine zutiefst deutsche Tradition des Gegensatzes von Pflicht und Neigung, die auf Immanuel Kant und Friedrich Schiller zurückgeht. In dieser Tradition verfällt die Neigung dem Verdacht moralischer Berechnung, – als ethisch wertvoll gilt ausschließlich die Pflicht.

    Im bei J.G. Cotta erscheinenden Musenalmanach für das Jahr 1797 unterstellt Schiller einem fiktiven Zeitgenossen, er diene zwar seinen Freunden, »doch thu ich es leider mit Neigung: Und so wurmt es mir (sic!) oft, dass ich nicht tugendhaft bin«. Es genügt also nicht, gelegentlich moralisch zu handeln oder ausschließlich dort, wo es aus Berechnung oder angesichts von Freunden leichtfällt, wie der Tübinger Philosoph Ottfried Höffe seinen Schiller paraphrasiert. Tugendhaft, also moralisch gut, darf sich erst nennen, wer auch in schwieriger Lage den moralischen Geboten folgt. Und das geht nur mit Pflicht: »Da ist kein anderer Rath, du musst suchen, sie (sc. die Neigung) zu verachten,/ Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut.«

    Der Unterschied zwischen Steinmeier und Schiller liegt nicht nur in der schöneren Sprache des Dichters, sondern auch darin, dass Schiller die Pflicht als rein moralisches Gebot versteht. Dem scheint Steinmeier nicht zu trauen, weshalb er aus der moralischen Pflicht eine staatliche Zwangsverpflichtung machen will, deren Redlichkeit nun wiederum Schiller nicht trauen würde, weil der äußere Zwang die innere Motivation verschmutzt. Wer weiß dann noch, ob der Bürger sich wirklich für eine gerechtere, menschliche und nachhaltige Gesellschaft verpflichtet, oder lediglich tut, was das Machtmonopol des Staates gebeut.

    Doch wozu gebeut nun eigentlich Steinmeiers Pflicht? Oder ökonomisch gewendet: Auf welche Nachfrage soll das soziale Angebot treffen? Da wird unser Philosophenpräsident merkwürdig schmallippig. Gated Communities sollen überwunden werden, Brücken gebaut, getrennte Lebenswelten verbunden werden. Was heißt das konkret? Schickt das Präsidialamt einen Pflichttrupp nach Dresden in eine AfD-Mitgliederversammlung? Oder zu den linksextremen Terroristen. Wird eine Abordnung nach Oberbayern zum ortsnahen Aufstellen von Windrädern verdonnert? Oder zu einer Diskussionsveranstaltung mit Islamisten oder Klimaklebern? Oder sollen Rechts-Identitäre mit Links-Nonbinären gemeinsam zur Altenbetreuung geschickt werden? Ich karikiere, ich weiß. Aber man hätte es eben schon gerne konkret gewusst, wo die Nachfrage nach Brückenbauern herkommt.

    Integration durch Konflikt, nicht durch Abschmelzung von Konflikten, das war laut Ralf Dahrendorf das liberale Erfolgsgeheimnis der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dieser Prozess läuft über die wechselseitige Anerkennung von Haltungen, Argumente oder Prägungen von Andersdenkenden und Anderslebenden. Eine Einübung darin vermittelt, wenn es gut geht, Bildung (Eltern, Schule, Vorbilder, Mentoren) – jedenfalls besser und nachhaltiger als eine soziale Zwangsverpflichtung.

    Rainer Hank